Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Und wieder rächt sich die deutsche Ignoranz
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
aus Fehlern lernt man, heißt es bekanntlich. Auf die deutsche Außenpolitik trifft das in diesen Tagen nicht zu. Wieder einmal hat sich eine brandgefährliche Situation in Europas Nachbarschaft entwickelt, wieder einmal hat man es vorher nicht gesehen oder nicht sehen wollen.
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Eine Autokratie hat ihr Militär entfesselt, Siedlungen beschossen, ist entgegen geltender Verträge in ein Gebiet einmarschiert. Es gibt viel, was den Krieg Russlands gegen die Ukraine und den Angriff Aserbaidschans auf die autonome Region in Bergkarabach trennt. So ist die Ukraine ein souveräner Staat, bei Bergkarabach stellt sich die Situation völkerrechtlich komplizierter dar (mehr dazu lesen Sie hier).
Aber es gibt auch vieles, was beide Ereignisse gemeinsam haben. Die menschenverachtende Propaganda etwa gegen das andere Volk, die Hass zu einer Staatsräson macht. Die Gräueltaten gegen die Bevölkerung. Und eben auch die Lethargie der Politik Deutschlands und anderer EU-Staaten, die nicht wahrhaben wollten, was vor ihren Augen passiert – und stattdessen weiter fröhlich Gasgeschäfte abwickeln.
Anzeichen hätte es genug gegeben. Aserbaidschan hat klar gezeigt, worum es eigentlich geht: Die Armenier und ihre christliche Kultur aus diesem Gebiet zu tilgen. Bereits 2020 marschierte Aserbaidschan in Bergkarabach ein, brachte ein Drittel der Fläche unter seine Kontrolle. 2022 dann attackierte die Armee sogar das souveräne Armenien. Bei beiden Einsätzen gingen die Truppen äußerst brutal vor. In sozialen Medien luden die Soldaten Videos hoch, wie sie armenische Soldaten und Zivilisten hinrichteten, ihnen die Köpfe abschnitten, die Leichen schändeten, Kirchen zerstörten. Vergleiche mit den Verbrechen des Islamischen Staats machten damals die Runde. Aufgearbeitet wurden diese Verbrechen in Aserbaidschan nie.
In den vergangenen Monaten dann blockierte Aserbaidschan die Lebensader von Bergkarabach, verhinderte, dass überlebenswichtige Medikamente, Nahrung und Benzin in die Region gelangten. 120.000 Menschen wurden so eingeschlossen, viele hungerten – und Berichten zufolge verhungerten auch einige. Experten warnten vor einer bevorstehenden ethnischen Säuberung. Nun hat Aserbaidschan wohl die Kontrolle über die ganze Region errungen – und das ist vor allem für die Menschen dort eine furchtbare Nachricht.
Denn davon auszugehen, dass Aserbaidschan die armenische Bevölkerung anständig behandeln wird, ist nicht mehr als Wunschdenken. "Kein Armenier ist mehr sicher in Bergkarabach, ob nun mit oder ohne Waffenruhe", sagte Südkaukasus-Experte Stefan Meister gestern meiner Kollegin Marianne Max. "Die Armenier werden Bergkarabach verlassen müssen oder es geht um ihr Leben. Ich sehe keine Alternative." Und Europa schweigt.
Gleichzeitig baut Europa die wirtschaftlichen Beziehungen aus, auch um bei den Gaslieferungen weniger abhängig von Russland zu sein. So entstand in Windeseile eine neue Pipeline, die aserbaidschanisches Gas nach Bulgarien transportiert. Bei der feierlichen Eröffnungszeremonie vor einem Jahr stand zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und mehreren europäischen Staatschefs auch der Mann, der gegen Armenier hetzt, europäische Politiker bestechen und nur zwei Wochen zuvor das Nachbarland attackieren ließ: Präsident Ilham Alijew.
