Grund der Ur-Katastrophe Erster Weltkrieg war leicht vermeidbar: "Europa hat sich verzockt"
Weit mehr als 25.000 Publikationen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs haben die Debatte nicht beendet. Zum hundertjährigen Gedenken lebt sie sogar neu auf. Der in London lehrende deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel erfährt das auch im Alltag: „Wenn ich mit meinem serbischen Kollegen beim Mittagessen leidenschaftlich Argumente austausche, stellt sich mitunter die Frage: Reden wir über den gleichen Krieg?“ Mit T-Online.de hat der Weltkriegsexperte unter anderem über die Schuldfrage gesprochen. Eine Zeitmaschine wäre hilfreich gewesen, sagt Neitzel und versteht, dass nach wie vor nationalistisch getrommelt wird.
Das Interview führte Marius Blume
Ist die These der deutschen Alleinschuld am Ersten Weltkrieg noch haltbar? Der amtierende britische Bildungsminister Michael Gove glaubt offenbar daran. Aber hatte nicht sein Land ebenso wie Russland, Österreich-Ungarn und Frankreich deutlich handfestere Gründe, Krieg zu führen?
Niemand hatte einen handfesten Grund für einen Krieg. Aber es entstand eine durch Hypernationalismus und Sozialdarwinismus genährte fatale Konstellation. Als der Globus aufgeteilt war, richtete sich der Blick wieder auf Europa. Krieg erschien bald zumindest wahrscheinlich und war eine anerkannt legitime Form der Politik.
Die Großmächte ließen sich bewusst auf ein Vabanquespiel ein und hofften, dass ein Akteur nachgeben, sich schon eine Lösung finden lassen würde. Die fiel dann militärisch aus, und der alte Kontinent verlor seine weltbeherrschende Stellung. Mit Beschwichtigungspolitik hätte man den Ersten Weltkrieg freilich leicht verhindern können. Zu Gove: Er ist ein Tory – da wundert es mich nicht, dass er ein nationales Narrativ verbreitet.
Warum hat Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ auch bei uns so einen Erfolg? Musste ein Angelsachse aussprechen, was viele Deutsche umtreibt?
Clark wird ja ganz unterschiedlich gelesen. Ich habe nach der Lektüre gedacht: Eigentlich hat er recht. Nur hätte sein Buch „The Gamblers“ heißen müssen: Meines Erachtens hat Europa sich verzockt.
Hat die Entente Cordiale zwischen den Erbfeinden England und Frankreich Deutschlands verhängnisvolle Isolation besiegelt?
Die Deutschen haben selbst zu ihrer Isolation beigetragen und schon im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Zwei- und Dreibund das Machtgleichgewicht ihrerseits gestört. Zudem: Die Entente fiel nicht vom Himmel. Das brüske deutsche Auftreten in den beiden Marokkokrisen war ein wesentlicher Grund für die enge Kooperation von Briten und Franzosen.
Die Triple Entente mit Russland ist wiederum aber auch ein wichtiger Faktor für die Destabilisierung des internationalen Systems. Sie trug ganz erheblich dazu bei, dass Deutsche und Österreicher sich in die Ecke gedrängt fühlten.
War das Attentat auf Franz Ferdinand ein willkommener Anlass oder hätte der Krieg ebenso gut durch die Marokko- und Balkankrisen ab 1905 ausbrechen können?
Ohne Frage sorgten schon die beiden Balkankriege 1912/13 für eine weitere Verschärfung der Lage. Wenn Belgrad mit Wien auf Konfrontationskurs gegangen wäre, hätte bereits damals eine verhängnisvolle Ereignisfolge eintreten können. Für mich war es zwar nicht unvermeidlich, aber auch kein Wunder, dass die Welt 1914 wieder kriegerisch wurde.
Es grenzt ob der allerdilettantischsten Vorbereitungen aber an ein Wunder, dass der Attentäter Gavrilo Princip erfolgreich war. Es gibt Deutungsmuster, die sagen, dass der Kriegsausbruch Zufall war. So weit würde ich freilich nicht gehen. Für mich lag der Krieg in der Luft.
