Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Sprachpolizei schlägt zu
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
manchmal bekommt man den Eindruck, wir hätten in Europa nicht genug Probleme. Als seien Putins Angriffskrieg, die Inflation, die Energiepreise, die Flüchtlinge, der Klimaschock und das Artensterben noch nicht herausfordernd genug, um sich Tag und Nacht damit zu beschäftigen. Manchmal wirkt es so, als hätten manche Leute diebische Freude daran, auch noch Nebensächlichkeiten zu Großproblemen aufzublasen, um dann groteske Lösungen dafür zu präsentieren.
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Das weiteste Feld vermeintlicher Nebensächlichkeiten ist die Sprache. Sie wächst mit unseren Riten und Gepflogenheiten, sie verändert sich über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Das ist normal. Unnormal ist allerdings der Eifer selbsternannter Sprachverbesserer. Das sind Leute, die vorzugsweise in Universitäten und Ministerien, in Verlagen, Medien und Kultureinrichtungen arbeiten und es sich auf die Fahne geschrieben haben, die herkömmliche Sprache im Sinne der politischen Korrektheit zurechtzubiegen. Das Gegendere mit Sternchen, Doppelpunkten und anderem Unfug lässt bereits viele Gemüter hochkochen, doch damit geben sich die Missionare nicht zufrieden. Sie wollen mehr. Und sind bereit, ihrem Wahn nicht nur nebensächliche Floskeln, sondern auch Kunstwerke zu opfern. Zwei Beispiele aus den vergangenen Tagen verdeutlichen, wie weit der Irrsinn schon gediehen ist:
Erstens will das Bundesgesundheitsministerium den nach jeder Medikamentenwerbung vorgeschriebenen Satz ändern. Künftig soll er so lauten: "Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihre Ärztin oder Ihren Arzt oder fragen Sie in Ihrer Apotheke." Der bisherige Satz "... und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker" sei "seit Jahren wegen seiner geschlechtsspezifischen Formulierung Gegenstand von Diskussionen", behaupten Karl Lauterbachs Mitarbeiter, die ich korrekterweise vermutlich "Mitarbeiter*:_innen" oder so ähnlich nennen müsste. "Durch die Änderung soll nunmehr gleichstellungspolitischen Aspekten Rechnung getragen werden." Auf die Idee, dass der tagtäglich in Funk und Fernsehen runtergeratterte Zungenbrecher durch eine noch kompliziertere Formulierung womöglich endgültig diskreditiert werden könnte, sind die Ministerialen nicht gekommen. Sie tragen den Gender-Gral vor sich her und wollen dafür sogar das Heilmittelwerbegesetz ändern. Ordnung muss in Deutschland schließlich sein.
Eine spezielle Vorstellung von Ordnung haben zweitens auch die Leute vom britischen Puffin-Verlag, der zum Bertelsmann-Konzern aus Gütersloh gehört. Dort erscheinen die Werke des erfolgreichsten Kinderbuchautors aller Zeiten: Roald Dahls Klassiker "James und der Riesenpfirsich", "Der fantastische Mr. Fox" und "Charlie und die Schokoladenfabrik" zählen nicht nur für Kinder zum Schönsten, was man (vor)lesen kann.
Wenn man sie denn noch so lesen kann, wie der 1990 gestorbene Dahl sie ersann. Denn auch seine Formulierungen hat sich die Sprachpolizei vorgeknöpft – und das liegt nicht daran, dass vor Jahrzehnten Antisemitismusvorwürfe gegen den Schriftsteller laut wurden. Eher liegt es daran, dass manche Leute meinen, sie könnten dem Rest der Welt den Mund verbieten.
Beseelt von zweifelhaftem Weltverbesserertum haben die Leute von der Bertelsmann-Verlagstochter angekündigt, Roald Dahls Bücher "umzuschreiben". Dafür haben sie eigens "sensible Leser" eingestellt, die die Texte "prüfen" und "modernisieren" sollen, damit diese "auch heute noch von allen geschätzt werden können". Schon Hunderte Änderungen am Originaltext haben sie vorgenommen und neue – nicht von Dahl stammende – Passagen hinzugefügt. So darf der fette Augustus Glupsch in "Charlie und die Schokoladenfabrik" nun nicht mehr "fett" sein, sondern muss "riesig" genannt werden. Weil beleibte Leser dies sonst als verletzend empfinden könnten. Die "kleinen Männer" namens "Oompa Loompa" in der Schokoladenfabrik müssen künftig "kleine Leute" sein. Geht schließlich nicht, dass da nur Männer genannt werden, wo die Menschheit doch bekanntermaßen zur Hälfte aus Frauen besteht! Auch das Wort "weiblich" wird aus Dahls Werken herausgestrichen. Mittlerweile gibt es angeblich ja schon drei, vier oder sogar noch mehr Geschlechter. Um auch wirklich alle anstößigen Passagen auszuradieren, hat sich der Verlag von einer ominösen "Organisation für Inklusion, Diversität und Barrierefreiheit" beraten lassen.
