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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Jetzt müssen wir uns wappnen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
nachdem die Welt am Wochenende für rund 36 Stunden den Atem anhielt, scheint die Rebellion in Russland nun vorerst abgewendet. Der Chef der brutalen Wagner-Truppen Jewgeni Prigoschin, den Wladimir Putin in einer Rede an die Nation als Verräter bezeichnete, soll nach Belarus verschwinden und so seiner Strafe entgehen.
Es ist ein verwirrender Deal, über den sich Experten jetzt den Kopf zerbrechen. Wer ist geschwächt? Prigoschin oder Putin? Wer hat verloren? Fest steht momentan nur eins: Der russische Präsident ist noch immer im Amt und er führt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch nach 16 Monaten weiter fort.
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Darauf zu hoffen, dass wir mit dieser kurzen, aber heikel wirkenden Rebellion bereits das nahe Ende Putins sehen, ist aus Sicht des Westens und vor allem der Ukraine verständlich. Der vorläufige Ausgang dieser Geschichte zeigt allerdings:
Egal, wie chaotisch uns der Vorgang erscheinen mag, Jewgeni Prigoschin hat seinen Aufstand vorerst aufgegeben. Für Putin war das womöglich trotzdem ein Warnschuss.
Die westliche Zurückhaltung
Aber auch für den Rest der Welt sind die Vorgänge innerhalb Russlands eine Lektion. Insbesondere der Westen muss sich spätestens jetzt auf jedes erdenkliche Szenario vorbereiten. Was im Hoffen auf ein baldiges Ende der Macht Putins immer wieder untergeht: Was geschieht, wenn die Nuklearmacht Russland zerfällt – oder deren Regierung?
Das Schweigen des Westens am Wochenende war diesbezüglich überdeutlich. US-Präsident Joe Biden telefonierte zwar mit den Staats- und Regierungschefs der sogenannten E3, also mit Rishi Sunak (Großbritannien), Emmanuel Macron (Frankreich) und Olaf Scholz (Deutschland). Mehr als dünne Statements gaben das Weiße Haus, der Élysée-Palast, 10 Downing Street und das Bundeskanzleramt aber nicht heraus. "Die Staats- und Regierungschefs erörterten die Lage in Russland. Sie bekräftigten auch ihre uneingeschränkte Unterstützung für die Ukraine", hieß es aus Washington.
Aus Sicht der Diplomatie ist die Zurückhaltung in einer derart heiklen Lage mitten im Krieg nicht nur nachvollziehbar, sondern auch notwendig. Jegliche offizielle westliche Kommentierung der Vorgänge in Russland hätte Wladimir Putin und seiner Propaganda womöglich geholfen. Nur der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj äußerte sich. "Die Schwäche Russlands ist offensichtlich", schrieb er in Bezug auf das Chaos.
Nachdem die Rebellion erstickt war, legte er nach: "Die Welt sollte keine Angst haben. Wir wissen, was uns schützt. Unsere Einheit." Selenskyj nahm damit Bezug auf die offensichtlich vollkommen fehlende Berechenbarkeit Russlands.
Aber Einheit alleine wird womöglich nicht mehr ausreichen. Was passieren könnte, sollte Putins Regime eines Tages fallen, dazu fehlt uns vielfach die Vorstellungskraft. Dabei ist das ein Mangel, der sich noch als gefährlich erweisen könnte.
Bürgerkrieg, Revolution und Chaos
Denn der vereitelte Aufstand von Prigoschin scheint Annahmen zu bestätigen: Laut einer Umfrage der amerikanischen Denkfabrik "Atlantic Council" von Anfang dieses Jahres rechnet unter 167 internationalen Politikexperten fast die Hälfte (46 Prozent) damit, dass Russland bis 2033 entweder zu einem sogenannten Failed State (zu Deutsch: Gescheiterter Staat) wird oder auseinanderbricht.
Jeder Fünfte von ihnen (21 Prozent) geht sogar davon aus, dass Russland das Land auf der Erde ist, das am wahrscheinlichsten zu einem "Failed State" wird, noch weit vor Afghanistan. Als wahrscheinliche Gründe nennen die Experten: eine Revolution, einen Bürgerkrieg, politischen Zerfall und andere innenpolitische Gründe. Höchste Zeit also, sich damit auseinanderzusetzen.
