Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das ist die Kirsche auf der Torte des Versagens
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
der Kanzler steht jetzt maximal unter Druck. Denn das Amt des Verteidigungsministers ist in diesen historischen Krisenzeiten das wichtigste seiner Regierung – und Christine Lambrecht will es möglichst schnell loswerden. Weil die Nachricht seit Freitagabend kursiert und von niemandem dementiert wurde, dürfte es jetzt schnell gehen mit dem Wechsel. Der ARD zufolge will Lambrecht schon heute Morgen zurücktreten, womöglich nur mit einem schriftlichen Statement.
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Ein Nachfolger drängte sich am Wochenende nicht auf. Das erstaunt, denn Lambrechts Schritt kommt nicht überraschend. Kein Minister der Ampel lieferte so zuverlässig Negativschlagzeilen wie sie. Ob ihr bizarr anmutendes Silvestervideo, der Truppenbesuch im Wüstensand von Mali auf hohen Absätzen oder das Foto vom Helikopterflug mit ihrem Sohn – all das sorgte in der Öffentlichkeit regelmäßig für Kopfschütteln.
Diese Beispiele sind allerdings nur die Kirschen auf der mehrstöckigen Torte des Versagens. Wesentlich gefährlicher als diese Pannen sind Lambrechts Fehler in der inhaltlichen Arbeit: So weigerte sie sich mit beachtlicher Chuzpe, sich in ihr eigenes Ressort einzuarbeiten und brachte ihren Stab durch Ahnungslosigkeit immer wieder in die Bredouille.
Im Streit um die Puma-Panzer ging sie zuletzt trotzdem öffentlich auf Konfrontation mit Rüstungsunternehmen, um am Ende damit aber nur zu offenbaren, wie wenig sie mit der so wichtigen Branche klarkommt. Im eigenen Ministerium attestieren Angestellte ihr derweil laut "Spiegel" trotz eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro eine "palliative Amtsführung" – also eine Sterbebegleitung bis zum Tod der Bundeswehr. Verheerender kann das Urteil für einen Behördenchef kaum ausfallen.
Dabei ist Lambrecht nicht die erste Fehlbesetzung im Verteidigungsministerium. Auch die Bilanz ihrer Vorgänger aus der Union liest sich bescheiden: Blass und glanzlos regierte vor Lambrecht Annegret Kramp-Karrenbauer. Ursula von der Leyen sorgte zwar stets für schöne Bilder, aber jenseits des Hochglanzes in eigener Sache erreichte sie nicht viel. Thomas de Maizière und Karl-Theodor zu Guttenberg setzten zwar Reformen um, diese gingen allerdings in die falsche Richtung: Sie schrumpften die Bundeswehr, akzeptierten Kürzungen im Haushalt, schafften Führungsstrukturen ab, ohne bessere zu schaffen.
Seit der Wiedervereinigung wurde die Bundeswehr zumeist ihrem eigenen Schicksal überlassen. Man musste sie irgendwie haben, aber niemand kümmerte sich so richtig. Die heutigen Probleme resultieren aus Jahrzehnten des Missmanagements. Weswegen der Posten als Verteidigungsminister unter Politikern als Schleudersitz gilt, also tunlichst gemieden werden sollte, wenn man karrieretechnisch noch etwas vorhat.
Damit muss jetzt Schluss sein. Putin führt Krieg gegen die Ukraine – und damit gegen das demokratische Europa. Vor allem Länder in Osteuropa fürchten, das nächste Opfer des Moskauer Autokraten zu werden. Sie rüsten auf. Und auch die Nato fordert von Deutschland mehr ein als Sonntagsreden. Die Bundesregierung muss deshalb liefern, für die Partner, für die eigene Sicherheit, vor allem aber für die eigenen Soldaten. Die "Zeitenwende", die der Kanzler der Truppe versprochen hat, muss jetzt endlich kommen.
Es braucht als Verteidigungsminister nun jemanden, der die zusätzlichen Milliarden gezielt investiert, der anpacken und tatsächlich verändern will, der vor Konflikten nicht zurückschreckt und sich sicher auf dem internationalen Parkett bewegt. Meine Kollegin Miriam Hollstein hat die zentralen Anforderungen an den nächsten Verteidigungsminister hier ausführlich analysiert.
Bei der Wahl des Nachfolgers muss Scholz sich von Paritäts- und Proporzüberlegungen unabhängig machen, wie mein Kollege Bastian Brauns kommentiert. Und er hat absolut recht. Die Ernennung des nächsten Ministers muss der lang ersehnte Tag X für die Truppe sein, der Start in eine hellere Zukunft.
Kurz gesagt: Scholz' Schuss muss dieses Mal sitzen.
