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Putins tückische Taktik: Die Gegenoffensive der Ukraine könnte im Sande verlaufen


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Es knirscht

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.06.2023Lesedauer: 6 Min.
Wladimir Putin: Russlands Alleinherrscher stellt sich offenbar auf einen langen Krieg ein.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Alleinherrscher stellt sich offenbar auf einen langen Krieg ein.

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es ist lang her, es war weit weg: Anderthalb Jahre hatte der Krieg schon gedauert, und es sah schlecht aus für die chinesischen Truppen, die sich gegen die japanischen Angreifer zur Wehr setzten. Bis auf wenige Ausnahmen hatte der Krieg nur eine Richtung genommen, und für Chinas Soldaten hieß sie: rückwärts. Sie waren schlecht ausgerüstet und genauso schlecht ausgebildet, eher ein zusammengewürfelter Haufen als eine disziplinierte Armee – bestehend aus Einheiten, die einander misstrauten und sogar manchmal aufeinander statt auf den Gegner losgingen. Mit so einer Truppe war nicht viel zu erreichen. Und sobald man sich der schwächelnden Industrie hinter der Front zuwandte, war klar, dass sich am Kräfteverhältnis der Kontrahenten so schnell nichts ändern würde. Im Winter 1938 war das, damals tobte in Ostasien ein brutaler Kampf, in dem die japanischen Divisionen mit ihren modernen Waffen und ihrer überlegenen Organisation das Heft nicht aus der Hand gaben. Selbst China wohlgesonnene Beobachter glaubten nicht daran, dass sich das Blatt noch einmal wenden würde.

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Auf der anderen Seite des Erdballs nahm das Inferno nur wenig später seinen Lauf. In Europa brach Hitler den Krieg vom Zaun; dort sah nach anderthalb Jahren die Bilanz so aus: Von Frankreich bis Norwegen hatte die deutsche Wehrmacht die Schlachten gewonnen, große Teile Europas waren besetzt, Großbritannien isoliert. Eine Wende war nicht abzusehen. Nichts deutete zu diesem Zeitpunkt darauf hin, dass einige Jahre später Nazideutschland in Trümmern liegen und die vermeintlich überlegenen Truppen geschlagen sein würden – genauso wenig wie in Asien, wo das imperialistische Japan ein ähnliches Schicksal ereilte.

Die näheren Umstände dieser beiden Kriege unterschieden sich dramatisch voneinander, und von späteren Konflikten erst recht. Im 21. Jahrhundert haben die Staaten des Westens zunächst asymmetrische Kriege wie den in Afghanistan ausgetragen: siegreich gegen die Taliban in den ersten Jahren, abgezogen in einem Desaster am bitteren Ende. Eine ähnliche Geschichte ließe sich aus dem Irak erzählen. Ob Stellungs- oder Guerillakrieg, gemein haben die Gefechte und Schlachten der Vergangenheit nur eines: Wie die Dinge nach ein, zwei Jahren stehen, sagt nichts darüber aus, wie der Krieg enden wird.

Jetzt ist ein guter Moment, um sich daran zu erinnern. Der Krieg unserer eigenen Tage, in der Ukraine, drängt gerade wieder mit Macht ins öffentliche Bewusstsein zurück. Die Zerstörung des Staudammes bei Cherson sorgt flussabwärts für Verwüstung – die genauen Folgen sind noch nicht abzusehen. Zugleich hat die lang erwartete ukrainische Offensive offenbar begonnen. Die Nachrichten darüber werden sich bald häufen, verbunden mit immer mehr Details. Da kann man schnell den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.

Video | Satellitenbilder zeigen Ausmaß der Dammbruch-Katastrophe
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Quelle: t-online

Die Erwartung, was der Krieg noch mit sich bringt, bewegt sich in einem immer engeren Rahmen. Natürlich weiß niemand, wie erfolgreich, mittelmäßig oder ergebnislos die ukrainische Sommeroffensive verlaufen wird. Aber dass die Russen von den Rändern der Ukraine nicht wieder in ihr Zentrum vorstoßen können, gilt gemeinhin als gesetzt. Niemand glaubt, dass Putins Soldaten noch mal vor Kiew stehen.

