Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Fetzen fliegen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
vielleicht starten Sie mit dem heutigen Tagesanbruch in den Tag, während Sie in Ihrer Küche sitzen. Draußen ist es noch dunkel, aber die Uhr tickt. Schnell noch einen Kaffee, dann rasch die Jacke an, Tasche und Schlüssel greifen – oje, schon wieder so spät, nichts wie los zur Arbeit. Oder Sie sind schon unterwegs, in einer proppenvollen U-Bahn, im Bus oder Pendlerzug, Schulter an Schulter mit den Sitznachbarn und die Müdigkeit des frühen Starts noch in den Gliedern. Es könnte auch sein, dass Sie die Audio-Ausgabe des Tagesanbruchs hören, während Sie sich im Auto durch dichten Verkehr von roter Ampel zu roter Ampel quälen. Klatscht der Regen an die Windschutzscheibe? Hupt da wieder irgendein Rindvieh? Es gibt Tage, da möchte man einfach liegenbleiben. Nicht mehr jeden Morgen raus, sondern Freiheit und Freizeit genießen, ohne Gehetze, ohne Stress. Manchmal wünscht sich das sogar ein ganzes Land.
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Bei unseren Nachbarn in Frankreich ist in diesen Tagen von morgendlicher Müdigkeit nichts zu spüren, so hoch geht es her. Schon zweimal im Januar sind mehr als eine Million Menschen auf die Straße gegangen. Lautstark haben sie ihrer Wut darüber Luft gemacht, dass sie sich Morgen für Morgen aus dem Bett quälen sollen, öfter und länger als bisher. Diese Massenproteste sind erst der Auftakt. In den kommenden Wochen wird gewaltiger Zoff erwartet: riesige Demos und massive Streiks, wenn es gut läuft. Ergänzt um Barrikaden und brennende Autos, wenn es wie erwartet läuft. Präsident Emmanuel Macron hat es gewagt, einen neuen Versuch zu starten, der seine Landsleute zu längerem Arbeiten zwingen soll: Um zwei Jahre will er das Renteneintrittsalter anheben, von 62 auf 64 Jahre. Nach deutschen Maßstäben ist das ein Witz. Frankreich gehört zu den Ländern mit dem frühesten Rentenbeginn in der EU – und zwar nach der geplanten Anhebung. Zuvor sowieso. Dennoch halten zwei Drittel der Franzosen den bescheidenen Schritt für eine Zumutung.
Die spinnerten Franzosen und ihr Festklammern an der Frühverrentung: Man könnte den Kopf darüber schütteln. Am besten sinniert man darüber eine Weile nach, während man müde über dem Morgenkaffee hockt. Die fixen Ideen unserer arbeitsscheuen Nachbarn kann man sich um sechs Uhr in der Frühe nämlich leichter erschließen als abends beim entspannten Feierabendbier. Während man sich am liebsten wieder hinlegen würde, offenbart sich dem schläfrigen Blick nichts weniger als eine gesellschaftliche Grundhaltung – und zwar zur Frage, worum es im Leben eigentlich geht. Arbeiten bis zum Umfallen? Nichts da. Die Maloche soll nicht erst ein Ende haben, wenn man nicht mehr kann. Dann ist man alt und vielleicht sogar krank. Den Franzosen schwebt etwas anderes vor: Es soll früh genug Schluss sein mit dem Job, um die Früchte der eigenen Arbeit verdient zu genießen. La vie est belle!
