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Staatsangehörigkeit: Plötzlich Millionen neue Deutsche? | Gesetzentwurf


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Tagesanbruch
Plötzlich Millionen neue Deutsche?

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 11.12.2023Lesedauer: 6 Min.
Stuttgarter Innenstadt: Wer einen deutschen Pass haben darf, wird gerade neu verhandelt.Vergrößern des Bildes
Stuttgarter Innenstadt: Wer einen deutschen Pass erhalten darf und wer nicht, wird gerade neu verhandelt. (Quelle: IMAGO/Arnulf Hettrich)

Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,

seit Wochen schon dreht die Ampel sich um sich selbst. Alle Aufmerksamkeit und Kraft gehen dafür drauf, die Finanzkrise zu lösen und endlich zurück ins geordnete Regieren zu kommen.

Doch währenddessen steht das Parlament nicht still. Große Gesetzesvorhaben laufen, die dazu taugen, Deutschland zu verändern. Zu einem besonders gewichtigen Entwurf werden an diesem Montag ab 14 Uhr Experten im Innenausschuss gehört – und man kann nur hoffen, dass die Regierenden die Zeit finden, gut zuzuhören.

Es geht um den Gesetzentwurf zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts, abgekürzt StARModG genannt. Trocken klingt dieser Titel, nach Verwaltungskram, unsexy, gähn. Doch dahinter verbirgt sich eine kleine Revolution. Und zwar in der für Deutschland sehr großen und hart umkämpften Frage: Wer darf deutsch sein?

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Das Gesetz könnte tief in das Leben von Millionen Menschen eingreifen und Deutschland Millionen neue Wähler bringen. Es könnte auch Mehrheiten, ja, sogar das Parteiengefüge im Bundestag, so wie wir es kennen, verändern. Beunruhigend ist deswegen, dass in der Öffentlichkeit bisher so wenig darüber gesprochen wurde und Experten eindringlich vor möglichen Folgen warnen.

Die zwei wichtigsten Maßnahmen der Reform: Die Bundesregierung will Mehrstaatigkeit zulassen und die Wartezeit für die Einbürgerung von acht auf fünf Jahre verkürzen. Menschen, die seit Jahren hier wohnen, gut Deutsch sprechen und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, sollen profitieren und leichter deutsche Bürger werden können. Und das betrifft viele: Laut Gesetzentwurf leben 12,3 Millionen Menschen ohne deutschen Pass hier, davon 5,3 Millionen seit mehr als zehn Jahren.

Zwei Sorgen stehen aber zurzeit mit Blick auf die Ampelpläne im Raum. Die erste bezieht sich auf die Mehrstaatigkeit, also auf die für manche Gruppe neue Chance, zwei Pässe haben zu dürfen und ganz offiziell zwei Staaten anzugehören.

"Die Möglichkeit zur Mehrstaatigkeit ist für viele attraktiv, wir werden schon jetzt oft danach gefragt", erklärte mir Peter Schlotzer im Gespräch. Er ist Dozent für Staatsangehörigkeitsrecht und leitet eine große Einbürgerungsbehörde. Besonders groß sei das Interesse an der Mehrstaatigkeit bei türkischen Staatsangehörigen, die sich bisher zwischen dem türkischen und dem deutschen Pass entscheiden müssen, sagt der Mann aus der Praxis.

Dabei ist wichtig zu wissen: Schon jetzt haben in Deutschland Menschen aus vielen Ländern die Möglichkeit, eine doppelte Staatsbürgerschaft zu haben. Das gilt für Bürger aus der Schweiz sowie den 26 anderen Ländern der EU. Aber auch Menschen, deren Heimatländer es gar nicht ermöglichen, ihre Staatsbürgerschaft abzugeben, dürfen in der Regel neben dem deutschen einen weiteren Pass besitzen – dazu zählen 25 weitere Staaten, darunter Syrien, Afghanistan, Tunesien, Marokko, Thailand, Brasilien, Mexiko, Ecuador, Algerien und Argentinien.

Für ein Viertel aller Staaten weltweit also besteht die Chance schon, wenn auch zum Teil zwangsweise. In die Röhre schauten bisher Menschen aus der Türkei, die in Deutschland besonders stark vertreten sind und die Wirtschaft in Deutschland seit den 70er-Jahren stützen.

Das zu ändern scheint nicht weniger als recht und billig. Doch die Mehrstaatigkeit für alle kann in den nächsten Jahren Folgen haben, die von dem Papier mit dem hölzernen Titel StARModG nicht genannt werden: Die neuen Deutschen könnten bei Wahlen ganz neue Kräfte befeuern.

Die Union warnt schon jetzt ebenso wie vereinzelte Experten vor neuen Chancen für Parteien, die den politischen Islam in Deutschland forcieren oder der türkischen Regierungspartei AKP nahestehen. Für Autokraten wie den türkischen Präsidenten Erdoğan wäre das ein Traum: Einfluss auf Deutschland und die EU zu haben, aus dem Ausland für Wirbel und Instabilität sorgen zu können.

Wie realistisch das ist, lässt sich nicht sagen. Es fehlen belastbare Zahlen zu den Doppelpass- wie den Wahl-Absichten. Ebenso wie es AKP-treue Türken in Deutschland gibt, gibt es auch jene, die Erdoğan und dem politischen Islam kritisch gegenüberstehen. Schon jetzt stammen übrigens die meisten Menschen, die neu eingebürgert werden, aus muslimischen Ländern wie Syrien, dem Irak oder Afghanistan – ohne dass sich bisher eine neue islamische Partei gegründet hätte.

