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Bombendrohungen, Terror-Propaganda, Hass: Die soziale Bombe tickt


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Tagesanbruch
Die Bombe tickt

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 27.10.2023Lesedauer: 7 Min.
Olaf Scholz: Der Kanzler und seine Kollegen vermeiden ein schwieriges Thema.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz: Der Kanzler und seine Kollegen vermeiden ein schwieriges Thema. (Quelle: IMAGO/Eibner/Florian Wiegan)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

hatten Sie in Ihrer Jugend schon mal überraschend schulfrei? Weil die Hitze zu groß war oder der Schnee zu hoch? Ich komme vom Land, bei uns ist das ab und zu passiert, weil der Bus nicht durch den Schnee kam. Die Freude war immer riesig, wir luden rasch unsere Sachen zu Hause ab, schnappten unsere Schlitten, später unsere Zigaretten, und waren dankbar für die spontane Freizeit.

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Seit ein paar Tagen haben viele Hundert Schüler in Deutschland schulfrei, aber aus einem sehr viel beunruhigenderen Grund: Bombendrohungen gehen an Deutschlands Schulen ein. Mindestens 80 Institutionen und Gebäude wurden in den vergangenen Wochen insgesamt bedroht – viele davon Schulen. Besonders betroffen sind Einrichtungen in Süddeutschland, aber auch in mehreren anderen Bundesländern gab es solche Fälle.

Die anonymen Absender drohen mit Anschlägen. Die Formulierungen variieren offenbar, immer wieder aber nehmen die Verfasser Bezug auf die Terrororganisation Hamas. Gegenstand von Ermittlungen ist nun auch, ob die Schreiben von Terrorunterstützern stammen – oder ob Einzelne oder Gruppen Polizeieinsätze auslösen wollen, um den Unterricht platzen zu lassen, wie mein Kollege Jonas Mueller-Töwe hier berichtet.

Die Folgen für die Schulen sind schon jetzt massiv: Viele wurden zeitweise ganz geschlossen und von Polizisten mit Sprengstoffhunden durchsucht, Hunderte Schüler nach Hause geschickt. Es dürfte bei den Kindern und Jugendlichen an diesem Tag nur ein einziges Gesprächsthema gegeben haben: die Bombendrohungen. Viele werden sich zum ersten Mal Fragen gestellt haben wie: Was bitte ist die Hamas, was bedeutet eigentlich Terror?

Es ist ein extremes Beispiel dafür, wie der Nahostkonflikt sehr plötzlich in das Leben von Kindern und Jugendlichen in Deutschland einbricht. Und es ist nur eines von vielen. An manchen Schulen wurden Flugblätter verteilt, auf denen der Terror der Hamas, das Abschlachten von Hunderten Juden, als "Befreiung" von der "israelischen Besatzung" gefeiert wurde. In Berlin kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen einem Lehrer und einem Schüler, weil der Junge Palästina-Flagge und -Tuch auf dem Schulhof trug. Das Video davon ging bundesweit durch die sozialen Netzwerke, die Meldung dazu auch durch die etablierten Medien.

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Es sind Beispiele wie diese, die deutlich zeigen: Die Staatsräson der Bundesregierung, an der Seite Israels zu stehen – auf deutschen Schulhöfen gilt sie für viele nicht. Nicht wenige der Schülerinnen und Schüler wachsen in Familien auf, die eine grundlegend andere Perspektive auf den Nahostkonflikt haben: Sie haben Verwandtschaft in den palästinensischen Gebieten oder in muslimischen Ländern, in denen Staatsräson die Solidarität mit den Palästinensern, manchmal sogar Judenhass, ist. Sie hören und sehen zu Hause arabische Nachrichten, Staats-TV aus ebendiesen Ländern.

Die sozialen Netzwerke sind ein Problem für sich. Auf dem Videoportal TikTok, das sich explizit an Nutzer unter 30 richtet, gehen Gewaltdarstellungen und Hamas-Propaganda rund. Islamistische Influencer machen Stimmung, werben auf Deutsch für Krawalle in Deutschland. Ihre Videos werden von Tausenden gesehen und gelikt, egal welcher Herkunft. Und auch Jugendorganisationen wie die internationale Dachorganisation von "Fridays for Future" verbreiten im Netz Geschichtsklitterung und Antisemitismus, wie mein Kollege Philipp Michaelis hier kommentiert.

