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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
seit Sonntagvormittag ist klar, wie lange Markus Söder für seinen ganz eigenen Schlussstrich braucht: knapp neun Minuten. So lang war die Stellungnahme des bayerischen Ministerpräsidenten, mit der "diese Sache", wie Söder zum Schluss sagte, "aus meiner Sicht abgeschlossen ist".
"Diese Sache" – das ist die Antisemitismus-Affäre um seinen Vize Hubert Aiwanger. Der soll im Amt bleiben, findet Söder. Die Koalition von Söders CSU mit den Freien Wählern will er nach der Wahl im Oktober weiterführen. Und "definitiv" soll es kein Schwarz-Grün geben. Trotz der "schweren Vorwürfe" gegen Aiwanger, mit denen er, Söder, es sich "nicht leicht gemacht" habe. Trotz der "unschönen Wochen", wie Söder klagte, die "Bayern geschadet" und die "Koalition wirklich belastet" hätten.
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Die arme Koalition, ihr armer Chef, könnte man jetzt sagen. Aber für Sarkasmus ist "die Sache" zu ernst. Markus Söder hat getan, was ein Markus Söder zu tun pflegt: Er hat sich für die Machtpolitik entschieden, für den Weg, von dem er sich die meisten Vorteile verspricht. "Söders Entscheidung hat weniger mit Fairness und mehr mit Kalkül zu tun", kommentierte meine Kollegin Sara Sievert.
Söders Kalkül könnte aufgehen. Zuletzt zeigte eine Umfrage, dass tendenziell mehr Deutsche gegen einen Rücktritt Aiwangers sind als dafür (39 zu 38 Prozent, 23 Prozent wollen sich nicht festlegen). Das bayerische Bierzelt dürfte noch deutlicher an Aiwangers Seite stehen, wie jüngste Jubel-Berichte nahelegen. Söder glaubt, sich nicht leisten zu können, die Freien Wähler so kurz vor der Wahl in eine Krise zu stürzen. Er hat sein Schicksal mit dem ihren verknüpft, als er eine Koalition mit den Grünen ausgeschlossen hat. Er braucht Aiwanger und die Freien Wähler auch nach der Wahl noch als Partner.
Markus Söders Entscheidung ist deshalb wohl die richtige Entscheidung für Markus Söder. Doch allen anderen sollte es nicht um Wahltaktik gehen, sondern um den Kern der Affäre, um die Frage also: Kann man Hubert Aiwanger glauben, dass er sich gebessert hat? Dass er bereut? Wirklich bereut, nicht nur, weil ihm die Sache gerade um die Ohren fliegt, sondern weil sie wirklich, wirklich schlimm ist?
Ich bin davon nicht überzeugt. Nicht wegen des Unsinns, den Aiwanger zwischendurch in irgendwelche Mikrofone geredet hat, die ihm unter die Nase gehalten wurden. ("Ich sag: seit dem Erwachsenenalter – kein Antisemit.") Das eigentlich Schlimme ist, dass er auch mit seinen wohlgewählten und vorbereiteten Sätzen nie den Eindruck erweckt hat, es wirklich verstanden zu haben. Aiwanger fehlt kein Kommunikationstraining, sondern Mitgefühl, Anstand, Rückgrat.
Markus Söder hat die Kriterien selbst formuliert, an denen man Aiwanger messen muss. "Auch wenn all die Sachen lang her sind, ist es wichtig, die Reue und die Demut zu zeigen", sagte Söder am Sonntagvormittag. "Ich finde, es ist nicht allein entscheidend, was man mit 16 sagt, sondern wie man als 52-Jähriger damit heute umgeht. Und wer ernsthaft bereut, der kann auch leichter auf Verzeihung hoffen." Nur hat Söder Aiwanger leider nicht an diesen Kriterien gemessen.
Bereut Hubert Aiwanger ernsthaft? Er hat um Entschuldigung gebeten, das schon. Nur war es auch in seinen vorbereiteten Stellungnahmen immer eine halbherzige, eine eingeschränkte Entschuldigung ohne jedes Eingeständnis konkreter Schuld. "Ich bereue, wenn ich durch mein Verhalten in Bezug auf das Pamphlet oder weitere Vorwürfe gegen mich aus der Jugendzeit Gefühle verletzt habe", schreibt er in seiner Antwort auf Söders 25 Fragen. Wenn ich Gefühle verletzt habe, formuliert er. Und: Vorwürfe.
In der Sache gesteht Aiwanger immer nur so viel ein, wie sich absolut nicht leugnen lässt. Er habe "als Jugendlicher auch Fehler gemacht, die mir heute leidtun", schreibt er an anderer Stelle. Was genau? Daran will sich Aiwanger angeblich nicht erinnern können. Zumindest nicht, wenn es Zeugen für seine "Fehler" geben könnte. Es fällt auf, dass er nur das kategorisch zurückweist, was im Privaten, in seinem Elternhaus stattgefunden haben muss: "Ich habe das Pamphlet nicht verfasst", sagte er in seinem vorbereiteten Statement am Donnerstag. Und: "Ich habe keine Hitlerreden vor dem Spiegel einstudiert."
