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Krieg gegen die Ukraine: Putins nächster Plan


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Tagesanbruch
Putins nächster Plan

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 24.02.2023Lesedauer: 8 Min.
Ist von Putin Einsicht zu erwarten?Vergrößern des Bildes
Ist von Putin Einsicht zu erwarten? (Quelle: Alexander Vilf/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Bomben und die Explosionen, die Toten und die Trauernden, das Gemetzel auf den Schlachtfeldern und die Verbalgefechte der Diplomaten, der Streit um Grenzen und um Panzer, die Gemeinheit und die Niedertracht, vor allem das herzzerreißende Leid der Opfer und ihrer Angehörigen: Seit einem Jahr berichten wir ununterbrochen über den Krieg in der Ukraine – und über niemanden schreiben wir so viel wie über den Mann, der ihn entfesselt hat. Wladimir Putin beschäftigt natürlich auch am heutigen Jahrestag des Kriegsbeginns die Nachrichten, Kommentare und Talkshows.

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Putins Bild ist allerorten, doch zugleich bleibt er rätselhaft: Ist er ein kühl kalkulierender Taktiker oder einfach nur böse? Ist er rationalen Argumenten noch zugänglich und sieht irgendwann ein, dass seine Invasion gescheitert ist – oder würde er sogar Atomraketen losschicken? Ist er krank oder tut er nur so und lacht sich insgeheim ins Fäustchen ob all der Gerüchte in der westlichen Presse? Und über allem die große Frage: Hätte Putin seinen Truppen den Einmarschbefehl vor einem Jahr auch dann gegeben, wenn er damals schon geahnt hätte, dass er statt einer Blitzeroberung wie 2014 auf der Krim einen verlustreichen Abnutzungskampf bekommen würde?

Die Motive demokratischer Regierungschefs sind in der Regel offensichtlich. Sie werden in Interviews hinterfragt, in Leitartikeln kommentiert, auf Pressekonferenzen, in Talkshows und Hintergrundgesprächen diskutiert. Die Motive eines Diktators bleiben oft im Unklaren, erst recht hinter den dicken Mauern des Kremls. Das war schon zu Sowjetzeiten so, weshalb sich die fragwürdige Gilde der "Kremlastrologen" herausbildete. Heute ist es nicht anders. Selbst in vertraulichen Gesprächen im Berliner Regierungsviertel blickt man auf die Frage, wie Putin wirklich ticke und wie weit er wohl gehen würde, in ratlose Gesichter. Diese Ahnungslosigkeit ist riskant, da es so einem einzigen Mann überlassen wird, über den weiteren Verlauf des Krieges und dessen Folgen zu bestimmen.

Wagen wir deshalb an diesem wichtigen Tag etwas Ungewöhnliches. Versetzen wir uns in Wladimir Putin hinein und bedienen wir uns dafür eines kreativen Tricks: Versuchen wir anhand einer Gegenüberstellung zu ergründen, was vor einem Jahr in seinem Kopf vorgegangen sein mag und was ihn heute antreibt. Vorhang auf für ein Gedankenspiel:

"Hallo, Wladimir", begrüßte der Mann mit der hohen Stirn sein Gegenüber am anderen Ende des langen Tisches. Fast gleich sahen die beiden aus, wie die perfekten Doppelgänger, nur dass der andere ein wenig gealtert schien. Und tatsächlich lag ein Lebensjahr zwischen ihnen, auf den Tag genau, das wussten sie beide. "Hallo Wladimir", erwiderte das Gegenüber und sah ihn unverwandt an.

Es war Schlag Mitternacht an diesem 24. Februar. Geister waren nicht erschienen, aber dennoch Seltsames geschehen: Durch eine wundersame Verwirbelung der Zeit sah Wladimir der Jüngere sich seinem Alter Ego gegenüber, ganz er selbst mit jeder Faser, nur hatte der andere das kommende Jahr schon erlebt. Eine Sensation hätte es sein können, ein unerklärliches Loch in der Zeit, das die beiden in dieser entscheidenden Stunde zusammenführte. Die Welt aber würde davon niemals erfahren. Nun saß der Wladimir des Jahres 2022 dem Wladimir aus dem Jahr 2023 gegenüber, für einen magischen Moment um Mitternacht, und durfte ihm eine einzige Frage stellen.

Draußen, vor den Toren des Kremls, hielt die Welt den Atem an. Weit weg im Westen und in der Ukraine ahnten viele Menschen schon, dass Ungeheuerliches bevorstand. Näher an Moskau ahnte man noch nichts. In den Wäldern von Belarus rollten Militärkolonnen in Richtung der Grenze, beladen mit Soldaten, die noch immer glaubten, sie würden zu einer Übung ausrücken. Ein kurzer Krieg sollte es werden – so kurz sogar, dass alles vorbei sein würde, bevor man es überhaupt "Krieg" nennen musste. Schon in den ersten Stunden dieser "Spezialoperation" würden die ukrainischen Einheiten unter der russischen Übermacht kollabieren. Fallschirmjäger würden den Flughafen von Kiew einnehmen, eine Transportmaschine nach der anderen Verstärkung in die feindliche Hauptstadt bringen, Spezialeinheiten bis ins Stadtzentrum vordringen. Binnen Tagen würden die ukrainischen Regierungspolitiker tot, geflohen oder gefangen und das führungslose Land in russischen Händen sein. Der Plan stand fest. Die Maschinerie war bereits in Bewegung. Es fehlte nur noch der Startschuss, das entscheidende Kommando.

