Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch So geht Deutschland den Bach runter
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
"Wer die Enge seiner Heimat begreifen will, der reise." Diese Empfehlung stammt vom Schriftsteller Kurt Tucholsky. Ich muss gestehen: Noch nie habe ich Deutschland als so eng(stirnig) empfunden wie in den vergangenen Tagen, als ich Tausende Kilometer von meiner Heimat entfernt war.
Was war passiert? Ich hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auf eine Reise nach Kanada begleitet, wo sich beide über die Einwanderungspolitik des Landes informieren wollten.
Embed
Was ich dort sah, hat mich zutiefst deprimiert. Überall, wo wir waren – in Unternehmen, an einer Berufsschule, ja, sogar in einem Restaurant –, erlebten wir, wie sich Kanada optimal für die Zukunft aufstellt. Während Deutschland dabei ist, die seine zu verspielen.
Nehmen wir Shreeram, einen 33-jährigen Inder, den wir in einem kleinen Unternehmen in Ottawa trafen, das sich auf Technologieprodukte für die Beton-Industrie spezialisiert hat. Shreeram gehört zu jenen Arbeitskräften, die wir in Deutschland wie Goldstaub suchen. Jung, hochqualifiziert, mobil und sogar deutschlandaffin. Ein Jahr hat er in Paderborn gearbeitet. Er überlegte, dauerhaft zu bleiben. Dann erfuhr er, welche bürokratischen Hürden er dafür überwinden müsste. Da ging er lieber nach Kanada. Wenn es ihm gefällt, will er sich einbürgern lassen. Das kann man in Kanada nach drei Jahren. In Deutschland war das bislang frühestens nach acht Jahren möglich. Nun soll es auf fünf Jahre verkürzt werden.
Ich traf in Kanada einen Ägypter, leitender Angestellter in einem kanadischen Unternehmen, der sich gerade hatte einbürgern lassen. Mit leuchtenden Augen und voller Stolz erzählte er von der feierlichen Zeremonie. In diesem Moment musste ich an einen italienischen Freund denken, der vor ein paar Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt hatte. Zwölf Monate prüfte die Behörde, ob er, in Deutschland geboren und Professor für Medizin, auch wirklich Deutscher werden darf. Dann bekam er einen Termin, musste eine Wartenummer ziehen und erhielt schließlich die Urkunde. Immerhin rang sich der Beamte noch ein "Herzlichen Glückwunsch" ab.
"Kanada und Deutschland? Das ist wie Äpfel mit Birnen vergleichen", werden jetzt einige rufen. Richtig ist, dass Kanadas Erfolg bei der Einwanderung mit einer sehr restriktiven Flüchtlingspolitik einhergeht. Außerdem kann es im Gegensatz zu Deutschland dank einer einzigen Außengrenze die Zahl der Flüchtlinge auch sehr gut regulieren.
Richtig ist auch, dass eine gute Einwanderungspolitik nur funktionieren kann, wenn man den Eindruck hat, dass die, die kommen, sich auch an die Regeln halten. Und dass die, die dies nicht tun, das Land wieder konsequent verlassen müssen.
Falsch ist aber der Glaube, dass allein das den Erfolg Kanadas ausmacht. "It’s the spirit, stupid!", möchte man den Kann-man-nicht-vergleichen-Kritikern zurufen. Während Deutschland immer noch darüber diskutiert, ob es wirklich ein Einwanderungsland sein will, tut Kanada seit Jahrzehnten sehr viel dafür, um die, die es im Land haben will, dann auch erfolgreich zu integrieren.
In Kanada werden die Fremden von heute als wertvolle Staatsbürger von morgen gesehen. In Deutschland oft als die Sozialschmarotzer von morgen.
"Wir fragen nicht, woher kommst du? Wir fragen: Was kannst du beitragen?", erklärte uns in Toronto der Geschäftsführer eines Unternehmens für Antriebstechnik. Das bringt den Unterschied auf den Punkt. In Kanada wird eine Vielfalt der Kulturen als Bereicherung, in Deutschland sehr häufig als Bedrohung erlebt.
Wie fatal diese Einstellung ist, zeigt ein Blick in die Prognosen: 2035 könnten uns bis zu sieben Millionen Fachkräfte fehlen, weil dann die Babyboomer in Rente gegangen sind. Es ist deshalb dringend an der Zeit, mit ein paar Lebenslügen aufzuräumen:
- Wenn Deutschland seinen Wohlstand erhalten will, muss es sich als Einwanderungsland definieren und dieses Ziel konsequent verfolgen. Dazu gehört eine Strategie, die von Politik, Wirtschaft und Bevölkerung gemeinsam getragen und gelebt werden muss.
- Nicht die hochqualifizierten Fachkräfte müssen dankbar sein, wenn sie in Deutschland "arbeiten dürfen". Vielmehr müssen wir dankbar sein, wenn sie sich für uns entscheiden. Sonst wählen sie in Zeiten der Globalisierung ein Land, welches dankbarer ist. Kanada zum Beispiel.