Bei den Vorwürfen, für die es Zeugen gibt oder geben könnte, verlässt ihn sein Gedächtnis plötzlich wieder. "Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Hitlergruß gezeigt zu haben", sagte er. "Weitere Vorwürfe wie menschenfeindliche Witze kann ich aus meiner Erinnerung weder vollständig dementieren, noch bestätigen."
Umso erstaunlicher sind zwei andere Sätze in Aiwangers Antwort auf die 25 Fragen, die auch Markus Söder am Sonntag hervorhebt, um Aiwangers angebliche Läuterung zu belegen: "Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen", behauptet Aiwanger dort. So einschneidend, dass er sich nicht mal mehr daran erinnern kann, warum die Flugblätter in seinem Rucksack gelandet sind?
Wer ihm das alles glaubt, will es ihm gerne glauben.
Nun kann man mit viel gutem Willen argumentieren, dass es schwierig ist, von jemandem völlige Transparenz zu erwarten, wenn er sich selbst belasten müsste. Doch Reue und Demut könnte Aiwanger trotz seiner "Erinnerungslücken" zeigen. Es wäre genauso wichtig. Nur tut er das Gegenteil. Die Reue wird bei ihm zu Hohn, die Demut zum Angriff.
Statt seine Fehler wirklich als Fehler zu bereuen, beklagt er von Beginn an vor allem, dass sie in einer "politischen Kampagne" instrumentalisiert würden. In einem Interview mit der "Welt" steigerte er diese Opferpose ins Absurde, indem er behauptete: "In meinen Augen wird hier die Shoa zu parteipolitischen Zwecken missbraucht." Das sagt der Mann, der nicht ausschließen kann, Hitlergrüße gezeigt und Judenwitze gemacht zu haben. Und zwar nicht als Kind, sondern als Jugendlicher, als Fast-Erwachsener.
"Das war ein schmutziges Machwerk", rief Aiwanger noch am Sonntag von einer Wahlkampfbühne – und meinte damit nicht das Flugblatt, sondern die angebliche "Kampagne". Statt Reue und Demut gab es weiße Weste: "Wir haben ein sauberes Gewissen."
Deutlicher kann Aiwanger kaum zeigen, dass er sich mehr um sich selbst und seine politischen Problemchen der Gegenwart sorgt als um den Horror der Vergangenheit. Wer sich selbst als das größte Opfer sieht, der bereut seine Fehler nicht ernsthaft. Der Schlussstrich des Markus Söder – er darf deshalb kein Schlussstrich sein.
Termine des Tages
Politischer Frühschoppen auf dem Volksfest Gillamoos: In Niederbayern liefern sich die Politgrößen den traditionellen verbalen Schlagabtausch. CDU-Chef Friedrich Merz wird da sein, SPD-Chef Lars Klingbeil auch, Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann und FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Am genauesten werden dieses Jahr aber wohl die Auftritte von Markus Söder und Hubert Aiwanger beobachtet werden. Wie Söder nach seinem Schlussstrich weitermacht, wird mein Kollege Alexander Spöri berichten. Für wie viel Demut und Reue bei Aiwanger Platz ist, schreibt mein Kollege Tim Kummert auf.
Erste Sitzungswoche nach der Sommerpause: Im Bundestag geht es am Montag mit den Statements der Fraktionsvorsitzenden los. Es wird wohl ums liebe Geld gehen, denn in dieser Woche diskutieren die Parlamentarier das erste Mal über den Bundeshaushalt 2024. Wo darf's noch ein bisschen mehr sein?
Putin trifft Erdoğan: Russlands Präsident empfängt den türkischen Staatschef in Sotschi. Bei dem Treffen soll es um einen Neustart des von Russland ausgesetzten Abkommens gehen, das bis vor einigen Wochen ukrainische Getreideexporte über das Schwarze Meer sicherte.
Afrika-Gipfel in Kenia: In Nairobi treffen politische Entscheider aus Afrika zusammen, um mit einer "Nairobi-Deklaration" den UN-Klimagipfel im Dezember vorzubereiten.
Besuch für Annalena Baerbock: Die Außenministerin empfängt ihre rumänische Amtskollegin Luminiţa Odobescu.
Das historische Bild
"Hier spricht Edgar Wallace", dieser Ausspruch zog seit 1959 Millionen von Menschen in die Kinos. So erfolgreich waren die Filme, dass selbst die Macher es nicht glauben wollten. Mehr lesen Sie hier.
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Egal ob sie "Idalia", "Saola" oder "Haikui" heißen: Wirbelstürme werden durch die Klimakrise immer intensiver. Expertin Michaela Koschak erklärt in ihrer Videokolumne, wie das auch das Wetter in Europa und Deutschland beeinflusst.
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Wenn drei Ampelparteien sich streiten, freut sich die AfD. Die Partei ist nicht nur für die Regierung ein Problem, auch in der t-online-Nutzerschaft sorgt sie für Zündstoff. Ein Mitglied der Linken und eine konservative Wählerin haben unterschiedliche Meinungen.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Ihr Johannes Bebermeier
Politischer Reporter
Twitter: @jbebermeier
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Mit Material von dpa.
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