Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein Thriller ist nichts dagegen
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Lassen Sie uns heute zur Abwechslung mal den Job wechseln. Stellen Sie sich vor, Sie würden für eine Filmproduktionsfirma arbeiten und Ideen für das Drehbuch eines Thrillers sichten. Was haben wir denn da Interessantes auf dem Tisch? Science-Fiction-Polit-Schocker? Na, das schauen wir uns an.
"Showdown in der Hölle" steht da als Titel. Bisschen dick aufgetragen vielleicht, aber kann man ja machen. Der Plot: Ein ahnungsloser Typ auf der Suche nach einem Job stößt auf eine Anzeige für eine Stelle in einer anderen Stadt. Das Gehalt ist super, er nimmt Kontakt auf und reist hin. Doch beim Transfer ins Hotel wird ihm mulmig: Der Fahrer nimmt einen anderen Weg, raus aus der Stadt. Ein bulliger Typ ist das, und er trägt eine Waffe. Ohne Halt fährt der Wagen über die nahe Grenze und verschwindet mit seinem panischen Passagier in einer abgeriegelten Dschungelstadt. Dort schuften Zehntausende als Cybersklaven, eingesperrt in riesigen Komplexen, einer Arbeitshölle ohne Entrinnen. Unser Protagonist sitzt in der Falle.
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Das also ist sein wahrer neuer Job: Im Akkord muss er am Bildschirm ackern und ahnungslose Landsleute zu Hause mit Online-Betrugsmaschen ausnehmen wie Weihnachtsgänse. Und wehe, wenn nicht! Wer versagt, wird misshandelt. Wer zu fliehen versucht, dem droht ein entsetzliches Schicksal. Wachen stehen überall. Bis an die Zähne bewaffnete Banden und die Soldaten einer korrupten Armee haben die Stadt im Griff. Anderswo im dichten Dschungel verbergen sich Drogenlabore, herrschen brutale Militärs und die Mafia.
Doch es gibt Hoffnung. Rebellen haben sich erhoben, um das Joch der Terrorarmee abzuschütteln und die Cybersklaven zu befreien. Auch diese Aufständischen sind halbseidene Gesellen, und die große ausländische Macht, die ihnen heimlich hilft, ist auch nicht über jeden Zweifel erhaben. Doch der überraschende Angriff scheint zu gelingen, die Rebellen rücken vor, an vielen Orten im Land greifen Menschen zu den Waffen. Die Herrschaft der mörderischen Militärs wankt. Werden die Aufständischen siegen?
Aber Moment! Stopp! Ich merke gerade: Wir haben danebengegriffen. Das wilde Skript stammte gar nicht vom Stapel für Drehbuchideen, sondern von einem anderen, nämlich dem für aktuelle Nachrichten. Keine Science-Fiction also, nichts erfunden, alles aus dem echten Leben gegriffen. Für die Beschreibung der Mafia-Dschungelstadt hat Laukkaing Pate gestanden, ein Ort im Nordosten Myanmars, nur einen Steinwurf von der Grenze zu China entfernt.
Die Wirklichkeit dort stellt jeden Thriller in den Schatten. Ein ganzes Netz von solchen Verbrechenszentren ist im Dschungel Myanmars herangewachsen – mit dem Segen des Militärregimes, das sich vor knapp drei Jahren in Myanmar wieder an die Macht geputscht hat. Es ist ein Milliardengeschäft. Chinesische und andere asiatische Arbeitssklaven, die gefälschten Jobangeboten auf den Leim gegangen sind, werden gezwungen, per Internet in ihrer Heimat nach Opfern zu suchen und deren Konten mit allen Tricks leerzuräumen – vom Kleinbauern bis zur Unternehmerin.
Die Abzocke hat so dramatische Ausmaße angenommen, dass die chinesische Führung das Treiben nicht länger ignorieren konnte. Nur wollten die Generäle in Myanmar bisher nicht spuren und ihren geliebten Geldhahn zudrehen, auch wenn sie mit China eigentlich verbündet sind. Ende Oktober hat ein Bündnis von Rebellengruppen losgeschlagen, die ebenfalls vom guten Willen Pekings abhängig sind. Die Angreifer setzen dem Regime hart zu.
Die Offensive ist der Militärdiktatur in Myanmar so gefährlich geworden wie kein Protest seit dem Putsch. Denn überall im Land ergreifen jetzt bewaffnete Verbände, Befreiungsbewegungen und die unterdrückte Demokratiebewegung die Chance, das Regime zu attackieren. Wie das ausgeht, ist offen. Das Militär ist gezwungen, an vielen Fronten gleichzeitig zu kämpfen. Der Sieg seiner eigentlich überlegenen Truppe ist nicht länger ausgemacht.
Vorbei sind die Zeiten, in denen man einfach mit den Schultern zucken und sagen konnte: Ein Krieg irgendwo im asiatischen Dschungel, was geht uns das an? Die Betrugsfabriken der Cybermafia haben längst den internationalen Markt entdeckt und gehen weltweit auf Raubzug, unterstützt von Echtzeit-Übersetzungssoftware und Künstlicher Intelligenz. Doch das ist nicht alles. Denn Myanmar ist eine Figur in einem noch viel größeren Spiel.
Die größte Rivalität des 21. Jahrhunderts – das Ringen zwischen den USA und China – wirft ihren Schatten auch auf die Kämpfe in dem abgelegenen Grenzland. Für Chinas Diktator Xi Jinping steht in Myanmar viel auf dem Spiel: Als Gewinn winkt ihm der direkte Zugang zum Indischen Ozean – dank eines geplanten Tiefseehafens an der Küste Myanmars mitsamt Landkorridor bis nach Südchina. Scheitert Xis Politik, könnten im Nachbarland demokratische Kräfte an die Macht gelangen und das Land nach Westen öffnen. Ein Schulterschluss mit dem Erzrivalen USA, direkt vor Chinas Haustür? Für den Herrscher in Peking, der vom Aufstieg zur Weltmacht und seinem Platz in den Geschichtsbüchern träumt, wäre das eine Schmach.
