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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Lassen Sie sich nicht für dumm verkaufen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es sind ja oft die beiläufigen Bemerkungen, die am meisten über einen Menschen oder eine Situation verraten. Das ist in der Politik nicht anders als überall sonst. Manchmal wird es sogar besonders interessant, wenn ein Gespräch eigentlich schon vorbei ist. So wie am Sonntagvormittag im Deutschlandfunk.
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Dort war der Vizekanzler Robert Habeck zum Interview der Woche zu Gast. Und als der Moderator nach 25 Minuten das Gespräch beenden wollte, kam es zu folgendem Dialog:
Habeck: Das ging aber schnell vorbei.
Moderator: Die Zeit ist rum.
Habeck: Ihre. Aber nicht meine.
Ein Scherz natürlich. Nur kommen Scherze niemals aus dem Nichts. Sie brauchen einen Bezug zur Wirklichkeit, sonst versteht sie niemand. Bei Habeck besteht diese Wirklichkeit gerade vor allem aus Krisen. Mit seinem Heizungsgesetz hat der einst so beliebte Vizekanzler viele Menschen in Deutschland gegen sich aufgebracht. Und nun frisst die Affäre um einen Spitzenjob für den Trauzeugen von Habecks wichtigstem Staatssekretär weiteres Vertrauen.
Habeck mag zwar beschädigt sein, aber längst noch nicht am Ende: So will er verstanden werden. Seine Zeit soll noch nicht rum sein. Das wurde auch immer wieder deutlich, als ich vergangene Woche mit ihm unterwegs war und ihn dabei beobachtet habe, wie er sich durch seine schwierige Lage manövriert.
Er will noch was erreichen. Doch damit das funktioniert, muss er die Trauzeugenaffäre loswerden. Nur ist das leichter gesagt als getan. Viele Journalisten recherchieren gerade, ob es weitere Verfehlungen gab. Medien kontrollieren die Mächtigen. Das ist unsere wichtigste Aufgabe.
Dabei hilft es jedoch, auch die andere Seite zu verstehen. Für Habeck und seine Leute ist die Lage heikel, selbst wenn nichts Neues mehr herauskommen sollte. Denn ob Politiker zurücktreten müssen, hängt nicht immer nur von den Fehlern selbst ab. Oft ist der Umgang mit der Krise genauso entscheidend oder sogar noch wichtiger. Das Problem ist nur, dass über Krisenkommunikation zwar viele Menschen viele Bücher schreiben. Doch die Wahrheit ist: Jede Krise ist anders, wie es ausgeht, hat man eigentlich nicht wirklich in der Hand. Einen Masterplan zur Krisenbewältigung gibt es nicht. So ist es auch jetzt bei Habeck.
Trotzdem können Politiker natürlich etwas tun, um möglichst wenig lädiert aus solchen Krisen herauszukommen. Habeck etwa hat sich früh dafür entschieden, die Sache mit dem Trauzeugen als "Fehler" zu bezeichnen, den man "heilen" könne, indem das Auswahlverfahren für den Posten neu aufgesetzt werde. Ein Schuldeingeständnis also, verbunden mit der Perspektive auf Besserung. Damit hat er den Klassiker vermieden, über den Politiker sonst gerne stolpern: nämlich einen eindeutigen Fehler so lange zu leugnen, bis sie sich ihren Quatsch selbst nicht mehr glauben.
Ehrlichkeit reicht aber meist nicht aus. Zumindest nicht, um eine Affäre schnell loszuwerden. Und das muss Habeck, wenn er sein Heizungsgesetz verteidigen will. Politiker sprechen in solchen Situationen gerne davon, dass sie wieder "in die Offensive" kommen müssen.
Wie das funktionieren kann, hat das Werbegenie Don Draper in der Fernsehserie "Mad Men" formuliert. Als einer seiner Kunden Probleme mit dem Widerstand in der Öffentlichkeit hatte, riet Don ihm: "If you don’t like what is being said, change the conversation." Was frei übersetzt so viel bedeutet wie: "Wenn dir nicht gefällt, was sie sagen, versuche zu ändern, worüber gesprochen wird." Man könnte auch sagen: Die wollen ablenken.
Genau das versuchen Robert Habeck und seine Grünen jetzt auch. Dafür lancierte die Grünen-Bundestagsfraktion am Freitag eine knallige Forderung in der Heizungsdebatte. Mit bis zu 80 Prozent wollen sie klimaneutrale Lösungen künftig gerne fördern. Und damit deutlich stärker als bisher und vor allem sozial gestaffelt nach Einkommen. Habeck und sein Wirtschaftsministerium selbst legten am Freitag einen Plan für einen Industriestrompreis vor, der die Kosten für energieintensive Unternehmen auf 6 Cent begrenzen soll.
Beide Vorstöße sind hochumstritten. Die FDP will von höherer Heizungsförderung nichts wissen, und auch im Kanzleramt zeigen sie sich skeptisch, ob eine soziale Staffelung unbürokratisch überhaupt möglich ist. Den Industriestrompreis will die FDP auch nicht. Sie fürchtet, dass der Mittelstand benachteiligt würde, und sorgt sich wie bei der Heizungsförderung wegen der Kosten. Kanzler Olaf Scholz scheint auch nicht gerade begeistert zu sein.
Ob die höhere Heizungsförderung und der Industriestrompreis Wirklichkeit werden, ist damit sehr ungewiss. Doch gerade deshalb eignen sich beide Forderungen für Habeck und die Grünen in dieser Situation so gut. Denn nicht nur die Forderungen selbst, sondern auch jede Gegenrede löst weitere Berichte aus. Je mehr Streit, desto besser für Habeck. Die öffentliche Aufmerksamkeit zieht ein wenig weiter, genau, wie die Grünen das geplant hatten.
Und sollte das noch nicht reichen, hat Habeck gleich noch eine weitere Debatte vorbereitet. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk am Sonntag sagte er, dass er beim Startdatum für das Einbauverbot fossiler Heizungen "maximal pragmatisch" sei. Und offenbar gar nicht auf 2024 beharrt, sondern sich auch 2025 vorstellen kann.
Was war noch mal mit dem Trauzeugen?
Nein, ganz so vergesslich sind wir natürlich nicht. Man muss solche Strategien auch gar nicht für einen Skandal halten. Ich würde sogar sagen, es ist trotz allem gut, dass über die drei grünen Vorschläge geredet wird. Aber es ist ebenso wichtig, diese polit-medialen Mechanismen zu kennen. Um sich nicht für dumm verkaufen zu lassen.
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Zum Schluss
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche. Am Dienstag schreibt wieder Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße
Ihr Johannes Bebermeier
Politischer Reporter
Twitter: @jbebermeier
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Mit Material von dpa.
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