- Wer als Fachkraft kommt, muss die Aussicht erhalten, vollwertiger Teil dieser Gesellschaft werden zu können. Mit allen Rechten und Pflichten. Die Rechnung, dass man sich nach Bedarf vorübergehend Arbeitskräfte ins Land holt, die dann wieder gehen, ging schon bei den sogenannten Gastarbeitern der Wirtschaftswunderjahre nicht auf. Heute noch viel weniger.
- Das neue Einwanderungsgesetz, welches nächste Woche im Kabinett beschlossen werden wird, ist ein erster Schritt. Aber es reicht nicht aus. Wenn nicht zugleich massiv und schnell Bürokratie abgebaut wird, zum Beispiel für Firmen, die ausländische Fachkräfte rekrutieren, werden wir weitere Jahrzehnte verschenken.
Mehr als 400.000 Immigranten kamen 2022 nach Kanada, ein Rekord. Zugleich ist die Zustimmung in der Bevölkerung zur Zuwanderungspolitik ungebrochen. Gerade hat die kanadische Regierung eine Reihe von Initiativen angekündigt, um die Zahl der Zuwanderer weiter zu steigern.
Eines der jüngsten Pilotprojekte: Kanada schickt "Scouts" in Flüchtlingslager, die dort potenzielle Fachkräfte rekrutieren. Diese erhalten die Möglichkeit, sich als "Wirtschaftszuwanderer" zu bewerben.
Für Deutschland heißt all das: Schon jetzt ist der Vorsprung, den Länder wie Kanada beim Werben um Fachkräfte haben, nicht mehr aufzuholen. Aber wir sollten alles dafür tun, dass er nicht noch größer wird.
Was steht an?
Das Kapitel Julian Nagelsmann ist beim FC Bayern beendet, Thomas Tuchel soll sein Nachfolger werden. Der Zeitpunkt des Trainerwechsels überrascht nur auf den ersten Blick, kommentiert unser FC-Bayern-Reporter Julian Buhl. Für heute werden Stellungnahmen der Bayern-Bosse erwartet.
Dieser Anschlag erschütterte Großbritannien: Im März 2018 wurden der im britischen Exil in Salisbury lebende russische Ex-Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Opfer eines Giftanschlags, den beide nur knapp überlebten. Weniger Glück hatte die 44-jährige Britin Dawn Sturgess, die zufällig mit einer weggeworfenen Flasche in Kontakt kam, in der sich das Nervengift befand. Heute beginnt in London die Vorverhandlung zum Tod von Sturgess.
Wie kann man Flüchtlinge in Europa gerechter aufteilen? Darüber will Bundesinnenministerin Nancy Faeser diesen Freitag beim Treffen mit ihren Amtskollegen aus Frankreich, Italien, Schweden, Spanien und Belgien sprechen. Um welche Streitpunkte es konkret geht, können Sie hier nachlesen.
Heute vor 90 Jahren trat das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" in Kraft. In die Geschichtsbücher ging es als "Hitlers Ermächtigungsgesetz" ein, als Verfassungsänderung, die das Ende der Weimarer Republik besiegelte und den Weg in die NS-Diktatur ebnete.
Was lesen?
Das Chaos, das sich gerade in Bremen abspielt, ist selbst für AfD-Verhältnisse spektakulär: Weil sich verfeindete Lager bekämpfen, darf die Partei nicht bei der Landtagswahl antreten. Das hat Folgen weit über die Hansestadt hinaus, erklärt meine Kollegin Annika Leister in ihrem Text.
Im Kalten Krieg verlief der Eiserne Vorhang mitten durch Deutschland, der neue erstreckt sich weiter im Osten: Polen rüstet massiv auf gegen die russische Bedrohung, die Ukraine sowieso. Nur Deutschland scheint die neue Realität noch nicht wahrhaben zu wollen. Lesen Sie hier den Beitrag meines Kollegen Marc von Lüpke.
Deutschland kommt am Montag zum Stillstand. Denn im ÖPNV, bei der Bahn und an den Flughäfen wird gestreikt. Ist das noch gerechtfertigt? Darüber streiten meine Kollegen Florian Schmidt und Frederike Holewik.
Historisches Bild des Tages
1965 ist das Jahr, in dem die US-Bürgerrechtsbewegung große Erfolge feiert. Und bekämpft wird wie selten zuvor. Hier erfahren Sie mehr.
Was mich amüsiert
Die einfachste Lösung, aber wirklich auch die beste?
Zum Schluss noch ein kleines Reise-Zitat. Diesmal von Franz Kafka: "Wege entstehen dadurch, dass man sie geht." Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihre Wege zu vielen schönen Zielen führen. Ob in der Ferne oder im eigenen Land. Morgen meldet sich an dieser Stelle meine Kollegin Lisa Fritsch bei Ihnen mit Hinweisen auf unseren Wochenend-Podcast. Der beschäftigt sich diesmal mit der Frage: Wie lange dauert die hohe Inflation noch?
Herzliche Grüße
Ihre Miriam Hollstein
Chefreporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @HollsteinM
Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.
Mit Material von dpa.
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.