Nach einem ersten Kahlschlag unter den Cyber-Mafiosi möchten die Chinesen weitere Offensiven deshalb jetzt bitte absagen. Das Militärregime wurde auf Maß zurückgestutzt, die Gangster aber auch. Jetzt würde Xi gern ungestört teilen und herrschen, also die gestärkten Milizen und die geschwächte Diktatur nach Bedarf gegeneinander ausspielen. Den kämpfenden Parteien hat Peking deshalb gestern eine Waffenruhe verordnet, pardon, "vermittelt". Ob China die Geister, die es rief, wieder einfangen kann, wird aber erst die nächste Szene im Drehbuch zeigen. Wir sollten genau hinschauen.
Ohrenschmaus
Asiatisch, fremd und zugleich vertraut: Da habe ich was für Sie.
Strapazen der Macht
Zwei Tage nach der Haushaltseinigung wird die ganze Tragweite der Ampel-Entscheidung deutlich: Die Spitzen von SPD, Grünen und FDP haben einen Plan geschmiedet, der erstens vielen Bürgern steigende Preise beschert, zweitens auf wackeligen Beinen steht, drittens einen typischen Minimalkonsens zwischen sehr unterschiedlichen Parteien darstellt. Und genau in diesem letzten Punkt liegt seine Größe. Man mag einige der Vorhaben für unausgegoren halten, aber der ganze Prozess entspricht nahezu idealtypisch der Konsensfindung in einer Parteiendemokratie: Jeder Beteiligte bekommt ein bisschen was, muss dafür aber auch Zugeständnisse machen. So gelingen keine großen Würfe, aber widerstreitende gesellschaftliche Kräfte werden eingebunden. Nicht das Schlechteste in einer Welt, in der Autokraten und Egoisten auf dem Vormarsch sind.
Hört man sich im Berliner Regierungsviertel um, kann man die Einschätzung vernehmen, dass in den nächtelangen Verhandlungen im Kanzleramt vor allem die Grünen Federn lassen mussten. Der Klima- und Transformationsfonds ist zurechtgestutzt worden, was bleibt also noch von den hochfliegenden Plänen zum nachhaltigen Umbau der Wirtschaft und des Verkehrs? Unsere Chefreporterin Sara Sievert und ich konnten mit einem der drei Protagonisten darüber sprechen: Als wir Robert Habeck gestern in seinem weitläufigen Büro gegenübersaßen, sah man ihm die Strapazen der vergangenen Nächte durchaus an. Trotzdem wurde es ein munteres Gespräch, in dem der Wirtschaftsminister seine Sicht auf die Ampeleinigung erklärte – und einige bemerkenswerte Sätze sagte. Das Interview lesen Sie heute Mittag auf t-online.
Die nächste Notlage
Heute ist es so weit: Der Bundestag entscheidet über den Nachtragshaushalt für 2023, mit dem die Ampelregierung die Konsequenzen aus dem Verfassungsgerichtsurteil zieht. Weil die Energiepreisbremsen in den Kernhaushalt übernommen werden, müssen die Abgeordneten abermals eine Notlage feststellen, die eine Ausnahme von der Schuldenbremse rechtfertigt.
Geste an Kiew
Haben die freigegebenen zehn Milliarden Euro Ungarns störrischen Regierungschef Viktor Orbán milde gestimmt? Jedenfalls konnte EU-Ratspräsident Charles Michel gestern Abend verkünden, dass die Union Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufnimmt. Mit einem baldigen Beitritt ist natürlich nicht zu rechnen. Aber es ist ein wichtiges Zeichen für das kriegserschöpfte Land.
Urteil im Maskenprozess
Andrea Tandler verdiente durch die Vermittlung von Corona-Masken innerhalb weniger Wochen fast 50 Millionen Euro. Aber nicht deshalb steht sie vor Gericht. Es war auch nicht illegal, dass die Tochter des einstigen CSU-Ministers Gerold Tandler bei ihren Geschäften den Namen ihres Vaters als Türöffner nutzte. Zum Verhängnis wurde ihr, dass sie die Einnahmen nicht ordnungsgemäß versteuerte und den Staat prellen wollte. Nur deshalb konnte sie – anders als die CSU-Politiker Alfred Sauter und Georg Nüßlein – juristisch belangt werden.
Wenn heute vor dem Landgericht München das Urteil ergeht, ist das ungefähre Strafmaß schon klar: Da Frau Tandler ihre Steuerschulden beglichen und ein Geständnis abgelegt hat, ließ das Gericht einige Anklagepunkte fallen und stellt ihr eine Haftstrafe zwischen vier Jahren plus drei bis neun Monaten in Aussicht. Ihr mitangeklagter Lebenspartner Darius N. soll mindestens dreieinhalb Jahre hinter Gitter.
Lesetipps
Putin sieht sich im Ukraine-Krieg auf der Siegerstraße: Sein Pressekonferenzspektakel barg bittere Erkenntnisse für den Westen, schreibt mein Kollege Patrick Diekmann.
In der bayerischen AfD herrscht Aufruhr. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Landtagsabgeordneten Daniel Halemba, die Partei will ihn ausschließen. Aber er wehrt sich auf raffinierte Weise, berichtet unsere Reporterin Annika Leister.
Heizen wird bald teurer. Meine Kollegin Jennifer Buchholz hat die Details.
Zum Schluss
Alles hat ja seine zwei Seiten.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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