Angespannt, aber siegesgewiss beugte sich der jüngere Wladimir vor und gönnte sich ein süffisantes Lächeln. Er blickte seinem Gegenüber direkt in die Augen. Der Moment war gekommen, sich an sein wissenderes Selbst zu wenden, das schon die Siege und Triumphe gefeiert haben musste, die das kommende Jahr bringen würde. So nahm er es jedenfalls an. Eigentlich war er sich sogar sicher. Aber die Gelegenheit wollte er trotzdem nutzen. Also stellte er die Frage, für die er gekommen war: "Soll ich?"

Wladimir der Ältere erwiderte den Blick. Ein Anflug von Ärger erfasste ihn, doch er ließ sich nichts anmerken. Die Selbstgewissheit des Jüngeren, seine Ahnungslosigkeit, das katastrophale Scheitern des ursprünglichen Plans, all das erzürnte ihn einerseits für einen Moment. Andererseits war ihm die Aura der Aggressivität und der Arroganz, die den anderen umgab, vertraut und willkommen. Er schätzte diesen Zug an sich. Sein Ärger verflog. Er lehnte sich zurück.

Es war ein hartes Jahr gewesen, dieses 2022. Seine Truppen hatten bei ihrem Vorstoß auf Kiew eine krachende Niederlage erlitten. Im Nordosten bei Charkiw auch. Im Süden, im Donbass: Nirgendwo war es gelaufen, wie es sollte. Der Schachzug mit dem Öl und Gas hatte auch nicht geklappt. Was hatte ein unverschämter US-Senator mal über Russland gesagt? "Eine Tankstelle, die so tut, als sei sie ein Land." Von wegen! Am Tropf haben die Europäer gehangen, und zappeln hätten sie sollen, vor allem die dummen Deutschen. Nun gut, das war ein Fehlschlag. Schwamm drüber. Aber dass der Westen nicht einknickt oder sich zerstreitet, sondern mit heiklen Sanktionen ankommt und den Ukrainern sogar hochmodernes Zeug aus den Nato-Waffenarsenalen liefert – nein, das hatte er tatsächlich nicht erwartet.

Der Zorn stieg wieder in ihm hoch, als er daran dachte. Kein Wunder, dass im verdammten Westen manche glaubten, seine Niederlage sei nur noch eine Frage der Zeit. Diese Leute verstanden einfach nicht, oder wollten sie es nicht verstehen? Er hatte doch eine historische Aufgabe zu erledigen! Seit er Präsident war, mehr als zwei Jahrzehnte lang, war die Nato ihm auf die Pelle gerückt, immer näher an die Grenzen Russlands heran. Einem Umsturzversuch nach dem anderen hatte er zusehen müssen: der Orangenen Revolution in der Ukraine, der Rosenrevolution in Georgien, dem Euromaidan wieder in der Ukraine. Vom Willen des Volkes faseln die Weicheier im Westen, so ein Blödsinn. Völker haben keinen Willen, sie werden beherrscht! Die Amerikaner stecken dahinter, wer denn sonst, dachte Putin. Und am Schluss ist auch Russland dran. ("Also ich", erinnerte er sich.)

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Genau so ließ er es seine Propagandamaschine erzählen – ist ja auch praktisch, schließlich bringt es das russische Volk auf Kurs. Aber er selbst glaubte das alles auch. Na ja, fast alles. Dass in der Ukraine Nazis regieren, die Atomwaffen bauen und Biowaffenlabore betreiben, mit denen das russische Volk ausgelöscht werden soll: Klar, auch das ließ er verbreiten, aber diesen Quatsch glaubte er natürlich nicht. Er schüttelte den Kopf und kicherte leise in sich hinein.

Der jüngere Putin sah ihn erwartungsvoll an. Das süffisante Lächeln lag noch immer auf seinen Lippen, sein Blick war hart. Menschen, die ihm begegnet sind – Minister, Präsidenten, Journalisten, Diplomaten – hatten ihn als eiskalt beschrieben, andere als impulsiv und aufbrausend, manchmal geradezu unkontrolliert. Mehr als einmal war seine Karriere fast zu Ende gewesen. Als farbloser Apparatschik war er über den Mittelbau des KGB lange nicht hinausgekommen. Nach dem Fall der Berliner Mauer stand er vor dem Nichts. Aber trotzdem, klopfte er sich auf die Schulter, hatte er es bis an die Spitze geschafft.