Eine gefährliche Parallelwelt, von der Menschen über 30 und auch die Sicherheitsbehörden oft nur wenig wissen. Für viele Jugendliche aber ist genau das die Realität. Scholz‘ Reden im Bundestag, die Tagesschau, die Position von Juden und Israelis nehmen sie nicht einmal wahr.

Es ist kein neues Problem, sondern ein altes, das auch im Zuge von islamistischen Terrorattacken in den vergangenen Jahren schon oft diskutiert wurde. Immer noch aber hat die Politik darauf keine Antwort gefunden.

Mehr noch: Sie scheint es aufgegeben zu haben, eine Lösung zu finden. Gerne sprechen Spitzenpolitiker derzeit nämlich über Abschiebungen und Haftstrafen für Antisemiten. Über die Lage an Schulen aber schweigen sie. Die Wurzel des Problems anzugehen und für Prävention zu sorgen, also für ein echtes "Nie wieder!", das scheint derzeit nur auf wenigen Sprechzetteln zu stehen.

Warum das so ist? Die Politik, ob auf Landes- oder Bundesebene, kennt ihre Verfehlungen. Viele deutsche Schulen sind heruntergewirtschaftet, die Gebäude marode, die Ausrüstung schlecht, die Lehrer und ihre Helfer überlastet und schon lange am Ende ihrer Nerven. Lange hat die Politik Schulen, Lehrer und Kinder im Stich gelassen. Sie haben eine schwache Lobby im Bundestag, ihre Probleme sind zudem kostenintensiv. Und zu stark hängen die Probleme zusammen: Der Lehrermangel greift in jeden Bereich ein, macht spontane Umstellungen im Stundenplan an vielen Schulen unmöglich.

Also arbeitet man auch hier wieder mit Verboten statt Aufklärung. So wie Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch. Die CDU-Politikerin schrieb in der vergangenen Woche einen langen Brief an Schulleitungen in der Hauptstadt. Darin erklärte sie, welche Handlungen und Outfits an Berliner Schulen nun untersagt sein können, wenn die Direktoren es wollen: Aufkleber mit dem Spruch "Free Palastine"; Kleidungsstücke wie das Palästinensertuch; bestimmte Meinungsäußerungen oder Gesten. Auch die Nutzung von Mobiltelefonen könne temporär für alle Schüler einer Schule untersagt werden.

Erst am Ende ihres Briefes schreibt Günther-Wünsch: "Wir müssen den Kindern und Jugendlichen auch erklären, warum sie diese Symbole nicht zeigen sollen, und mit ihnen ins Gespräch über ihre Gefühle, Gedanken und Informationsquellen kommen (...)" Dass das der erste und nicht der zweite Schritt sein muss, dürfte wohl jedem aufgehen.

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Das aber kostet Zeit, Verständnis, Zuwendung. Ressourcen, die es an Deutschlands Schulen oftmals nicht mehr gibt.

Doch die Sicht von Kindern und Jugendlichen auf den Nahostkonflikt, ihre Ängste und Sorgen, die Probleme der Lehrkräfte: Sie gehören jetzt ganz oben auf die Prioritätenliste der Politik. Diese soziale Bombe tickt schon lange – und Scholz muss sie dringend entschärfen, will er sein richtiges und wichtiges Versprechen halten, das er erst vor wenigen Tagen bei einer Rede in Dessau wieder gab: ein sicheres Deutschland für Juden und alle anderen Minderheiten. Ein Kampf gegen Antisemitismus, ob er von links oder rechts kommt, ob er in Deutschland oder in anderen Ländern gewachsen ist.


EU-Gipfel ringt um Worte

"Wie groß die Macht der Worte ist, wird selten recht bedacht", schrieb der Dramatiker Friedrich Hebbel schon 1838. Für den EU-Gipfel, bei dem sich seit Donnerstagnachmittag Kanzler Scholz und die 26 anderen Regierungschefs treffen, gilt dieser Satz nicht. Dort wurde nicht nur um Worte, sondern sogar um einzelne Buchstaben heftig gestritten.

Grund war die Abschlusserklärung des Gipfels zum Nahostkonflikt. Sie soll eine gemeinsame Linie der EU-Länder zum Krieg zwischen Israel und der Hamas formulieren. Lange wurde sie diskutiert, am späten Donnerstagabend schließlich wurde sie verabschiedet. Die EU-Staaten fordern darin nun humanitäre Feuerpausen und geschützte Korridore für sichere Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Es brauche einen kontinuierlichen, schnellen, sicheren und ungehinderten Zugang für Hilfslieferungen.