Ob dem Kanzler eine solche Wahl gelingt, ist noch unklar. Auf der Liste der Kandidaten, die öffentlich gehandelt werden, findet sich zu jedem Namen mindestens ein entscheidender Nachteil:
Eva Högl, seit 2020 Wehrbeauftragte, hat sich in kurzer Zeit gut eingearbeitet und weiß, wo den Soldaten die Schuhe am meisten drücken. Högl war allerdings schon bei der Bildung der Ampel eine Anwärterin. Offenbar traute Scholz ihr den Job damals nicht zu.
Siemtje Möller beschäftigt sich als parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium seit 2021 intensiv mit der Truppe. Ob sie allerdings auch als Chefin des schwierigen Ressorts insgesamt bestehen kann, ist offen. Es kann gutgehen, aber eben auch nicht.
Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt ist Scholz' engster Vertrauter, er braucht ihn, um die fragile Koalition zusammenzuhalten. Sein Wechsel an die Spitze eines Fachressorts ist deswegen unwahrscheinlich.
Lars Klingbeil kennt sich mit Sicherheitspolitik aus. Ob er den für ihn attraktiven Posten des SPD-Chefs aber für den riskanten Job als Verteidigungsminister aufgeben würde, ist fraglich.
Arbeitsminister Hubertus Heil liefert in seinem Ressort konstant saubere Arbeit ab. Deswegen trauen ihm viele auch das schwierigere Verteidigungsressort zu. Heil ist allerdings fachfremd, er müsste sich zuerst einmal einarbeiten.
Ob Scholz am Ende nicht doch noch jemanden aus dem Hut zaubert, ist offen. Aber er muss nun schnell entscheiden, denn das Durchsickern von Lambrechts Rücktrittswünschen verbietet ein Zögern. Bereits am Freitag wird auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein vielleicht endgültig die Frage verhandelt, ob Deutschland und die Bündnispartner schwere Kampfpanzer in die Ukraine liefern. Eine Ministerin, die keine mehr sein will, sollte da eigentlich nicht mehr mit am Tisch sitzen.
Überhastig reagieren muss Scholz allerdings auch nicht. Qualität geht besonders in diesem Fall vor Schnelligkeit. Und alle wichtigen Rüstungsfragen wurden bereits in den vergangenen Monaten im Kanzleramt getroffen.
Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt könnte zum Beispiel kurzfristig – und für eine begrenzte Zeit – das Verteidigungsressort mit übernehmen, bis ein Nachfolger gefunden ist. Dann wäre zumindest sichergestellt, dass sich die Truppe nicht mehr für ihre Chefin schämen muss.
Was heute wichtig wird
Bundeskanzler Olaf Scholz besucht in Ulm den Rüstungskonzern Hensoldt. Der produziert für die Bundeswehr unter anderem militärische Radartechnik, mit der sich See- und Lufträume überwachen lassen. Ein öffentlicher Auftritt ist nicht geplant.
Außenministerin Annalena Baerbock reist zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Sie spricht dort mit dem Präsidenten sowie deutschen Richtern und wird eine Rede dazu halten, wie internationales Recht in Krisenzeiten gestärkt werden kann.
Das EU-Parlament tagt zum ersten Mal in diesem Jahr und arbeitet seinen bisher größten Korruptionsskandal weiter auf: Die Immunität von vier Abgeordneten soll aufgehoben werden, zwei davon stehen im Zusammenhang mit dem Skandal um EU-Vizeparlamentspräsidentin Eva Kaili.
Niemand saß länger im Deutschen Bundestag als Wolfgang Schäuble. 1972 zog er erstmals ins Parlament ein, nun wird er dort mit einer Festmatinee geehrt. CDU-Chef Friedrich Merz sowie der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki halten eine Rede.
Was lesen?
Der Bundestag ist zu groß, doch eine Reform des Wahlrechts ist hochumstritten. Nun legen die Ampelparteien einen Gesetzentwurf vor. Der Union wird das nicht gefallen, analysiert mein Kollege Johannes Bebermeier.
Wie sich die Klimaaktivisten der "Letzten Generation" genau finanzieren und von wem sie Geld erhalten – darüber gibt es viele Spekulationen. Im Exklusivinterview mit meinem Kollegen Stefan Simon brechen führende Köpfe der Gruppe ihr Schweigen.
Die Welt hofft auf Frieden in der Ukraine. Aber mit Wladimir Putin sitzt ein Mann an der Spitze des Kremlregimes, für den der Krieg endlos so weitergehen könnte. Warum, erklärt Ihnen unser Kolumnist Wladimir Kaminer.
Liberia schöpfte 2006 Hoffnung, als Ellen Johnson Sirleaf zur ersten Präsidentin des Staates gewählt wurde. Doch die Politikerin enttäuschte in mancher Hinsicht. Mehr lesen Sie hier.
Was mich amüsiert
Wer sich so alles als Lambrechts Nachfolgerin bewerben könnte:
Ich wünsche Ihnen einen fantastischen Start in die Woche. Morgen begleitet Sie Florian Harms wieder in den Tag.
Herzlichst,
Ihre Annika Leister
Redakteurin Politik
Twitter: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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