Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein Riesengeschenk an die AfD
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die Woche der Aiwanger-Kritik ist beendet, weiter geht's! Dieses Signal ging am Montag von den bayerischen Regierungsparteien CSU und Freie Wähler aus. Da nämlich fand der politische Frühschoppen auf dem Jahrmarkt Gillamoos statt. Der Redemarathon in zig Bierzelten ist legendär – und wichtiger Teil des Wahlkampfes in Bayern.
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Breitbeinig, selbstbewusst, schulterklopfend – so wurde die Aiwanger-Affäre hier von den Wahlkämpfern bearbeitet.
"Bravourös" habe Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Aufgabe gelöst, lobte CDU-Chef Friedrich Merz im Bierzelt. "Sehr gut, genau so war's richtig, das so zu machen."
Dabei lässt sich Söders Strategie am besten so beschreiben: Aiwanger Fragen stellen, aber seine dürftigen Antworten bloß nicht genau prüfen. Beide Augen zu, neue Vorwürfe wegen Hitlergrüßen im Klassenzimmer und der Hetzschrift "Mein Kampf" in Aiwangers Schulranzen ignorieren. Bloß nicht weiter nachbohren, Haken dran, Hauptsache die angestrebte Koalition bleibt bestehen. (Über das "Schauspiel des Schweigens", das Söder und Aiwanger aufführen, berichten meine Kollegen Tim Kummert und Alexander Spöri hier für Sie direkt vom Gillamoos.)
Noch kraftstrotzender traten Aiwangers Freie Wähler auf. Der Chef erwähnte die Flugblatt-Affäre mit keinem Wort, seine Parteikollegen drehten am Mikrofon auf. Sie kritisierten jetzt nicht mehr nur eine "Kampagne", sondern eine "Riesenkampagne" der Opposition und immer wieder "Denunziantentum". Aiwanger aber habe sich behauptet, gehe gestärkt aus der Affäre hervor. Er werde nun gefeiert "wie nie ein Politiker" zuvor.
In den bayerischen Bierzelten scheint das zu stimmen. Denn dort brandet Aiwanger seit Tagen Jubel entgegen, er wird gefeiert wie ein Held, seine Unterstützer zeigen – wie ein Reporter berichtet – auch mal Hitlergrüße in die Kamera. Und die privaten Fernsehsender, begehrte Medien unter Politikern, übertrugen am Montag lieber Aiwangers Rede als den zeitgleich stattfindenden Auftritt des Ministerpräsidenten Söder.
Solange die ersten Umfragen nach der Flugblatt-Affäre noch nicht ausgewertet und veröffentlicht sind, solange sich Gewinn und Verlust noch nicht an Zahlen ablesen lassen, solange der Applaus in den Bierzelten einziger Gradmesser ist, scheint Aiwanger erst einmal tatsächlich als Sieger dazustehen.
Popularität aber ist nicht gleichzusetzen mit Moralität. Deswegen, liebe Leser, werfen wir doch an diesem Morgen einen Blick auf jene, die unter Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland besonders leiden. Jene, die keinen Platz auf der Bühne im Bierzelt haben, die oftmals nicht live im TV übertragen werden. Stimmen, die viel zu oft zu kurz kommen: Stimmen aus der jüdischen Community in Deutschland.
Was sagen sie zur Affäre Aiwanger und ihrer Aufklärung?
"Aiwanger ist kein Opfer, er ist Täter", sagt der jüdische Publizist Michel Friedman. Er kritisiert scharf, dass Söder Aiwanger im Amt belässt. Eben nicht "bravourös" sei die Entscheidung von Söder gewesen, sondern "furchtbar falsch". Nicht etwa, weil Aiwanger in seiner Jugendzeit Fehler begangen habe. Sondern weil er sich mit "Gedächtnisverlust" aus der Affäre ziehe, nun eine "Schmutzkampagne" beklage und so die Tatsachen verdrehe. Schließlich habe er selbst den Schmutz verursacht.
Nicht verzeihen will auch Charlotte Knobloch. Die Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern lehnte eine Entschuldigung Aiwangers im direkten Gespräch ab. Es seien "entsetzliche Worte", die im Raum stünden, sagt sie.
Söders Schritt, an Aiwanger festzuhalten, akzeptiere sie hingegen. Nicht, weil sie Aiwanger für schuldlos, die Vorwürfe für ausreichend aufgearbeitet hält. Sondern weil Aiwanger im Fall einer Entlassung die Situation für sich wohl ausgenutzt und damit Erfolg gehabt hätte, erklärt Knobloch. Aus ihrer Sicht: die noch größere Katastrophe.
"An Tagen wie diesen wünsche ich mir, dass wir nach Israel statt Deutschland gegangen wären", twitterte der jüdische Autor Dmitrij Kapitelman bereits am Sonntag nach dem Söder-Statement, das Aiwanger als seinen Vize endgültig rehabilitierte. Wie sehr könne man den Juden in Deutschland noch "ins Gesicht spucken", fragte er. "Und zwar selbstherrlich, 'recht tuend' und von oben herab." Andere Stimmen formulierten "ernsthafte Sorgen, was unsere Zukunft als jüdische Familie in diesem Land angeht".