Das Wiener Ultimatum an Belgrad galt als unannehmbar. Hat die demutsvolle Antwort der Serben die Donaumonarchie konsterniert, weil dies einen gerechten Krieg verhinderte?
Serbien zu provozieren, war der letzte Versuch für einen legitimen Krieg. Nur, wenn ein Bösewicht auftritt, greift in der Logik des gerechten Krieges das ius ad bellum. Natürlich waren die Österreicher nun entschlossen, Krieg zu führen – einen lokalen. Wenn Briten, Franzosen und Russen Österreich-Ungarn das Recht absprachen, sich gegen das serbische Streben und die serbische Verwicklung in das Attentat zu behaupten, dann behandelten sie Österreich-Ungarn ungerechtfertigt als Großmacht niederen Ranges.
Auf der anderen Seite hatte Serbien seinerseits jedes Recht, seinen großserbischen Traum verwirklichen zu wollen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. konstatierte aufgrund der serbischen Depesche eher erleichtert, dass wohl noch nie ein Land so zu Kreuze gekrochen und der Kriegsgrund damit erledigt sei.
Offenbar waren die Streitkräfte auch im Sommer 1914 noch nicht auf einen Flächenbrand vorbereitet. Sie sprechen von planlosen Deutschen.
Als die Stunde gekommen war, hatte Deutschland noch gar keine Kriegsziele ersonnen. Und es gab keinen Masterplan, nicht einmal eine Defensivstrategie, sondern nur die Empfehlung von Generalstabschef Moltke. Die basierte auf einem Plan seines Vorgängers Schlieffen.
Danach sollte zuerst Frankreich in einer Zangenbewegung rasch geschlagen werden. Der Zweifrontenkrieg wäre verhindert worden, und man hätte sich gegen Russland wenden können. Der Plan führte an den Realitäten vorbei, und die misslungene Ausführung machte ihn noch schlechter.
Weder die staatlichen noch die militärischen Akteure ahnten das infernale Ausmaß von Tod und Zerstörung. Hätte eine bessere Einschätzung etwas an der Eskalation ändern können?
Ich glaube, ja. Wenn die Verantwortlichen in einer Zeitmaschine nach Verdun oder an die Somme hätten reisen können, wäre es wohl nicht so weit gekommen. Man darf davon ausgehen, dass die Staatsmänner – damals schon bedeutender als die Monarchen – anders gehandelt hätten.
„Bis Weihnachten seid Ihr wieder daheim“, war das Versprechen. Wer glaubte daran, und warum brach die Moral nicht?
Man stellt sich das immer so leicht vor. Aber abgesehen davon, dass Strukturen und Werte nicht aus heutiger, sondern aus damaliger Sicht zu betrachten sind, sprechen wir im Falle des militärischen Verbunds von einer totalen Organisation. Der Soldat tut das, was ihm befohlen wird. Das gilt auch für die Offiziere.
Nach Hause gehen ist keine Option. Meutereien oder Desertionen finden eher selten, und wenn, dann nicht an der Front sondern in der Etappe statt – im Streit um Urlaubsansprüche und dergleichen, aber nicht im Gefecht. Das lässt sich nur durch Befehl und Gehorsam führen.
Allerdings sind die intrinsisch motivierten Soldaten, die sich wie Ernst Jünger von Berufung und Kameradschaft leiten lassen, von der Mehrzahl der Mitläufer zu unterscheiden. Beispiele wie der Weihnachtsfrieden an der Westfront 1914 zeigen aber auch, obwohl sich so etwas nicht wiederholte, dass die zwischenmenschliche Moral selbst im Krieg trotz der Propagandawirkung und trotz des Hasses nicht vollends verloren ging.
Viele empfinden den Jubel nach der deutschen Kriegserklärung heute als verstörend. Aber das war eine aus damals legitimen Idealen geborene Haltung, die außerdem längst nicht für alle Bürger galt. Wird die Gesellschaft des Kaiserreichs zu Unrecht kollektiv verdammt?