Nun mag es Leute geben, die im Eifer der Sprachmissionare nur eine zu vernachlässigende Schrulle sehen. Ich sehe darin eine gefährliche Grenzüberschreitung. Wehret den Anfängen, erst recht am heutigen Tag der Muttersprache! Sprache ist mehr als nur eine Aneinanderreihung von Buchstabenkombinationen zur Verständigung. Sie ist Kunst, sie ist Genuss, sie ist formvollendete Schönheit. Wer so denkt, erleidet beim Lesen der zensierten Sätze körperliche Schmerzen. So wie der Schriftsteller Salman Rushdie, der den Verlagsleuten entgegenschmetterte, sie sollten sich schämen.
Als ich Rushdies Replik gestern las, konnte ich gar nicht so oft nicken, wie ich es gern getan hätte. Die Sprachverhunzung im Namen einer falsch verstandenen Gleichberechtigung ist ein Angriff auf unsere Kultur. Ich mache da nicht mit. Ich wehre mich. Und verfüge hiermit schriftlich und vor großem Publikum: Es ist jedem Verlag und jedem selbsternannten Sprachpolizisten verboten, auch nur ein Wörtchen in meinem Roman und meinem Kinderbuch ohne mein Einverständnis zu verändern. Das gilt für alle Ewigkeiten, und zwar auch für alle fetten Gestalten, die sich in meinen Büchern tummeln. Basta!
Bild des Tages
Der mächtigste Regierungschef der Welt wagt sich ins Kriegsgebiet und umarmt den bedrängten ukrainischen Präsidenten: Der gestrige Besuch von US-Präsident Joe Biden in Kiew war historisch. "Während Putin sich im Kreml versteckt, sendet Biden ein starkes Signal an Moskau: Seht her, ich habe keine Angst. Wir, die Vereinigten Staaten von Amerika, die größte Militärmacht der Welt, stehen fest an der Seite der Ukraine – und unsere Unterstützung wird nicht abreißen", kommentiert mein Kollege Tobias Eßer. Und unser Amerika-Korrespondent Bastian Brauns beschreibt, wie akribisch der US-Geheimdienst die gefährliche Reise vorbereitete: offenbar monatelang.
Termine des Tages
Nach seinem Kiew-Trip besucht US-Präsident Biden heute Warschau. Vor dem ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine will er auch die Polen des amerikanischen Beistands versichern. Seit langer Zeit hat kein amerikanischer Präsident so viel Führungsstärke bewiesen wie der 80-Jährige.
Außenministerin Annalena Baerbock und Innenministerin Nancy Faeser reisen ins türkische Erdbebengebiet. In Gaziantep und Kahramanmaras sprechen sie mit Überlebenden, Angehörigen von Gestorbenen und deutschen Rettungskräften. Unser Reporter Patrick Diekmann ist dabei und wird auf t-online für Sie berichten.
Erinnern Sie sich noch an den Fall der Pflegerin in Hildesheim? Während der Corona-Hochphase gaukelte sie eine zweifache Impfung vor – dabei war sie ungeimpft. In einem Pflegeheim steckte sie mehrere Leute mit dem Virus an, drei Seniorinnen starben. Heute beginnt der Prozess gegen die Frau; die Staatsanwaltshaft wirft ihr fahrlässige Tötung, fahrlässige Körperverletzung und Urkundenfälschung vor.
Verteidigungsminister Boris Pistorius macht bisher einen tadellosen Eindruck. Gestern inspizierte er die Ausbildung ukrainischer Soldaten an deutschen Panzern, heute absolviert er in Eckernförde seinen Antrittsbesuch bei der Marine.
Keine gute Figur gibt hingegen Pistorius' Parteifreundin Franziska Giffey ab. Obwohl sie die Berliner Landtagswahl verloren hat, klammert sie sich an die Macht. Heute sondiert sie mit den Grünen und der Linkspartei, wie sie ihre Koalition fortsetzen und weiterregieren könnte. Für Giffey wäre es die politische Rettung; nach dem Skandal um ihre abgekupferte Doktorarbeit und dem Rücktritt als Bundesministerin stünde sie ohne Berlin-Ticket vor dem Aus. Für die Hauptstadt wäre ein Weiter-so die schlechteste Lösung.
Ach ja, und dann ist da noch Wladimir Putin. Der hält heute eine "Rede an die Nation" und wird wieder irgendwelche Lügen verbreiten. "Das ignorieren wir noch nicht einmal", hätte Karl Valentin gesagt.
Was lesen?
Putins Soldaten kommen in der Ukraine kaum voran, manche Beobachter prophezeien schon das Ende des Diktators. Die Hoffnungen sind verfrüht, warnt der Historiker Jörg Baberowski im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir.
Kanzler Olaf Scholz erntet für seinen bedächtigen Kurs im Konflikt mit Russland viel Kritik. Dabei ist er klug, schreibt unser Kolumnist Christoph Schwennicke.
Haben Sie auch schon Post von Ihrem Energieversorger bekommen? Ab 1. März gelten Gas- und Strompreisbremse. Wie Sie überprüfen können, ob Ihr Anbieter die Entlastung korrekt berechnet, zeigt Ihnen meine Kollegin Christine Holthoff.
Was amüsiert mich?
Die Deutsche Post will die Briefzustellung reformieren.
Ich wünsche Ihnen einen dynamischen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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