Natürlich durfte man nicht zimperlich sein. In den wilden Jahren nach dem Kollaps der Sowjetunion hatte er in Sankt Petersburg, das damals als Hauptstadt der russischen Mafia galt, als führender Kopf in der Stadtverwaltung reichlich Gelegenheit, nicht zimperlich zu sein. Später, als junger Präsident, entsandte er Russlands Soldaten zum Gemetzel nach Tschetschenien. Nun stellte er seine Ruchlosigkeit ganz offiziell unter Beweis und ließ sich dafür als starken Führer feiern. Auch in der Ukraine folterten, vergewaltigten und mordeten seine Soldaten, am schlimmsten in Butscha, und Putin nickte nicht nur still dazu. Er ehrte die Mördereinheit für ihr "Heldentum" und pries sie als Vorbild.

Putin der Ältere erinnerte sich jetzt wieder daran. Ein maliziöses Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus, als er daran dachte, wie leicht man Europäern und Amerikanern den ausgestreckten Mittelfinger zeigen kann. Ein paar Orden für ein paar ruppige Typen – und schon weiß die Truppe, dass sie bedenkenlos wüten kann. Mit Sanktionen wollten seine Feinde ihn in die Knie zwingen, aber der Rubel rollt noch immer. Öl und Gas verkaufen sich noch immer prächtig nach Indien und China mit ihrem großen Durst. In nicht einmal zwei Jahren wird Amerika einen neuen Präsidenten haben: meinen gefügigen Buddy Donald, freute Putin sich. Oder einen anderen der dämlichen Trumpisten. Der greise Joe Biden wird es jedenfalls nicht mehr über die Linie schaffen, vielleicht muss sogar ein unbeschriebener Ersatzkandidat an seiner Stelle antreten. Dann wird alles viel einfacher sein. Dann müssen die Europäer sich ohne die Hilfe der Amis mit mir herumschlagen, und mit denen werde ich schon fertig.

Der ältere Putin richtete sich auf und schaute entschlossen über den langen Tisch. Sein junges, tatendurstiges Ich saß ihm noch immer gegenüber und wartete auf eine Antwort. Den Startschuss für den Krieg: Sollte er ihn geben? So viele Rückschläge würde es geben, so viele Schwierigkeiten. Verraten konnte der Ältere nichts davon. Nicht mehr als fünf Worte durfte er sagen, so wollten es die seltsamen Regeln des nächtlichen Moments. Aber das würde genügen. "Mach nur", sprach Wladimir zu Wladimir, "wir schaffen das." Nicht einen Moment lang dachte er daran, wie sehr er sich das letzte Mal getäuscht hatte. Sein Blick wurde kalt, und die Panzer begannen zu rollen.


Die Termine des Tages …

stehen ebenfalls im Zeichen des Jahrestags:

Die Mitgliedstaaten der UN-Vollversammlung forderten gestern mit breiter Mehrheit einen russischen Truppenabzug aus der Ukraine. Vor der Abstimmung hatte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock eine Rede gehalten. Heute geht es weiter: In New York kommt der UN-Sicherheitsrat zusammen, verstärkt durch mehrere Außenminister. Auch Baerbock ist wieder dabei. Für Gesprächsstoff sorgt die chinesische Friedensinitiative – in der vergangenen Nacht legte Peking dazu ein 12-Punkte-Papier vor. Der Hintergrund ist allerdings heikel, wie mein Kollege Patrick Diekmann berichtet.


In Tokio organisiert Japan eine virtuelle Konferenz der sieben wirtschaftsstärksten Länder (G7). Auch Kanzler Olaf Scholz schaltet sich dazu, bevor er nach Delhi fliegt, wo er zwischen Wirtschaftsgesprächen versuchen wird, die Inder stärker in das westliche Lager zu ziehen.


In Berlin eröffnet Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die zentrale deutsche Gedenkveranstaltung; der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hält eine kurze Rede per Video. Im Anschluss sind in vielen deutschen Städten Gedenkminuten und Mahnwachen, Friedensdemonstrationen und Menschenketten geplant.


Was lesen?

Wie sähe die Welt aus, hätte Putin Erfolg? Diesen Text meines Kollegen Marc von Lüpke sollten Sie lesen.


Warum wirkt Deutschlands Reaktion auf die "Zeitenwende" so träge? Der ehemalige BND-Agent Gerhard Conrad gibt besorgniserregende Einblicke.


Die Theologin Margot Käßmann hat das umstrittene "Friedensmanifest" von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer unterschrieben. Im Interview mit meiner Kollegin Kati Degenhardt zeigt sie nun Verständnis für ihre Kritiker.


Oft heißt es, die Deutschen seien gespalten in der Frage, ob die Ukraine den Krieg gewinnen soll. Das stimmt nicht, wie eine Umfrage zeigt. Die Zahlen sollten dem Kanzler zu denken geben, kommentiert mein Kollege Florian Schmidt.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche uns allen mehr friedliche Tage.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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