Eigenheiten, die uns fremd sind, fallen uns naturgemäß schnell auf. Aber auch wir Deutschen gönnen uns so manches Steckenpferd, das aus der Ferne als schräge Schrulle wahrgenommen wird. Hierzulande heißt der Konsens zum Ende der Arbeit: Urlaub. Mit großen Augen schauen beispielsweise US-Amerikaner auf die deutschen Dauerferien, staunen über unseren gesetzlich vorgeschriebenen (!) Mindest(!)-Urlaub von vier Wochen und erst recht auf die in vielen Betrieben üblichen sechs Wochen und fragen sich, ob hierzulande irgendwann auch mal gearbeitet wird. Das staatlich verordnete Ferien-Minimum auf dem US-Arbeitsmarkt beträgt, nur zum Vergleich: null Tage. Wir Deutschen sind also Urlaubsweltmeister, übrigens zusammen mit den meisten anderen Europäern, denn in der EU feiert man das, was andere Faulheit nennen, als zivilisatorische Errungenschaft: Das Leben soll nicht nur aus Arbeiten bestehen. Unsere Nachbarn in Frankreich finden das auch, sie setzen nur noch einen weiteren Akzent: auf die lange, unbefristete Freizeit am Schluss.
Die Sache mit dem entspannten Ruhestand hat nur leider einen Haken. Gesellschaftlicher Konsens hin, Wertvorstellungen her: Den Luxus, frühzeitig und fit die Arbeit den anderen zu überlassen, muss man sich erst mal leisten können. Wegen des demografischen Wandels wird das Loch in der Rentenkasse immer größer. Dank langer Lebenserwartung, kombiniert mit einer niedrigen Geburtenrate, steigt in Frankreich der Finanzbedarf für die Rente in absehbarer Zeit so stark, dass es so tatsächlich nicht mehr weitergehen kann.
Daraus ergibt sich für die Politik eine Aufgabe, die unattraktiver gar nicht sein könnte: Es muss sich endlich mal jemand an das heikle Thema heranwagen, wohl wissend, dass der Sturm der Entrüstung nicht lange auf sich warten lässt. Wer an der frühen Rente sägt, darf an seiner Wiederwahl nicht allzu sehr hängen. Das erklärt, warum Monsieur Macron nun furchtloser als je zuvor den großen Anlauf wagt: Nach zwei Amtszeiten ist eine weitere für ihn eh nicht mehr drin, so will es die Verfassung. In seinem Auftrag packt Premierministerin Élisabeth Borne deshalb nun ein Projekt an, das unpopulärer ist als einst in Deutschland die Hartz-Reformen der Schröder-SPD. Die Sozialdemokraten leiteten damit damals ihren langen Niedergang an der Wahlurne ein. Es ist keine besonders gewagte Prognose, dass es – sollte sie die Reform wirklich durchziehen – Macrons Partei ähnlich ergehen wird.
Frankreich steht nun ein langer, harter Showdown bevor. Einerseits ist der verschobene Ruhestand notwendig, andererseits lehnt die große Mehrheit der Bevölkerung ihn aus durchaus nachvollziehbaren Gründen kategorisch ab. Die Fetzen werden also fliegen, bis hinüber zu uns nach Deutschland. Denn Macrons Lager muss wilde politische Manöver veranstalten, um die verhasste Rentenreform im Parlament durchzubekommen. Der Partei fehlt dort eine eigene Mehrheit. Die riskante Operation kann trotzdem gelingen – oder heftig nach hinten losgehen. Ein Fiasko mit Neuwahlen ist nämlich ebenfalls drin.
In der aufgeheizten Atmosphäre dürften davon die politischen Ränder profitieren: Die Rechtsradikalen um Marine Le Pen und die Linksradikalen um Jean-Luc Mélenchon wittern schon jetzt ihre große Chance. Die Franzosen und ihre Rente gehen deshalb ganz Europa etwas an. Es werden Weichen gestellt, nicht nur über den ersehnten Ruhestand.
Was für ein Frankreich werden wir bekommen? Darüber kann man beim Morgenkaffee nachdenken. Oder bei einem Beruhigungstee.
Große Erleichterung
Apropos Kaffee: Manchmal kam es mir zuletzt so vor, als sei ich in einer Zeitschleife gefangen. Aufstehen (viel zu früh), Tasse Kaffee (Hochland aus Stuttgart oder Crema Monaco vom Viktualienmarkt), zum Bahnhof hasten (gähnend), Zugwaggon suchen (und manchmal auch finden), einstei … nee! ACHTUNG! Erst die MASKE!!