Kritische Stimmen aus der EU gab es kaum. Als Kanzler Scholz' Sprecher, Steffen Hebestreit, bei einer Regierungskonferenz gefragt wurde, wie die Bundesregierung einen Völkermord verhindern wolle, sagte er: "Naja." In seinen Augen sei das Propaganda, ein "Kampfbegriff". Selbst wenn man die Einschätzung eines drohenden Völkermords nicht teilt: Den Ernst der Lage erkannte die Regierung ganz offenkundig nicht. Wie schon bei der Ukraine scheint man die Bedrohungen lieber zu ignorieren. Erst jetzt, da es zu spät ist, fallen die Verurteilungen deutlicher aus.
Deutschland und seine europäischen Partner haben es dem aserbaidschanischen Autokraten leicht gemacht. Eine kleine Verurteilung hier, ein "bitte aufhören" da. Sanktionen wurden nicht angedroht, selbst nicht nach dem Angriff auf Armenien. Stattdessen wurde Alijew belohnt: mit tollen Fotos und einer Energiepartnerschaft. Mehr kann man jemanden kaum ermutigen.
Gleichzeitig, und das ist bitter, schwächte Europa damit Armenien – und damit ein Land, das sich in den vergangenen Jahren immer weiter westlich orientierte, in dem die Demokratie zu wachsen begann. Denn die Streitigkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan sind noch nicht beigelegt: Ein Knackpunkt ist der Sangesur-Korridor, der auf armenischem Territorium liegt. Aserbaidschan verlangt Zugang, um seine Exklave Nachitschewan zu erreichen. Das Angebot Armeniens, den Korridor für Verkehr freizugeben, reicht dem Regime nicht.
Besonders deutlich, und als eine der wenigen kritischen Stimmen in der deutschen Politik, brachte es SPD-Außenpolitiker Michael Roth in einem gestern erschienenen Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auf den Punkt. "Die Politik der Äquidistanz ist endgültig gescheitert. Das stelle ich bitter fest", sagte er da. "Wir haben ein militärisch hochgerüstetes autoritäres Regime mit erheblichen Rohstoffeinnahmen ähnlich behandelt wie eine fragile, aber junge Demokratie, die sich derzeit unter schwierigsten ökonomischen und sozialen Bedingungen von Russland zu emanzipieren versucht."
Roth ist selbst in die Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan involviert, bei denen erst die USA vermittelten, dann die EU unter der Leitung von Deutschland und Frankreich. Erst im Mai gab es dabei einen Durchbruch. Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan erklärte, Bergkarabach als Teil Aserbaidschans anzuerkennen. Dafür solle Alijew die Sicherheit der armenischen Bevölkerung dort garantieren.
Was Alijew von den Friedensverhandlungen und diesem Vorschlag hält, hat er nun unter Beweis gestellt. Damit düpiert er auch Scholz und den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die noch vor Kurzem beide Verhandlungspartner ermutigten, bei den Friedensgesprächen über "die Ziellinie" zu springen. Diese Ziellinie aber, das zeigt sich jetzt mehr als deutlich, lag in weiter Ferne.
Das ist peinlich für die EU, und besonders für die beiden führenden Nationen Deutschland und Frankreich. Beide hatten zuletzt immer wieder von einem stärkeren, selbstbewussteren Europa gesprochen, das Frieden und Stabilität verbreiten soll. Doch schon wieder sind sie nicht Herr der Lage, schon wieder setzt ein kriegslüsterner Autokrat seine Belange mit Waffengewalt durch, anstatt auf die Diplomatie Europas zu vertrauen.
Europa steht schwach da. Von einem klaren Signal, von Sanktionen, wie es einige Außenpolitiker wie Roth vorschlagen, ist keine Rede. "Es rächt sich, dass wir diese Region zu lange vernachlässigt haben und uns eigentlich immer erst dann engagieren, wenn es fast zu spät ist", sagte Roth nun der "FAZ". Und Südkaukasus-Experte Meister urteilt: "Der Westen hat versagt."
