Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Dann geht in Deutschland das Licht aus
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wir erleben ein typisches deutsches Phänomen: In Krisenzeiten denken viele Mitbürger nicht als Erstes daran, was sie selbst zur Lösung beitragen können, sondern rufen nach Hilfe vom Staat. Herr, lass Manna regnen!
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Ob Grüne, Rote, Schwarze oder Farblose, alle halten die Hände auf. Finanzminister Christian Lindner (als Gelber der Staatsschröpfung eher unverdächtig) müssen die Ohren klingen, so viele Bittsteller haben in den vergangenen Wochen an seine Tür geklopft. Kabinettskollegen, Bundestagsabgeordnete, Ministerpräsidenten, Wirtschaftslobbyisten, Branchenvertreter, Sozialverbände, Gewerkschafter: Alle greifen nach dem staatlichen Füllhorn. Mehr Geld für die Bundeswehr und für den Klimaschutz, mehr Geld für Schulen, Studenten und Kitas, mehr Geld für Sozialwohnungen, Krankenhäuser und Pflegeheime, mehr Geld für Kinder, Alleinerziehende und Rentner, mehr Geld für den Straßenbau und die Bahn, mehr Geld für die Polizei und den Grenzschutz, mehr Geld für Flüchtlinge und Entwicklungshilfe, mehr Geld für Waffen und Munition in der Ukraine, und, und, und. Wollte der Finanzminister all die mannigfachen Wünsche erfüllen, bräuchte er ein Vielfaches der 476 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt.
Auf den ersten Blick mag jedes Anliegen gerechtfertigt sein. Und natürlich hält jeder seines für das Wichtigste. Das ist politisch und menschlich verständlich – in der Summe jedoch unverantwortlich.
Wer Geld ausgeben will, muss es erst erwirtschaften: Diese simple Wahrheit vergessen leider viele, die vor Mikrofonen und in Leitartikeln Milliardenbeträge für allesmögliche verlangen. Erst recht in Zeiten steigender Zinsen: Wer da zu tief in die roten Zahlen rutscht, raubt künftigen Generationen den Gestaltungsspielraum. Das wäre weder fair noch klug.
Deutschland zählt zu den wohlhabendsten Staaten der Welt. Es gibt nicht viele Länder, die zusätzlich zu ohnehin üppigen Ausgaben auch noch eine Gaspreisbremse, eine Strompreisbremse, ein Deutschlandticket, den Windkraftausbau, Rentenerhöhungen und Corona-Hilfen für Bedürftige finanzieren können.
Aber irgendjemand muss den Wohlstand erwirtschaften. Das sind neben den Arbeitnehmern vor allem die Unternehmen, sowohl die Industriekonzerne als auch der Mittelstand. Nur wenn es den Firmen und Betrieben gut geht, geht es Deutschland gut. Unternehmer halten den Laden am Laufen und helfen so, das Staatskonto jeden Monat zu füllen. Das sollten auch jene Zeitgenossen anerkennen, die ihre Berufung darin sehen, fortwährend mehr Geld zu fordern oder sich über den bösen Kapitalismus zu ereifern. Ohne Moos nix los. Verliert die Wirtschaft den Anschluss, gehen hierzulande die Lichter aus. Deshalb ist die Hannover Messe so wichtig, auf der diese Woche 4.000 Unternehmen Neuheiten aus dem Maschinen- und Anlagenbau, der Elektro- und Digitalindustrie sowie der Energiewirtschaft vorstellen. Heute beehrt Wirtschaftsminister Robert Habeck (ein Grüner, immerhin) die Firmenvertreter.
Sie haben die Unterstützung dringend nötig. Zwar konnten viele Dax-Unternehmen im vergangenen Jahr Rekordgewinne vermelden, doch der Mittelstand ächzt unter den Folgen der Corona-Lockdowns und des Ukraine-Kriegs: zeitweise unterbrochene Lieferketten, teure Energie, Inflation, sparsame Kunden. Hinzu kommen die deutschen Dauerprobleme, die sich Jahr für Jahr verschärfen: der Fachkräftemangel, die überbordende Bürokratie, zähe Genehmigungsverfahren und die mangelhafte digitale Infrastruktur. So ballen sich neue und altbekannte Herausforderungen zu einem toxischen Gemisch, das den deutschen Wirtschaftsmotor ins Stottern bringt. "Die wirtschaftliche Dynamik in unserem Land ist aktuell noch ausgesprochen gering", sagt Industrieverbandschef Siegfried Russwurm. Im Vergleich zu 2021 und 2022 rechnet er in diesem Jahr mit deutlich geringeren Exporten – entgegen dem internationalen Trend: "Erneut verlieren wir Weltmarktanteile. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schwindet."
Finanzkrise, Schuldenkrise, Flüchtlingskrise, Coronakrise: Deutschland hat die Stürme der vergangenen Jahre vergleichsweise glimpflich überstanden, weil immer ausreichend Geld im Staatssäckel war, um die schlimmsten Schäden mit Milliarden zu heilen. In Zukunft wird das schwieriger, allein der Klimawandel dürfte Unsummen verschlingen. Doch schon in 15 Jahren wird es mehr Rentner als Arbeitnehmer geben. Immer weniger Menschen werden immer mehr Leistung erbringen müssen. Das gelingt nur, wenn die Wirtschaft stark bleibt, statt von bürokratischen Vorschriften zerrieben und von hohen Kosten geschröpft zu werden.