Klar aber ist, dass die deutschen Parteien umdenken müssen, wollen sie nicht überrascht werden von den Geistern, die sie selber riefen. Bisher nämlich vergessen sie nur zu gerne jene Gruppen, die an den Wahlurnen keine Macht haben – Kinder und Jugendliche können davon ein trauriges Lied singen. Wollen sie die Stimmen der neuen Deutschen, müssen sie ihnen auch zuhören, sie adressieren, sich wirklich für ihre Belange einsetzen. Eine große, neue Aufgabe für die Parteizentralen. Bisher scheint das allerdings kaum bewusst, geschweige denn in Arbeit.

Das gilt auch für ein weiteres Problem, das der Gesetzentwurf für die Reform in sich trägt. Bei der Regelung dazu, wer in Zukunft in fünf statt acht Jahren eingebürgert werden kann, besteht unter Experten noch große Verwirrung. Der Gesetzestext nämlich schließt bisher wichtige Gruppen plötzlich aus – und andere ein, was aus Experten-Sicht wenig Sinn ergibt, wie Peter Schlotzer erklärt.

Das gilt zum Beispiel für die Formulierungen zur Unterhaltssicherung. Nach der jetzigen Fassung wären auch Schüler, Behinderte, Alleinerziehende grundsätzlich von der Einbürgerung ausgeschlossen, weil sie nicht voll arbeiten können und Unterstützung vom Staat erhalten – mögen ihre Gründe dafür auch noch so gut sein. Auf der anderen Seite sollen Ehepartner von Vollzeitarbeitenden, die ein Kind haben, einfach und leicht eingebürgert werden, ohne dass sie sich überhaupt um Arbeit bemühen müssen.

Das ist unfair, unsozial und auch für Praktiker nicht nachvollziehbar. "Der Teufel steckt im Detail", warnt Peter Schlotzer. "Wenn das Gesetz in der jetzt diskutierten Form kommt, ist das eine gravierende Änderung."

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Die Ampel sollte den Experten dringend Gehör schenken und den Entwurf nachbessern. Es geht um Menschenleben, um Zukunftschancen, von Einzelnen und großen Gruppen. Gerade weil die Koalition schon im Krisenmodus steckt: In dieser Frage darf sie sich nicht auch noch Fehler erlauben.


Was steht an?

Die CDU-Spitze legt einen Entwurf für ihr neues Grundsatzprogramm vor. Ab 9 Uhr wird darüber im Präsidium wie im Vorstand der Partei diskutiert, danach wird das wohl 70-seitige Papier der Öffentlichkeit vorgestellt. Seit Monaten arbeitet die CDU an dem Programm, Funktionäre haben dafür in zehn Arbeitsgruppen und auf Konferenzen im ganzen Land mit der Basis diskutiert. Auslöser war die herbe Wahlschlappe bei der Bundestagswahl 2021, die die CDU das Kanzleramt kostete. Mit neuen Inhalten soll es zurückgehen an die Macht. Eine "brennende, eine fesselnde, eine ermutigende Erzählung" hatte CDU-Vize Carsten Linnemann eingefordert. Ob das gelungen ist, wird die Pressekonferenz (13.30 Uhr) zeigen.


Kanzler Scholz hat einen engen Terminplan: Ab 11.30 Uhr empfängt er den Ministerpräsidenten der Niederlande, Mark Rutte. Ab 14.30 Uhr folgen Angehörige von Soldaten und Polizisten im Auslandseinsatz. Diskussionen zum Haushalt 2024 nicht zu vergessen.


Die Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen, die COP28, wird in Dubai fortgesetzt. Zu Besuch aus Deutschland wird an diesem Montag Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sein.


Polens amtierender Ministerpräsident Morawiecki gibt eine Regierungserklärung ab und stellt die Vertrauensfrage im Parlament. Die wird er verlieren – seit der Wahl am 15. Oktober nämlich herrschen neue Mehrheiten zugunsten der pro-europäischen Opposition unter Donald Tusk im polnischen Parlament. Sobald Morawiecki die Vertrauensabstimmung verliert, darf Tusk sich an der Regierungsbildung versuchen.


Was lesen?

Mitten im so verheerenden Finanzstreit der Ampel hält die SPD einen Parteitag ab. Dabei schont und stützt die Partei ihren Kanzler – der dankt mit Versprechen von saftigen Investitionen ins Soziale. Meinem Kollegen Daniel Mützel klingelt bei so viel Harmonie ein Klassiker der Musikgeschichte in den Ohren.


In der FDP läuft ein Mitgliederentscheid über den Verbleib in der Koalition. Die Stimmung in der Partei droht zu kippen. Verlassen die Liberalen bald die Regierung? Mein Kollege Tim Kummert hat sich umgehört.


Ohrenschmaus

Draußen ist's trist und grau, die Vorfreude auf Weihnachten im Kreis von Familie und Freunden bei mir deswegen schon jetzt groß. Dieser Song setzt Sie in Gedanken schon mal auf die Schienen nach Hause.


Zum Schluss

Nachwuchs-Hoffnungen 2023:

Ich wünsche Ihnen einen hervorragenden Start in die Woche. Morgen schreibt Johannes Bebermeier hier für Sie.

Herzlichst
Ihre Annika Leister

Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @AnnLei1

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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