Was den europäischen Staatenführern besonders peinlich sein müsste: Wieder einmal springen die USA in die Bresche. Gemeinsam mit Armenien haben sie in diesem Monat ein Militärmanöver durchgeführt. Ein kleines zwar, aber durchaus als Zeichen der Unterstützung zu werten. Dabei wollten sich die Vereinigten Staaten längst auf die Pazifik-Region konzentrieren, und Europas Nachbarschaft den Europäern überlassen. Doch dafür scheinen Deutschland und Frankreich nicht bereit zu sein.
Drama in den letzten Minuten
Das erste Mal ist etwas Besonderes: Das durfte nun Union Berlin erleben, zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte spielte der Fußballclub gestern in der Champions League. Und das gleich auswärts gegen den Giganten Real Madrid. Erst in den letzten Minuten fingen sich die "Eisernen" einen Gegentreffer und verloren doch noch mit 0:1.
Auch wenn Madrid vor allem in der zweiten Halbzeit überlegen war und gute Chancen hatte: Der Außenseiter hat sich in der spanischen Hauptstadt gut geschlagen. Einen ausführlichen Spielbericht hat mein Kollege Alexander Kohne für Sie verfasst.
Was steht an
In New York geht die Generaldebatte der UN-Vollversammlung weiter. Kanzler Scholz und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj haben gestern Abend noch den Global Citizen Award erhalten, mit dem jedes Jahr Persönlichkeiten ausgezeichnet werden. Außenministerin Baerbock trifft sich als nächstes mit ihren Amtskollegen aus Indien, Brasilien und Japan, um die Reform des UN-Sicherheitsrats zu besprechen.
75 Jahre: So alt wird der Deutsche Bauernverband heute. Zum Festakt wird unter anderem Bildungsministerin Bettina-Stark-Watzinger erwartet.
In München beginnt ein neuer Prozess gegen Jérôme Boateng. Der Ex-Fußballnationalspieler war im Herbst 2022 wegen eines Angriffs auf seine frühere Freundin verurteilt worden, legte aber Berufung ein. Nun geht das Verfahren in die dritte Runde.
Was lesen?
Die Kernbotschaft bei der Generaldebatte der Vereinten Nationen lautet in diesem Jahr: Die Welt hat noch andere Probleme als den Ukraine-Krieg. Für den Westen ist das ein Balanceakt zwischen Entgegenkommen und Erinnern, schreibt unser US-Korrespondent Bastian Brauns. Im mächtigsten Gremium der UN attackierte der ukrainische Präsident Russland scharf. Dessen Vertreter aber machte sich über den Auftritt Wolodymyr Selenskyjs lustig.
Der Internationale Strafgerichtshof hat bereits vor einiger Zeit einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgestellt. Unsere Gastautorin Daria Yeremeichuk argumentiert, man könne auch den Rest der Moskauer Regierung vor Gericht bringen.
Der Tagesschau-Sprecher Constantin Schreiber will nicht mehr über den Islam sprechen. Die Causa legt offen, wie zerrüttet die Debattenkultur in Deutschland in Bezug auf die Themen Islam und Migration ist, schreibt Extremismusforscher Ahmad Mansour in einem Gastbeitrag.
Manchester United war einst eine Fußballgroßmacht. Mittlerweile ist der englische Traditionsklub nur noch ein Schatten seiner selbst – auf und neben dem Platz, berichtet mein Kollege William Laing.
Das historische Bild
Heute sind sie eher älteren Fernsehzuschauern in Erinnerung, doch Dean Martin und Jerry Lewis waren einst Superstars. Mehr lesen Sie hier.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Donnerstag. Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.
Camilla Kohrs
Stellvertretende Politikchefin
Twitter: @cckohrs
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Mit Material von dpa.
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