Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Deutschland im Krisensturm
Guten Morgen und ein frohes neues Jahr, liebe Leserin, lieber Leser,
was wird das für ein Jahr, dieses 2023? Wild hat es begonnen, die Debatte über die Silvesterkrawalle in deutschen Großstädten zieht auch zehn Tage später noch Kreise. In der Ukraine rennen russische Verbände aus Hauruck-Mobilisierten und freigelassenen Kriminellen ins Verderben und richten dabei selbst Verderben an. Hierzulande sorgen sich Millionen Bürger um ihr Auskommen angesichts der immer noch hohen Inflation. Wer ohnehin wenig im Geldbeutel hat, kann nur hoffen, dass die Gas- und Strompreisbremsen im Frühjahr halten, was sie versprechen. Und dann kommen auch noch beunruhigende Nachrichten wie am Wochenende: Im Ruhrpott hat die Polizei offenbar einen islamistischen Anschlag verhindert. Der Verdächtige soll versucht haben, sich Gifte zu beschaffen, die auch in biologischen Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen.
Was für ein Jahr wird dieses 2023? Schockgeschüttelt und angstbesetzt wie 2022, eine Verlängerung oder gar Verschlimmerung der Krisenzeit? Liest man dieser Tage Leitartikel, horcht auf die Sätze von Spitzenpolitikern und lauscht auf Gespräche an der Supermarktkasse, kann man durchaus den Eindruck bekommen, uns stünden noch viel üblere Monate bevor.
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Das kann, muss aber nicht sein. Es ist durchaus möglich, dass die endlich zugesagten westlichen Kampfpanzer und Raketen den Ukrainern den entscheidenden Vorteil bei der Abwehr der russischen Aggressoren verschaffen. Dass die milliardenschweren Entlastungspakete der Bundesregierung wirklich wirken. Dass die Regierenden die jüngsten Warnungen der Wissenschaftler vor einer neuen Rekordhitzeperiode zum Anlass nehmen, den Klimaschutz endlich entschlossener anzupacken. Dass sogar die FDP versteht, warum ihr Verkehrsminister Wissing nicht mit immer neuen Ausreden um den heißen Brei herumschleichen kann. Und zeigt nicht der Fahndungserfolg im Ruhrgebiet, dass die Sicherheitsdienste gute Arbeit leisten? Der Hinweis auf den Terrorverdächtigen soll von einem "befreundeten Geheimdienst" gekommen sein. Die Amis hören dank ihrer weltweiten Überwachungssysteme mittlerweile ja jeden Pieps.
Ob 2023 ein Jahr der Plagen wird oder ein Jahr des Aufbruchs, hängt nicht nur von einzelnen Ereignissen ab. Sondern auch von unserer Einstellung, von unserer Wahrnehmung des Geschehens und von unseren Reaktionen. Dabei hilft es, den Blick über den Tellerrand der eigenen Befindlichkeiten zu weiten und das Heute in den Kontext der Zeitläufte einzuordnen. Dann relativiert sich manche Aufgeregtheit, und der Vergleich zeigt, wie stabil unser Gemeinwesen trotz des gegenwärtigen Krisensturms immer noch ist.
Werfen wir also einen Blick auf das Deutschland vor hundert Jahren. Auf das Jahr 1923, in dem unser Land von einer wahrlich brutalen Krisenkaskade erschüttert wurde:
11. Januar 1923: Nachdem Deutschland bei den Reparationszahlungen an die Siegermächte des Ersten Weltkriegs in Rückstand geraten ist, marschieren 60.000 französische und belgische Soldaten im Ruhrgebiet ein und besetzen die Herzkammer der deutschen Wirtschaft. Die Reichsregierung in Berlin stellt daraufhin sämtliche Reparationslieferungen ein. Kanzler Wilhelm Cuno verkündet den passiven Widerstand, das Wirtschaftsleben kommt zum Erliegen. Bei Demonstrationen und Streiks gibt es Tote. Radikale Kräfte profitieren von der Krise. In München hält die NSDAP ihren ersten Parteitag ab. Adolf Hitler hetzt gegen die Regierung, die SA marschiert auf. Die Münchner Polizei und die Reichswehr lassen die Extremisten gewähren.
Ab Anfang Februar wird aus dem Ruhrpott keine Kohle mehr ins restliche deutsche Reichsgebiet geliefert. Fabriken stellen den Betrieb ein, viele Menschen frieren. Die Regierung lässt immer mehr Geld drucken, um den Wirtschaftskreislauf aufrechtzuerhalten. Ein Dollar ist 41.500 Mark wert.
