Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ihr größtes gebrochenes Versprechen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
diese Woche startet unangenehm für eine Ministerin der Bundesregierung. Und sie dürfte ebenso schlecht für sie enden.
Denn heute stellt das Pestel-Institut eine Studie zur Wohnungsnot und den Folgen der hohen Mieten für die Generation 60+ vor. Eine mächtige Gruppe, gerade auch an der Wahlurne. Das Institut schlug schon vorab Alarm: Seniorenwohnungen seien Mangelware Nummer eins, Deutschland steuere auf eine "graue Wohnungsnot" zu. Wenn nicht rasch gehandelt werde, drohe dem Land "endgültig ein Desaster beim Wohnen".
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Nicht weniger düster fallen die Ankündigungen für den Wohnungsbau-Tag am Donnerstag aus, dem jährlichen Spitzentreffen der Baubranche. Der Wohnungsmarkt insgesamt sei "am Ende", der Wohnungsbau stehe "an einem Kipppunkt", heißt es da.
Die Ankündigungen klingen apokalyptisch – und sind nicht übertrieben. Die Ampelregierung und allen voran Bauministerin Klara Geywitz (SPD) bringt das in Bedrängnis. Denn die Experten lenken mit ihren Analysen das Scheinwerferlicht auf das größte Versprechen, das die Regierung immer wieder vollmundig gegeben hat: 400.000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, davon 100.000 Sozialwohnungen.
Die Zahlen sind im Koalitionsvertrag festgeschrieben, das Bauministerium unter Geywitz wurde eigens für dieses Ziel neu gegründet, Ressourcen umverteilt, die Trommel laut geschlagen. Volle Power, so das Signal, der Bau bezahlbarer Wohnungen hat für uns allerhöchste Priorität.
Die Ziele aber wurden im vergangenen Jahr weit verfehlt, das große Versprechen bereits gebrochen. Schätzungsweise nur 280.000 Wohnungen wurden 2022 neu gebaut. Für dieses Jahr fallen die Prognosen noch schlechter aus. Statt Neubau-Turbo ist Neubau-Stopp angesagt – reihenweise werden zurzeit geplante Bauprojekte auf Eis gelegt. Es trifft Privatleute wie große Gesellschaften gleichermaßen.
Für die miserable Entwicklung gibt es mehrere Ursachen. Aufgrund der Inflation sind die Zinskosten für Bauherren stark gestiegen, durch den Ukraine-Krieg sind außerdem die Kosten für Baumaterialien explodiert. Zur Ehrlichkeit gehört dazu: Bauministerin Geywitz hat auf diese äußeren Faktoren keinen Einfluss, sie muss die ohnehin hochgesteckten Ziele plötzlich unter sehr viel schlechteren Bedingungen erbringen.
Allerdings passt sich Geywitz auch nicht dieser Lage an. In Interviews klingt die Ministerin derzeit entweder hilflos oder als sei weiterhin 2021, das Jahr mit niedrigen Bauzinsen. Als Mittel, die den großen Umschwung bringen sollen, nennt sie nicht mehr als leere Schlagworte: mehr Modulbau, stärkere Digitalisierung, mehr Roboter und Drohnen. Ferne Zukunftsmusik also.
Was sonst helfen kann? Da empfiehlt Geywitz: Die Menschen sollten mehr aufs Land ziehen, stärker schon bestehende Wohnungen umbauen, statt neu zu bauen. Besonders Ältere sollten aus Häusern in kleinere Wohnungen ziehen. Doch hat sie Programme auf den Weg gebracht, um diese Bewegungen auch tatsächlich auszulösen? Fehlanzeige.
Stattdessen hat Geywitz' Ministerium gerade Eckpunkte für einen wichtigen Gesetzesentwurf und ein zentrales Förderprogramm der Ampelregierung verschoben. Die Vorschläge zur neuen Wohngemeinnützigkeit, die mehr Sozialwohnungen schaffen soll, kommen statt im März nun erst im Juni. Das bewerten sogar Koalitionspartner von den Grünen als "besorgniserregend".
Das alles ist viel zu wenig. Um das Ruder beim Neubau herumzureißen, bräuchte es jetzt dringend Taten statt Worte, neue Ideen, weniger Bürokratie – und sehr viel mehr Geld, als Geywitz' Ressort gerade zur Verfügung steht. Eine Bazooka oder Zeitenwende, wie Scholz sie der Wirtschaft in der Corona-Pandemie und nun im Ukraine-Krieg der Bundeswehr versprach.
Doch bisher ist davon nichts zu spüren, es bleibt bei immer neuen Ankündigungen. "2024 und 2025" wolle man an die Zahl von 400.000 neuer Wohnungen "herankommen", sagt Geywitz neuerdings. Und auch Kanzler Scholz betont: Das Ziel bleibe bestehen. Wann es zu erreichen ist, da legt er sich aber lieber nicht fest.