Ach ja, die Maske. Wo ist das Ding nun wieder? Kruschteln in der linken Jackentasche, fummeln in der rechten. Gefunden, aber Bändel im Schlüsselbund verheddert (immer!), rausfriemeln, aufsetzen, dann los! Nach spätestens 20 Minuten Druck hinterm Ohr wegen dem zu engen Bändel, beschlagene Lesebrille sowieso (die Augen wollen nicht mehr so wie früher, ächz). Also Maske hin und her schieben – zack: Rüffel von der Schaffnerin! Ja, ja, Sie ham ja recht, also das Ding brav wieder auf die Nase drücken und weiter geht die Fahrt. So lief das monate-, gefühlt eher jahrelang. Ich wage zu behaupten, dass wohl nicht nur ich von der ewigen Wiederholung ermattet bin.
Aber heute fallen die Masken! Im gesamten Fernverkehr ist die Maskenpflicht ab diesem Donnerstag passé (im Nahverkehr ist sie's ohnehin schon). Corona ist noch nicht vorbei, aber es hat seinen Schrecken für die allermeisten Leute verloren. Nach all den Monaten, in denen wir uns die Visage gewissenhaft verhüllt haben (was ja sinnvoll war), dürfen wir das als große Erleichterung genießen. Wie passend, dass sie uns ausgerechnet heute ereilt, am 2. Februar, dem Murmeltiertag. An dem die netten Nager das Ende des Winters voraussagen und der adrette Bill Murray im vielleicht schönsten Happy End der Filmgeschichte die ewige Wiederholungsschleife überwindet. Also runter mit dem Ding!
Amerika entscheidet, Europa folgt
Die amerikanische Notenbank beließ es gestern bei einer Mini-Zinserhöhung um 0,25 Prozentpunkte. Nun liegt der US-Leitzins in der Spanne von 4,5 bis 4,75 Prozent. Die Europäische Zentralbank dürfte heute folgen – womöglich aber mit einem größeren Schritt. Schließlich ist der Leitzins im Euroraum mit 2,5 Prozent immer noch vergleichsweise moderat. EZB-Präsidentin Christine Lagarde tut sich schwer, die Inflation in den Griff zu bekommen. Immerhin scheint sie nun nicht mehr blind ihrem Chefökonomen Philip Lane zu folgen, der zu lange auf niedrige Zinsen und den grenzenlosen Staatsanleihenkauf setzte.
Mann von gestern
Vor 80 Jahren siegte die Rote Armee in Stalingrad. Die Niederlage der deutschen Wehrmacht galt als Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Zur Gedenkfeier in der Stadt, die nun Wolgograd heißt, kommt auch Russlands Präsident Putin. Damals stand der Kreml auf der Seite der Gerechten. Heute ist er der Verbrecher.
Was lesen und hören?
Die Leseempfehlungen sind heute Bastian-Brauns-Festspiele: Im ersten Text berichtet unser Washington-Korrespondent, warum in der US-Regierung plötzlich große Verstimmung über Kanzler Scholz herrscht. Wie das Kanzleramt Außenministerin Annalena Baerbock im Panzerstreit ausmanövrierte, erklärt er Ihnen gemeinsam mit Patrick Diekmann. Und warum sich Wirtschaftsminister Robert Habeck heute auf eine historische Mission begibt, beschreibt er gemeinsam mit Johannes Bebermeier.
Warum gibt es in Hamburg plötzlich so viele Schießereien? Unsere Rechercheure Gregory Dauber und Carsten Janz sind einer beunruhigenden Entwicklung nachgegangen.
Nach so viel Text gibt's was auf die Ohren: In unserem neuen Podcast "Grünes Licht" bekommen Sie von unserer Audioredakteurin Alexandra Schaller Tipps, wie Sie Ihren Alltag umweltverträglich gestalten können.
Was amüsiert mich?
Andere Länder, andere Sitten.
Ich wünsche Ihnen einen gesitteten Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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