"In den vergangenen Jahren ist so viel liegengeblieben. Aber das holen wir jetzt auf", hat Olaf Scholz auf der Messe in Hannover versprochen. Am Umbau der Energieversorgung hat er das mit plastischen Zahlen verdeutlicht: Deutschland muss fünf Windräder, Solaranlagen auf einer Fläche von 40 Fußballfeldern, 1.600 Wärmepumpen und vier Kilometer Übertragungsnetze errichten – täglich. "Das wird ein Kraftakt", sagt der Kanzler.
Das kann man wohl sagen. Zugleich ist es eine große Chance, das Land im Eiltempo zu modernisieren, erfolgreiche Technologien zu exportieren und den Wohlstand zu erhalten. Gelingen wird das aber nur, wenn möglichst viele Leute mitmachen – und nicht als Erstes fragen, was der Staat für sie tun kann. Sondern ausnahmsweise mal, was sie für den Staat tun können.
Grundsätzliches aus Karlsruhe
Über das Ziel sind sich alle einig: Der Bundestag soll kleiner werden. Obwohl das Wahlgesetz eine Richtgröße von 598 Abgeordneten vorsieht, wächst das Parlament seit Jahren, derzeit hat es 736 Sitze. Der Grund: Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate über die Erststimmen, als ihr nach den Zweitstimmen Sitze zustehen, bekommt sie Überhangmandate. Und damit das die Mehrheitsverhältnisse nicht durcheinanderbringt, erhalten die anderen Fraktionen Ausgleichsmandate. So wurden es mehr und mehr.
Um Abhilfe zu schaffen und die Sitze auf 630 zu begrenzen, verständigte sich die Ampelkoalition im März auf eine Wahlrechtsreform: Sowohl die Überhangmandate als auch die Grundmandatsklausel sollen wegfallen. Diese ermöglicht es bisher Parteien, auch dann in den Bundestag einzuziehen, wenn sie unter fünf Prozent der Zweitstimmen geblieben sind – nämlich dann, wenn sie über die Erststimmen drei Direktmandate gewonnen haben. Von dieser Klausel profitierte bei der letzten Wahl die Linkspartei, aber auch für die CSU kann sie relevant werden – weswegen die beiden Kleinparteien eine Verfassungsklage ankündigten.
Wenn heute das Bundesverfassungsgericht über die Wahlrechtsreform verhandelt, geht es – Achtung! – aber gar nicht um die Ampelpläne. Vielmehr wollen die Richter ein von der schwarz-roten Koalition im Jahr 2020 durchgesetztes, etwas milderes Wahlgesetz überprüfen, gegen das die damaligen Oppositionsfraktionen Grüne, Linke und FDP geklagt hatten. Deren Antrag auf Aussetzung des vermeintlich obsoleten Verfahrens wiesen sie mit Hinweis auf das "öffentliche Interesse" ab.
Diese etwas bizarre Gemengelage lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Die Richter wollen etwas Grundsätzliches zum Wahlrecht feststellen, das auch für ein mögliches zweites Verfahren von Bedeutung ist.
Machtkampf im Sudan
Seit drei Tagen dauern die schweren Kämpfe im Sudan an. Rauschschwaden ziehen über die Hauptstadt Khartoum, die Zahl der getöteten Zivilisten liegt Ärzten zufolge bei bei mindestens 100, die der Verletzten wahrscheinlich weit über 1.000. In dem Konflikt stehen sich die Soldaten der sudanischen Armee, befehligt von General Abdul Fattah al-Burhan, und die paramilitärische Gruppe "Rapid Support Forces" (RSF) unter dem Kommando des Warlords Mohamed Hamdan Daglo gegenüber. Seit dem Sturz des Langzeitdiktators Omar al-Baschir vor vier Jahren hatten die beiden Generäle leidlich kooperiert, doch nun sollten die RSF in die Streitkräfte eingegliedert werden. Das führte zum Bruch – denn dabei geht es um die Macht. Nicht auszuschließen, dass der Gewaltausbruch das drittgrößte Land Afrikas in einen Bürgerkrieg stürzt. Experten halten die Entwicklung der kommenden Tage für entscheidend: Wer die Ministerien und Behörden im Zentrum Khartums erobert, könnte den Kampf um die innenpolitische und internationale Legitimität gewinnen.
Schweizer Scheinheiligkeit
In der Schweiz hat man ein seltsames Verständnis von Neutralität: In die Diktatur Saudi-Arabien lieferte man Waffen (und verdiente gut dran) – die bedrängten Ukrainer dagegen lässt man im Stich. Wenn Kanzler Olaf Scholz heute den Schweizer Bundespräsidenten Alain Berset empfängt, dürften nicht nur freundliche Worte gewechselt werden: Auch Munition für den deutschen Flugabwehrpanzer Gepard blockieren die Schweizer – dabei wird sie in der Ukraine dringend gebraucht.
Ohrenschmaus
Apropos Schweiz: Fast zwölf mal vier Meter groß ist dieses aus drei Funden zusammengesetzte Skelett eines Tyrannosaurus Rex. Die Knochen stammen aus der späten Kreidezeit vor rund 65 Millionen Jahren und werden heute in Zürich versteigert. Bis zu acht Millionen Franken erhofft sich das Auktionshaus. Passend dazu kommt der heutige Ohrenschmaus aus England.
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Zum Schluss
Frau Merkel hat jetzt einen Orden.
Ich wünsche Ihnen einen ordentlichen Tag. Morgen schreibt David Schafbuch den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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