Im März beantragen SPD und DDP, alle Sturmtruppen der NSDAP aufzulösen. Die bayerische Landesregierung lehnt ab und lässt die Nazis weiter gewähren.
Im April stellt die deutsche Reichswehr ein Heer von "Zeitfreiwilligen" auf und rüstet die Männer mit heimlich gesammelten Waffen aus. Beides verletzt die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags.
Am 1. Mai lässt NSDAP-Chef Hitler 20.000 Nazischergen auf dem Münchner Oberwiesenfeld aufmarschieren, um die Maifeier der Sozialisten zu stören. Die Polizei schreitet ein und entwaffnet die Extremisten.
Anfang Juni steigt die Inflation weiter, für einen Dollar muss man nun 74.500 Mark berappen. Die Franzosen verschärfen die Abriegelung des Ruhrgebiets und verlangen für alle Einfuhren Zölle. Das Geld verliert weiter an Wert, Ende des Monats liegt der Umrechnungskurs zum Dollar schon bei 136.000 Mark. In Berlin veröffentlicht Arthur Moeller van den Bruck sein Buch "Das Dritte Reich", in dem er mit dem Parlamentarismus abrechnet und ein "neues Deutschland" beschwört.
Im Juli steht die deutsche Wirtschaft vor dem Kollaps. Der "Ruhrkampf" ist de facto verloren, die Reichsregierung muss enorme Summen für den Kauf von Kohle aus anderen Revieren ausgeben, um die Bevölkerung notdürftig zu versorgen. Die Notenpressen laufen heiß, die Inflation galoppiert. Ein Pfund Butter kostet 15.000 Mark, ein Pfund Kaffee 36.000 Mark. Immer mehr Deutsche hungern. Frauen warten vor den Fabriktoren, um den Tageslohn ihrer Männer sofort für Einkäufe auszugeben, bevor er nichts mehr wert ist. Die "Vossische Zeitung" berichtet über einen Chefarzt, der seine Privatklinik schließen musste und sich nun als Sänger in einem Nachtlokal verdingt. In Sachsen brechen Unruhen aus, es gibt Tote. Politiker warnen vor einem Bürgerkrieg.
Im August überspringt der Dollarkurs die Marke von 3,3 Millionen Reichsmark. US-Präsident Calvin Coolidge bietet eher halbherzig Hilfe bei der Lösung der deutschen Krise an. Nach Streiks, Hungerdemonstrationen und Plünderungen tritt Kanzler Cuno zurück. DVP-Chef Gustav Stresemann bildet eine große Koalition aus Sozialdemokraten, Zentrum, Demokraten und seiner Deutschen Volkspartei. Gleichzeitig erreichen Kunst und Kultur neue Höhepunkte. In Weimar eröffnet das Bauhaus seine erste Ausstellung, die Werke von Walter Gropius, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Oskar Schlemmer und ihren Mitstreiterinnen revolutionieren Architektur, Design und bildende Kunst. Im Berliner Tauentzienpalast wird die Verfilmung von Thomas Manns Jahrhundertroman "Buddenbrooks" uraufgeführt.
Am 2. September agitiert Adolf Hitler beim "Deutschen Tag" in Nürnberg gegen die Reichsregierung. Kanzler Stresemann unterbreitet Frankreich ein Verständigungsangebot zur Lösung der Ruhrkrise. Obgleich er keinerlei Zugeständnisse aus Paris erhält, verkündet er das Ende des passiven Widerstands. Das nationalistisch aufgeheizte Bayern widersetzt sich und verhängt den Ausnahmezustand. Der rechtsgerichtete Politiker Gustav von Kahr bekommt diktatorische Vollmachten. Reichspräsident Friedrich Ebert reagiert seinerseits mit einem Ausnahmezustand für ganz Deutschland. Die Mark verliert weiter an Wert, der Kurs zum Dollar steht nun schon bei 50 Millionen Mark.
Im Oktober droht Deutschland auseinanderzubrechen. In Bayern, Thüringen, Sachsen und im Rheinland agitieren Separatisten. Sowohl Rechtsextremisten als auch Kommunisten torpedieren alle Versuche der Reichsregierung, das Land zu beruhigen. Die Reichswehr marschiert in Dresden ein, in Hamburg gibt es Straßenkämpfe. Die Berliner Bevölkerung hungert, Polizisten bewachen die Kartoffeläcker im Umland vor Dieben. Der Dollar steht bei 40 Milliarden Mark.
