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Ab jetzt acht Milliarden Menschen auf der Welt: So geht's nicht weiter


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Tagesanbruch
So geht es nicht weiter

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.11.2022Lesedauer: 5 Min.
Krankenschwestern versorgen ein Neugeborenes in einem Krankenhaus südlich von Peking.Vergrößern des Bildes
Krankenschwestern versorgen ein Neugeborenes in einem Krankenhaus südlich von Peking. (Quelle: Jia Minjie/XinHua/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

an manchen Tagen fallen mehrere bedeutende Ereignisse zusammen. Heute ist so ein Tag. Unkontrolliertes Wachstum lässt sich nicht exakt beziffern, das liegt in der Natur der Sache, und zum Glück tragen wir noch keinen Chip unter der Haut, mit dessen Hilfe eine globale Statistikbehörde unsere bloße Existenz nachverfolgen könnte. Deshalb haben die Vereinten Nationen für das Überschreiten der historischen Marke einen Stichtag angesetzt. Ob er genau zutrifft oder ob die Zäsur schon vor einer Woche stattfand oder erst in zweien erreicht wird, spielt keine Rolle. Die Tatsache an sich ist brisant genug, und weil wir Zweibeiner Symbole brauchen, um die Welt zu verstehen, haben die UN-Leute diesen 15. November 2022 zum mahnenden Symbol auserkoren.

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Um uns Zweibeiner geht es nämlich: Ab heute leben zum ersten Mal in der Geschichte des Homo sapiens mehr als acht Milliarden Menschen auf der Erde. Wir vermehren uns rasant, seit 1950 hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdreifacht. Die menschliche Bevölkerung wohlgemerkt, denn die tierische rotten wir in derselben Maßlosigkeit aus, mit der wir uns selbst auf dem Planeten breitmachen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari beschreibt das anschaulich in seinem Bestseller "Eine kurze Geschichte der Menschheit": Überall, wo der moderne Mensch in den vergangenen Jahrtausenden aufgetaucht ist, hat er andere Arten erst verdrängt und dann ausgerottet – wobei er auch vor Artverwandten wie dem Neandertaler nicht Halt machte. In vier Entwicklungssprüngen schwang er sich zum Alleinherrscher über die Welt auf: angefangen mit der kognitiven Revolution vor 70.000 Jahren, gefolgt von der landwirtschaftlichen Revolution um 10.000 v. Chr. und der revolutionären Vereinigung der Menschheit durch Geld, Imperien und Weltreligionen ab 800 v. Chr. bis zur wissenschaftlichen Revolution ab dem 16. Jahrhundert.

Rein biologisch betrachtet ist die menschliche Entwicklung eine beispiellose Erfolgsstory: Wir sind die unangefochtenen Chefs auf dem Planeten, wir haben die Macht, alles nach unserem Willen zu gestalten, wir vermehren uns wie früher die Karnickel.

Genau dieser Erfolg ist unser größtes Problem: Weil jeder dieser selbstbewussten, erfolgsorientierten Zweibeiner gut und reichlich essen, ein Haus aus Stein oder Beton bewohnen, mit dem Auto umherflitzen, auf einem Smartphone rumdaddeln und am liebsten auch noch Urlaub in anderen Gefilden machen möchte, überfordern wir die natürlichen Ressourcen der Erde um ein Vielfaches. Besonders schlimm treiben es die Reichsten der Reichen, die zigfach mehr Treibhausgase verursachen als der Rest der Spezies. Aber auch wir Normalos schlagen über die Stränge. Erst haben die westlichen Industrieländer die Umwelt durch eine zweihundertjährige Wohlstandsrevolution an den Rand des Kollapses getrieben, nun geben ihr die aufstrebenden Schwellenländer wie China und Indien den Rest.

Wohin das führt, können wir jeden Tag in den Nachrichten lesen, und es ist eine seltsame Begleiterscheinung unseres Vernichtungsfeldzuges gegen unsere eigenen Lebensgrundlagen, dass die ständigen Hiobsbotschaften die meisten Menschen mittlerweile kaltlassen. Klimakrise? Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Artensterben? Ja, ja, schon gehört. Vermüllte Weltmeere? Schalt mal um. Falls es wirklich irgendwo einen Gott gibt, was bekanntlich Ansichtssache ist, dürfte er sich arg wundern über die fröhliche Kamikazemission, auf die sich seine Geschöpfe begeben haben: kollektiver Suizid, und viele haben auch noch Spaß dabei.