Deutschlands Seismografen in Sachen Erinnerungspolitik spenden Aiwanger also keinen Applaus. Im Gegenteil: Sie schlagen Alarm.
Und sie haben recht. Schon jetzt ist der Fall Aiwanger ein fataler Präzedenzfall: Frühere antisemitische und rechtsextreme Positionen sind im Deutschland des Jahres 2023 plötzlich kein valides Problem mehr, nicht einmal mehr ein Grund für weitere Untersuchungen – sondern könnten sich sogar zu einer willkommenen Wahlkampfhilfe mausern. Ein neues, bisher unbetanztes Parkett für Tabubrüche und die "Wir gegen die da oben"-Erzählung von Populisten.
Wer sich darüber besonders freut und deshalb schon jetzt als größter Gewinner aus der Affäre Aiwanger hervorgeht, sind die Hardliner der AfD. Ihnen ist die deutsche Demut vor den eigenen Gräueltaten der Vergangenheit ein Graus, sie verhöhnen sie schon lange als "Schuldkult". Leute wie Björn Höcke treten seit Jahren für eine "180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik" ein.
Weg von Demut, Reue, Selbstkasteiung mit Blick auf das Dritte Reich – zurück zu Stolz, Selbstüberzeugtheit, einer ordentlichen Portion Hochmut. Das ist der Weg, der den Höckes dieser Welt für Deutschland vorschwebt. Und die ersten Schritte auf diesem Weg hat Aiwanger gerade unter dem Applaus der Bundesrepublik getan.
Für die nächsten Landtagswahlen bedeutet das nichts Gutes. Nach Bayern und Hessen sind mit Thüringen, Sachsen und Brandenburg 2024 drei Länder an der Reihe, in denen die AfD stärkste Kraft ist, in denen die Partei diesen Ton bereits seit Jahren etabliert hat, in denen Politiker Funktionäre sind, die in Sachen Rechtsextremismus wesentlich größere Leichen im Keller liegen haben.
Aiwangers und Söders Lavieren in der aktuellen Affäre bleibt deswegen vor allem: ein Riesengeschenk an die AfD.
Was steht an?
Der Haushalt der Bundesregierung für das Jahr 2024 geht in die erste Lesung. Am Dienstag ab 10 Uhr auf der Tagesordnung: eine Abstimmung über das Gebäudeenergiegesetz sowie Debatten zu den Einzeletats von Familien-, Bau-, Entwicklungs- und Umweltministerium.
Wie stark manipulieren fremde staatliche wie nicht-staatliche Akteure den Diskurs in Deutschland? Wie groß ist die Desinformation? Diesen Fragen geht das "Zentrum für Analyse und Forschung" am Bundesamt für Verfassungsschutz am Dienstag und Mittwoch bei der Wissenschaftskonferenz "Meinungsbildung 2.0" nach.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) ist bei einer einstündigen Sonderausgabe von RTL Direkt zu Gast. Währenddessen hält sein ehemaliger Parteikollege Boris Palmer in Budapest einen Vortrag am Mathias-Corvinus-Collegium. Der Auftritt des Tübinger Oberbürgermeisters stand vorab bereits in der Kritik, weil das Collegium eng mit der Regierung des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán verbunden ist.
In Indonesien wird das Gipfeltreffen der zehn südostasiatischen Asean-Staaten fortgesetzt, in Nairobi der erste Afrika-Klimagipfel.
Was lesen?
Eine recht bizarre Vorstellung von Pressefreiheit scheint man bei der CSU zu haben. Zwei meiner Kollegen, Alexander Spöri und Jannik Läkamp, sind auf dem Gillamoos im CSU-Bierzelt an ihrer Arbeit gehindert worden. Lesen Sie hier mehr über den Zwischenfall.
Wladimir Putin bleibt beim Getreideabkommen hart, Recep Tayyip Erdoğan muss aus Russland mit einer Niederlage im Gepäck abreisen. Warum das einer Ohrfeige für den türkischen Präsidenten gleichkommt, erklärt mein Kollege Patrick Diekmann hier.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mitten in einer entscheidenden Phase des Krieges einen neuen Verteidigungsminister nominiert. Meine Kollegin Theresa Crysmann erklärt, wer der Mann ist, dem Selenskyj die Zügel in die Hände legt.
Ohrenschmaus
Legende, Genie, Rampensau: Heute wäre Queen-Frontmann Freddie Mercury 77 Jahre alt geworden. Empfohlen sei deswegen ein Klassiker, den Mercury bei einem seiner häufigen Aufenthalte in München angeblich in nur wenigen Minuten komponierte: Hier können Sie ihn hören.
Zum Schluss
Keine Scherze über den Kanzler mit Augenklappe, bitte!
Ich wünsche Ihnen einen fantastischen Dienstag. Morgen begleitet Sie Florian Harms wieder in den Tag.
Herzlichst
Ihre
Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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