Sollte Putin eines Tages sterben oder aus dem Amt getrieben werden, würde womöglich ein langwieriger Machtkampf zwischen Ultranationalisten wie Jewgeni Prigoschin oder dem tschetschenischen Anführer Ramsan Kadyrow und den konservativen Moskauer Eliten folgen.
Aufgrund der immer weiter wachsenden Armut könnte es auch in der Bevölkerung zu Aufständen kommen. Ein Bürgerkrieg in dem multiethnischen Riesenstaat gilt sowohl unter Pessimisten als auch unter Optimisten als kaum vermeidbar, auch weil Putin zur Sicherung seiner Macht als Diktator mächtige Privatarmeen wie die Gruppe Wagner entstehen ließ.
Über mehr als zwei Jahrzehnte wurde der russische Staat unter Putin immer mehr auf seine Person zugeschnitten und zentralisiert. Es ist schwer vorstellbar, was das System noch zusammenhalten könnte, wenn er plötzlich nicht mehr an der Spitze stünde. Man darf sich nicht in naivem Wunschdenken verlieren. Man darf aber auch nicht die Augen verschließen vor dem, was uns bevorstehen kann. Ein Zusammenbruch Russlands würde die ganze Welt betreffen.
In seiner Analyse mit dem Titel "Failed State: Ein Leitfaden zum Zerfall Russlands" schreibt der polnischstämmige Außenpolitikexperte Janusz Bugajski: "Der Untergang der jetzigen Russischen Föderation wird wahrscheinlich nicht einseitig verlaufen, anders als jener der Sowjetunion, als die fünfzehn Unionsrepubliken fast automatisch zu unabhängigen Staaten wurden."
Der Zerfall des Staates werde wahrscheinlich "chaotisch, langwierig, andauernd, konfliktreich und zunehmend gewalttätig sein". Dies könne zur vollständigen Trennung einiger Bundeseinheiten und zur Zusammenlegung anderer zu neuen föderalen oder konföderalen Vereinbarungen führen.
Pflicht zur Vorbereitung
Für die Ukraine wäre ein solches Szenario womöglich zunächst hilfreich. Für den Rest der Welt würde es bedeuten: Ein seit Jahrzehnten bestehender Machtblock würde mit einem Mal zerfallen. Es gibt pessimistische Szenarien, in denen China dann auf den Plan treten und zumindest weite Teile des Landes zu Vasallen-Regionen machen könnte. Selbst optimistische Szenarien weisen darauf hin: Ein Zerfall Russlands würde eine dramatische geopolitische Dynamik entfalten.
Der Westen hat gute diplomatische Gründe dafür, sich offiziell nicht in die inneren Angelegenheiten Russlands einmischen zu wollen. Einen Regimewechsel herbeizureden, wie es dem US-Präsidenten Joe Biden schon passiert ist, kann gefährliche Folgen haben. In Wahrheit beeinflussen bereits die Waffenlieferungen und die Wirtschaftssanktionen auch die inneren Verhältnisse in Russland. Dafür braucht es gar keine CIA-Verschwörungstheorien.
Sich kommunikativ zurückzuhalten, entbindet unsere Regierungen aber nicht von der Pflicht, Vorkehrungen zu treffen. Sollte das größte Flächenland der Erde politisch kollabieren, entstünde mindestens eine so heikle Situation wie während des Ersten Weltkrieges, als das Zarenreich unter der Revolution 1917 unterging. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wäre das Ende der Russischen Föderation erneut eine historische Herausforderung.
Neue Bündnisse schließen
Wenn es wirklich dazu kommt, dürfen die Fehler von damals nicht wiederholt werden. Dem ukrainischen Präsidenten muss man recht geben, wenn er fordert: "Die Welt sollte keine Angst haben." Sich von der Furcht vor einem Zusammenbruch der russischen Nuklearmacht leiten zu lassen, darf jedenfalls nicht noch einmal passieren.