Das ist absurd – und unehrlich. Packen Scholz und Geywitz nicht bald die Bau-Bazooka aus, sollten sie die 400.000-Fantasterei endlich einstellen. Und lieber einsehen, was schon Bertolt Brecht empfahl: Wer A sage, der müsse nicht B sagen. "Er kann auch erkennen, dass A falsch war."
Döpfner unter Beschuss aus dem eigenen Haus
In der "Bild"-Redaktion bemüht man sich derzeit um Schadensbegrenzung. Denn in Nachrichten an seine Führungsriege sprach Springer-Chef Mathias Döpfner Ostdeutschen die Demokratiefähigkeit ab und versuchte, Einfluss auf die politische Berichterstattung bei der "Bild"-Zeitung auszuüben. Das von der "Bild" selbst propagierte Image als unabhängige und stets kritisch-kampfbereite Redaktion leidet darunter empfindlich, ostdeutsche Politiker forderten Döpfners Rücktritt sowie den Boykott seiner Blätter.
Auch in Döpfners eigenem Haus ist die Kritik groß. "Was soll man jetzt von uns denken?", zitiert die "Bild"-Zeitung einen ihrer Mitarbeiter in einem Beitrag am Wochenende. Ein ostdeutscher Redakteur spricht demnach vom "schlimmsten Arbeitstag", den er bei "Bild" je hatte. Chefredakteurin Marion Horn verurteilt Döpfners Nachrichten als "absolut nicht in Ordnung". Sie forderte in einem Kommentar: "Eigentlich ist eine Entschuldigung fällig, Chef!"
Der Chef liefert denn auch. In sechs kurzen Absätzen unter der Aufschrift "Stimmt!", teilt er mit: "Die" Ostdeutschen gebe es natürlich nicht, er habe sein Handy in Wut als Blitzableiter genutzt, seine Aussagen seien "polemische Übertreibung". Ob das genügt, um die große Debatte um Döpfners Blick auf den Osten und die noch größere um die Einflussnahme in der "Bild"-Redaktion zu beenden, darf bezweifelt werden.
Was steht an?
Die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland sind am vergangenen Wochenende abgeschaltet worden. Die Diskussion um Atomenergie ist damit aber noch nicht beendet. Denn die Union will sie am Kochen halten. Aus Bayern forderte Ministerpräsident Markus Söder (CSU), den Ländern die Macht zu verleihen, die Kernkraft auf eigene Faust weiterzubetreiben. Aussichtslos, ist der Tenor bei Experten wie Regierungsvertretern unisono. Doch die Phantomdebatte dürfte weiterlaufen.
Der Expertenrat für Klimafragen gibt heute bekannt, ob die Bundesregierung 2022 ihre Klimaziele eingehalten hat – und was sie von einer geplanten Reform des Klimaschutzgesetzes hält. Beides könnte unangenehm für die Ampel werden, wie mein Kollege Johannes Bebermeier berichtet.
Der Bundespräsident verleiht Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Abend den höchstmöglichen Verdienstorden. Aber hat sie ihn auch verdient? Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder hat darauf eine klare Antwort: Nein. Warum er sogar findet, dass die Verleihung an "Peinlichkeit grenzt", erklärt er in diesem Interview.
Mit ihrer China-Reise hat Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) gerade Lob wie Kritik erregt. Deutlich hat sie sich zur Lage der Menschenrechte und zu Chinas Zurückhaltung im Ukraine-Krieg positioniert – ganz anders als kurz zuvor Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der schwierige Themen lieber umschiffte und neue Handelsverträge abschloss. Pekings Regierung galt Baerbock schon zuvor als "Anti-China-Ministerin", ihr Auftreten dürfte diesen Eindruck noch verstärkt haben. Seit gestern nimmt Baerbock nun am dreitägigen Treffen der G7-Außenminister in Japan teil. Es geht um die großen Krisenherde zurzeit: die Ukraine, den Iran, Afghanistan.
Ohrenschmaus
Krise hier, Probleme da – manchmal mag man's nicht mehr hören. Und gerade zum Start in die Woche hilft eine kleine Aufheiterung. Ich kann nur diesen Song von Van Morrison empfehlen. Sie werden zur Arbeit hüpfen.
Lesetipps
Russland hat sich verkämpft, nun wird die Offensive der ukrainischen Armee erwartet. Hat sie Aussicht auf Erfolg? Ben Hodges, früherer Befehlshaber der US-Landstreitkräfte in Europa, zeigt sich in diesem Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke zuversichtlich.
Macron hat in Frankreich seine umstrittene Rentenreform in Kraft gesetzt, Gewerkschaften und Opposition sind erzürnt. Stoppt Macron das Vorhaben nicht doch noch, hat auch Deutschland ein Problem, kommentiert meine Kollegin Lisa Becke.
Zum Schluss:
Neue Arbeitsfelder in der Energiebranche nach dem AKW-Stopp?
Ich wünsche Ihnen einen tollen Start in die Woche.
Herzlichst
Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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