Am 8. November putscht Hitler in München. Er erklärt die bayerische Landesregierung für abgesetzt und zieht am Folgetag mit SA-Männern zur Feldherrnhalle. Nationalistische Politiker wie Kahr und Ludendorff unterstützen ihn, einige machen dann aber doch einen Rückzieher. Die Polizei vertreibt die Putschisten, Hitler und Ludendorff werden verhaftet. Ende des Monats stürzen die Sozialdemokraten im Reichstag Kanzler Stresemann durch ein Misstrauensvotum. Mit der Ausgabe der Rentenmark endet die Inflation. Der französische Ministerpräsident räumt ein: Die Ruhrbesetzung hat Frankreich zwar 520 Millionen Franc eingebracht – aber 691 Millionen gekostet.
Im Dezember erreicht die Arbeitslosigkeit einen neuen Höhepunkt. Der Staat ist so klamm, dass er seine Beamten nicht mehr voll bezahlen kann. Vielerorts hungern die Bürger. Das Internationale Rote Kreuz ruft zu Sammlungen für Deutschland auf. Auch in den folgenden Monaten und Jahren kommt das Land nicht zur Ruhe. Am Ende zerbricht die Weimarer Republik an ihren Feinden; die Nazis übernehmen die Macht.
Wie unter einem Brennglas haben sich im Jahr 1923 die deutschen Zeitläufte verdichtet: Die Folgen des Ersten Weltkriegs, wirtschaftliche Not, Inflation, rechte und linke Extremisten trieben das Land in die Krise – während mutige Demokraten wie Ebert und Stresemann versuchten, Recht und Ordnung in der jungen Republik aufrechtzuerhalten.
Auch heute ist Deutschland schweren Krisen ausgesetzt. Aber im Vergleich zur Zeit vor hundert Jahren ist es ungleich stabiler, wohlhabender und demokratisch gefestigt. Das ist nicht selbstverständlich, es erfordert den unermüdlichen Einsatz aller Demokraten. Solange dieser Konsens trägt, können wir auch heftige Stürme überstehen. Wie tröstlich.
Kampf um die Bagger
Robert Habeck hat die Vereinbarung persönlich geschlossen: Mit dem Energiekonzern RWE und seiner NRW-Amtskollegin Mona Neubaur verständigte sich der grüne Wirtschaftsminister darauf, dass das Braunkohledorf Lützerath abgebaggert werden darf – dafür aber der Kohleausstieg im Rheinischen Revier um acht Jahre vorgezogen wird, auf 2030.
Doch der vermeintliche Erfolg könnte sich für die Grünen noch als toxisch erweisen: Immer mehr Anhänger bezweifeln die Zahlen, mit denen der Kuhhandel gerechtfertigt wird. Zudem ist die Räumung womöglich gar nicht legal, wie mein Kollege Tobias Eßer berichtet. Heute Mittag will die Aachener Polizei Details des bevorstehenden Räumungseinsatzes bekannt geben. Deren Präsident Dirk Weinspach ist übrigens selbst bekennender Grüner.
Was lesen?
Szenen wie beim Sturm auf das US-Kapitol: Eine Woche nach dem Ende der Amtszeit von Jair Bolsonaro haben radikale Anhänger des früheren brasilianischen Präsidenten das Regierungsviertel in der Hauptstadt Brasília gestürmt. Die Polizei konnte die Lage nur langsam unter Kontrolle bringen.
In Deutschland ist es zum Volkssport geworden, über die Regierung zu schimpfen. Warum mehr Nachsicht angebracht wäre, erläutert Ihnen unser Kolumnist Gerhard Spörl.
In einem autobiografischen Roman rechnet Prinz Harry mit den britischen Royals ab. In der vergangenen Nacht hat er sich einem Fernsehinterview gestellt. Mein Kollege Steven Sowa erklärt Ihnen, was davon zu halten ist.
Kremlchef Putin eskaliert den Ukraine-Krieg: Angeblich will er nun eine halbe Million Russen zum Kriegsdienst zwingen, berichten meine Kollegen Clara Lipkowski und Daniel Mützel.
Was amüsiert mich?
Gute Nachricht von Herrn Habeck!
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Wochenbeginn und bedanke mich für die vielen netten Zuschriften in den vergangenen Wochen.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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