Der Grund: Die Lage im Gazastreifen ist katastrophal. Die Hamas feuert Raketen nach Israel, Israel wiederum attackiert Stellungen der Hamas in Gaza. Die Versorgung für die zivile Bevölkerung ist so zum großen Teil abgeschnitten. Hilfsorganisationen zufolge mangelt es an Medikamenten, Trinkwasser, Lebensmitteln, Kleidung – also an so ziemlich allem. Und mit jedem Tag wird die Lage schlimmer.

Die Erklärung aber sorgte in den vergangenen Tagen für Diskussionen und Differenzen. Im ersten Entwurf schlug EU-Ratspräsident Charles Michel noch vor, eine "humanitäre Pause" zu fordern, um "einen sicheren Zugang für humanitäre Hilfe zu ermöglichen". Die Vereinten Nationen fordern nicht nur eine Feuerpause, sondern einen noch weitergehenden Waffenstillstand.

Länder wie Deutschland, Österreich und Ungarn aber sprachen sich klar dagegen aus, dass sich die EU den Aufrufen nach einer Waffenruhe öffentlich anschließt. Sie wollen Israel nicht brüskieren, dessen Bewohner von der Hamas getötet und entführt wurden und das aus ihrer Sicht alles Recht hat, sich nun zu verteidigen. Nicht nur Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) argumentiert, ein solcher Vorstoß sei angesichts des anhaltenden Terrors der Hamas unangemessen.

Länder wie Spanien oder Irland setzen sich hingegen wegen der vielen zivilen Opfer bei israelischen Angriffen auf Ziele im Gazastreifen für einen solchen Aufruf ein. Sie argumentieren, dass die von Israel ausgehende Abriegelung des Gazastreifens klar gegen das Völkerrecht verstößt.

Die Lösung ist ein klassischer Kompromiss: In der finalen Erklärung ist nun nicht mehr von einer "humanitären Pause" die Rede, sondern von "Pausen" und "Korridoren" – im Plural. So soll es weniger nach einer großen Waffenruhe klingen als vielmehr nach zahlreichen kleineren Maßnahmen. Eine Lösung, für die Baerbock vorab warb.


Was steht sonst noch an?

Altkanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder wird ab 11 Uhr vom SPD-Bezirk Hannover für 60 Jahre Mitgliedschaft in der SPD geehrt. Allzu stolz ist die SPD darauf allerdings nicht: Die Veranstaltung findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, die SPD-Granden schweigen lieber dazu.


Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) besucht mit einer Wirtschaftsdelegation die Türkei. In Ankara trifft er seinen Amtskollegen zu wirtschafts-, klima- und energiepolitischen Themen und nimmt an der Sitzung des Deutsch-Türkischen Energieforums teil.


Die deutsche Nationalmannschaft der Frauen kämpft um eine Olympiateilnahme. Mit dem neuen Interimstrainer Horst Hrubesch geht es in Sinsheim ab 17.45 Uhr gegen Wales. t-online berichtet im Liveticker.


Vorsicht: In der Nacht von Samstag auf Sonntag werden die Uhren umgestellt – von 3 auf 2 Uhr. Am Samstagabend ab 21.35 Uhr können Sie am Himmel außerdem eine partielle Mondfinsternis beobachten. Gesetzt den Fall, der Himmel über Ihnen ist wolkenfrei.


Was lesen?

Unter den Geiseln, die die Hamas nach Gaza verschleppte, sind auch deutsche Staatsbürger. Mein Kollege Daniel Mützel hat Ricarda Louk getroffen, die hofft, dass ihre 22-jährige Tochter Shani noch lebt. Sie fleht: "Herr Scholz, bringen Sie mir meine Shani zurück."


Sahra Wagenknecht will eine eigene Partei gründen. Was jetzt folgt? Eine Schlammschlacht – und eine Gefahr speziell für eine Partei, sagt der Politikwissenschaftler Constantin Wurthmann im Gespräch mit meinem Kollegen Tom Schmidtgen.


Ohrenschmaus

In Zeiten, in denen der Hass grassiert, kann Musik Hoffnung machen – oder zumindest die Laune bessern. Lassen Sie sich einmal mit Liebe beregnen von diesem Klassiker der Bellamy Brothers.


Zum Schluss

Die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst der Länder beginnen. Vertreter der Arbeitgeberseite dürften in der vergangenen Nacht von einem solchen Ausgang geträumt haben:

Ich wünsche Ihnen ein friedvolles Ende der Woche. Morgen begleitet Peter Schink Sie in den Tag.

Herzlichst

Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @AnnLei1

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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