Tatsächlich sieht es danach im Moment überhaupt nicht aus. Aber dass derartige Wendungen in den kommenden Jahren auszuschließen wären, ist Wunschdenken. Mit den historischen Vorbildern kann man die Straße pflastern: Kriege, die sich lange hinziehen, enden oft ganz anders als erwartet. Kriegsparteien – auch so verkorkste wie die Russen – lernen dazu. Die industrielle Basis, die vom Kampfjet bis zur Patrone das Rohmaterial des Krieges produziert, verändert sich. Der Wind kann sich drehen. Oder auch nicht. Wenn die Geschichte eine Lehre für uns bereithält, dann die, dass die Zukunft offen und unsere Gewissheiten fehl am Platz sind.

Welche Schlussfolgerungen ziehen wir daraus? Ist das eine Erkenntnis, die diesen Namen verdient oder nur ein Spruch fürs Poesiealbum? Auf alle Fälle hat die geschichtliche Weisheit ihre Fans: Einer von ihnen wohnt im Kreml. Wladimir Putin hat im Verlauf des Krieges immer wieder erkennen lassen, dass er ein langfristiges Spiel spielt. Und man muss ihm bescheinigen, dass er sich mit seiner Hoffnung auf eine militärische Wende nicht nur an einen Strohhalm klammert.

Die Isolierung Russlands ist fehlgeschlagen: Ölexporte brummen, Sanktionen werden umgangen, Kriegsmaterial findet noch immer den Weg nach Russland – zum Beispiel über die Türkei oder den Kaukasus. Für viele Staaten in Afrika, Asien und Südamerika, darunter Schwergewichte wie Brasilien und Indonesien, bleibt Russland ein enger Partner. Xi Jinping in Peking verspricht Genosse Wladimir grenzenlose Freundschaft. Die Puste geht dem Kreml-Verbrecher so schnell nicht aus. Der Teil der russischen Wirtschaftskraft, der für den Krieg aufgewendet wird, ist noch immer erstaunlich begrenzt. Putin kann warten. Zum Beispiel auf die Rückkehr seines Kumpels Donald Trump ins Weiße Haus.

Der Westen hingegen scheint weniger geschichtsfest zu sein. Verlässt sich das Bündnis zur Unterstützung Kiews ein bisschen zu sehr auf die vermeintliche Gewissheit, dass die Ukraine nicht mehr unterliegen kann? Der Vorwurf steht jedenfalls im Raum. Von Verteidigungsexperten ist in kritischem Ton zu hören, dass die Unterstützung der Ukraine von der Hand in den Mund lebe und sich zu sehr von Kampagne zu Kampagne hangele. Vor der Sommeroffensive haben Kiews Verbündete alles, was da ist, in den Ring geworfen – aber danach? Zu wenig Langfristplanung, zu viel auf Sicht. Sagen manche.

Da ist durchaus etwas dran, aber ganz fair ist die Kritik nicht. Denn es tut sich was. Die EU hat in einem Kraftakt die gemeinsame Beschaffung von Munition in Gang gebracht – ähnlich wie damals bei den Impfstoffen. Natürlich gab es darum erst mal Zoff, was das Vorhaben – man muss schon fast sagen: erwartungsgemäß – verzögert hat. Die Bilanz ist vielerorts gemischt. Deutschland liefert in erheblichem Umfang Material an die Ukraine. Auch mit den Bestellungen zur Reanimierung der Bundeswehr geht es mittlerweile etwas besser voran. Andererseits redet die neue Leiterin des notorisch trägen Beschaffungsamtes die Lage schön: "Die Probleme sind mit der Mitteilung des Verteidigungsministers heute gelöst worden", verkündet sie ernsthaft (hier zum Staunen im Video). Das lässt für die dringend notwendigen Reformen nicht unbedingt hoffen.

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Immer wieder knirscht es, im Großen wie im Kleinen. Die meisten Ukrainer, die derzeit an deutschen Leopard-Panzern ausgebildet werden, haben null militärische Vorerfahrung. Also heißt es zunächst Dienstgrade büffeln. Ihre eigenen Waffen müssen sie in den deutschen Kasernen in den Spind stellen. Erst mal verplempern sie kostbare Zeit für die Einweisung in deutsche Gewehre und Pistolen – weil ihre Kalaschnikows im Regelwerk für deutsche Schießanlagen nicht vorgesehen sind. Also alles wie immer. Die Erkenntnis, dass der Gang der Geschichte keine Vorherbestimmung kennt und man den Ausgang des Krieges in der Ukraine nicht als gegeben abhaken darf, hat sich leider noch nicht überall durchgesetzt. Das ist ziemlich fahrlässig.


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Zum Schluss

Die Bundeswehr entdeckt ihr Klimagewissen.

Ich wünsche Ihnen einen luftigen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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