Oder kommt doch nicht alles so schlimm? Kriegen wir gerade noch die Kurve und lösen die gewaltigen Probleme, die wir durch unsere ungebremste Reproduktion und unsere Rücksichtslosigkeit selbst geschaffen haben? Auch darum geht es heute, und das ist die bemerkenswerte Koinzidenz an diesem 15. November 2022: Gleich auf mehreren internationalen Zusammenkünften können entscheidende Weichen für die Zukunft gestellt werden.

  • Auf dem G20-Gipfel in Indonesien sprechen die Chefs der einflussreichsten Staaten über die Ernährungs- und Energiesicherheit, über den Kampf gegen Pandemien und darüber, wie sich der russische Aggressor und die Gefahr eines Atomkriegs eindämmen lassen. US-Präsident Joe Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping haben gestern einen vielversprechenden Auftakt gemacht, als sie Drohungen mit Atomwaffen verurteilten.
  • Auf der Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen in Ägypten ringen knapp 200 Staaten darum, den Kampf gegen die Erderhitzung zu beschleunigen. Die Zeit drängt, denn die vergangenen sieben Jahre waren die wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. In Ostafrika hungern nach jahrelanger Trockenheit Hunderttausende, auch in Europa war der Sommer von Dürren geprägt.
  • Zeitgleich wird heute in Wilhelmshaven das erste Flüssiggas-Terminal eröffnet – als Notnagel gegen Putins Gasblockade ein Segen, im Hinblick auf die Klimaziele eine Tragödie. Weitere LNG-Terminals entstehen in Stade, Brunsbüttel und Lubmin.
  • In Brüssel entscheidet der Berufungsausschuss der EU-Kommission über eine verlängerte Zulassung von Glyphosat. Stand jetzt ist das Pflanzengift nur noch bis zum 15. Dezember in der EU erlaubt, doch Lobbyisten der Chemiefirmen drängen auf eine Verlängerung. Kritikern zufolge verursacht es Krebs und zerstört Lebensräume von Tieren – viele Bauern dagegen halten es für unverzichtbar, um genügend Getreide zu produzieren.

Vier Termine, ein Eindruck: Die Krisen nehmen zu, sie überlagern sich – und auf keine gibt es einfache Antworten. Suchen müssen wir sie trotzdem, und zwar dringend. Vielleicht hat ja irgendein Zweibeiner eine zündende Idee. Gibt ja genügend davon.


Unvergessen

Drei Tote, neun Schwerverletzte: Das war vor 30 Jahren die Bilanz des Neonazi-Angriffs auf zwei Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln, in denen türkische Familien wohnten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfängt heute Hinterbliebene des Brandanschlags.


Was lesen?


Die G20-Familie ist kaputt – doch das Treffen von Joe Biden und Xi Jinping ist ein positives Signal, das viele Beobachter nicht erwartet hatten. Das Scheitern des G20-Gipfels kann abgewendet werden, berichtet unser Reporter Patrick Diekmann aus Bali.

Viel wird beim G20-Gipfel auch über einen Mann gesprochen, der gar nicht anwesend ist: Der Westen sähe es gerne, wenn China zumindest ein wenig von Wladimir Putin abrücken würde. Tatsächlich ist Peking aber von Putin erpressbar, erklärte der Sinologe Klaus Mühlhahn im Interview mit unserem G20-Reporter Patrick Diekmann und Marc von Lüpke.


Sowohl mit Donald Trump als auch mit der Gerüchteschleuder Twitter könnte es bald zu Ende gehen. Ein Grund zur Freude, findet unser Kolumnist Christoph Schwennicke.


Was amüsiert mich?

Die "Montagsdemonstrationen" ziehen immer weniger Unzufriedene an.

Ich wünsche Ihnen einen zufriedenen Tag. Morgen schreibt David Schafbuch den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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