Dieses Mal müssen die Sicherheitsbedenken der Anrainerstaaten berücksichtigt werden. Sie dürfen nicht verkauft werden. Wie etwa die Nuklearwaffen der Ukraine beim Budapester Memorandum im Jahr 1994. Dieses Mal muss der Westen auf die Warnungen der baltischen, aber auch der zentralasiatischen Staaten und der Länder im Kaukasus hören. Um das zu erreichen, muss die von Selenskyj beschworene Einheit aber noch weit über die des bisherigen Bündnisses für die Ukraine hinausgehen.
Nicht ohne Grund lud US-Präsident Biden den indischen Präsidenten Narendra Modi vergangene Woche zu einem mehrtägigen Staatsempfang ein, samt Rede vor den Abgeordneten des US-Kongresses. Mit seinen 1,426 Milliarden Menschen hat Indien im April dieses Jahres die Volksrepublik China als bevölkerungsreichstes Land der Erde überholt. Biden ist auf dem richtigen Weg: Gemeinsame Interessen gegen China und Russland auszuloten, ist ein wichtiger erster Schritt unter Demokratien – so unterschiedlich sie auch funktionieren mögen.
Die Rebellion in Russland ist abgewendet – zum Glück. Denn wir wären darauf (noch) nicht vorbereitet.
Was wichtig wird
In Luxemburg treffen sich am Montag die EU-Außenminister und besprechen die aktuellen Entwicklungen in Russland. Annalena Baerbock hatte wegen des Treffens ihre geplante Südafrikareise um einen Tag verkürzt. Die deutsche Außenministerin wird nun am Dienstag in der Hauptstadt Pretoria erwartet. Vorab lobte sie die Friedensinitiative des Landes zum Ukraine-Krieg.
Bevor Boris Pistorius diese Woche nach Washington fliegt, um seinen US-Amtskollegen Lloyd Austin zu treffen, reist der Bundesverteidigungsminister am Montag noch nach Litauen. Dort wird Pistorius zusammen mit dem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und den Botschaftern des Nordatlantikrats die groß angelegte Militärübung "Griffin Storm" verfolgen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz empfangen den Nobelpreisträger und Präsidenten des südostasiatischen Landes Osttimor, José Ramos-Horta. Das Land gilt als einer der wichtigen strategischen Partner im Pazifik.
Was lesen?
Er singt "Layla", aber erntet keinen dramatischen Shitstorm. Er kritisiert die CDU-Spitze und lächelt dabei. Meine Kollegen Kati Degenhardt und Sven Böll haben mit dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther (CDU) über den Zustand seiner Partei und die Wahl der richtigen Töne gesprochen.
Es läuft gerade nicht gut für die Grünen. Wie wird es wieder besser? Diese Frage reißt in der Partei alte Gräben auf. Im Zentrum steht eine Strategie des Vizekanzlers, erklärt mein Kollege Johannes Bebermeier.
Wie sich Australien in den vergangenen Jahren aus der Abhängigkeit von China befreit hat, ist ein Beispiel, von dem Deutschland lernen kann, schreibt mein Kollege Patrick Diekmann.
Ohrenschmaus
Wir leben in einer Zeit, in der es schwerfällt, den Überblick zu behalten. Von der Auswahl des richtigen Shampoos bis zu künstlicher Intelligenz – alles hat das Potenzial, uns mit Desinformation zu überfordern. Wäre man da nicht gerne ein Superheld?
Die beruhigende und zugleich beunruhigende Erkenntnis: Auch Superhelden haben Probleme mit Komplexität. Im neuen Spider-Man-Film: "Across the Spider-Verse" haben es die Charaktere nämlich gleich mit mehreren Universen und unterschiedlichen Zeitsträngen zu tun. Ich empfehle nicht nur den humorvollen Film, sondern auch den Titelsong "Am I dreamin" von Metro Boomin, A$AP Rocky, Roisee. (Noch nie von denen gehört? Egal, einfach anhören.)
Wer sich stattdessen nach der guten alten Zeit zurücksehnt, dem lege ich heute den Titelsong zur einstigen ZDF-Fernsehserie "Freunde fürs Leben" ans Herz. Der 2010 verstorbene Sänger hieß Mathou, sein Lied "You Never Walk Alone".
Zum Schluss
Ihr
Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns
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Mit Material von dpa.
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