Der Erste Weltkrieg wird von der heutigen Gesellschaft, schon aufgrund der Prägung durch den Zweiten Weltkrieg, natürlich anders gesehen als damals. Für Politiker und Militärs war Krieg selbstverständlich, und die Menschen dachten nicht an grausame, zersetzende vorherige Kriege wie die Napoleonischen, sondern an die kurzen Feldzüge von 1859, 1866 und 1870/71. Die Gefühlswelt in der Juli-Krise ist von der im August, zur Kriegserklärung, zu unterscheiden. Über diese jubelten hauptsächlich Bürger, Studenten und Schüler.
Wiederum retrospektiv wurde mit dem Kaiserreich später lange Zeit ausschließlich eine bestimmte politische Ausrichtung assoziiert – geprägt von widerlichen Konservativen und Nationalliberalen. Aber so einfach ist es nicht. Inzwischen haben wir eine weit vielfältigere, offenere Vorstellung vom Kaiserreich, dessen einfache Bürger, Arbeiter sowieso, Politiker und Intellektuelle keineswegs allesamt Kriegstreiber waren. Im Krieg jedoch war der nationale Gedanke schichtübergreifend bestimmend.
Ein in den Kabinettskriegen üblicher Ausgleich war nicht mehr möglich, nachdem die Fronten erstarrt waren. Es ging um den Kampf Gut gegen Böse, das kriegerische Germanentum gegen das perfide Albion – England. Massive Propaganda von unten und oben erhitzte die Gemüter.
Das Empire sah in den Deutschen keine echte Bedrohung seiner Weltmacht. Warum also investierten die Briten so viel, und wann wurde die deutsche Stärke nicht mehr unterschätzt?
Der entscheidende Wandel der britischen Wahrnehmung und Politik ist meines Erachtens mit dem Wahlsieg der Liberalen 1906 verbunden. Außenminister Edward Grey trieb dann die Abkehr von der bündnisfreien splendid isolation weiter voran. Bis zur Gründung der Triple Entente gingen die Briten davon aus, unweigerlich Krieg gegen das Zarenreich und oder Deutschland führen zu müssen.
In der Tat wurde das Deutsche Reich nicht als Bedrohung, aber als aggressiver Störfaktor empfunden. Dabei durchstieß zwar beispielsweise die deutsche Bagdad-Bahn englische Gebiete im Orient, aber was sollte sie denn anrichten? Die Briten hätten genauso gut sagen können: Baut sie bis Basra – macht doch, was Ihr wollt. Doch Grey und andere nutzten vor allem die Flottenpolitik, um eine Angst vor dem deutschen Gespenst und dessen angeblichen Invasionsplänen zu schüren.
London hätte Berlin als Juniorpartner akzeptiert, gestand ihm aber keine eigenen Weltmacht-Ambitionen zu. Letztlich ließ Großbritannien es 1914 ohne Not aus einem Überlegenheitsgefühl heraus auf die Konfrontation ankommen.
Zum hundertjährigen Gedenken wollen die Serben sich reinwaschen: Politiker, Medien, Historiker ereifern sich ultranationalistisch über die Schuldfrage. Wie ist das einzuordnen?
Als sehr nachvollziehbar. Sie und ich haben, jeder Akteur hat subjektive Sinnstiftungen. Wir wollen als nett und positiv wahrgenommen werden – trotz manch unebener Seiten. Es ist doch sehr verständlich, dass der Attentäter Princip in Serbien zum Nationalhelden stilisiert wird. So etwas stiftet Identität. Ich warne davor, als Historiker oder Bürger zu sagen: Wie können die nur? Jede Nation entwickelt ihre ganz eigenen Meistererzählungen.
Selbst wenn wir einen Dritten Weltkrieg ausschließen, gibt es noch viele Brandherde. Herfried Münkler erkennt in den Jugoslawienkriegen und aktuell dem chinesisch-japanischen Inselstreit Konstellationen, die 1914 fatale Folgen hatten – und erneut haben könnten?
Seinen Vergleich mit China finde ich sehr interessant. Dürfen wir den Chinesen wirklich einen eigenen Handlungsspielraum als internationale Macht verwehren? Aus chinesischer Sicht stellt sich vielleicht eher die Frage: Warum fliegen amerikanische B-52-Bomber über tausende Kilometer von US-Territorium entfernte Inseln?
Sollen sie diese Inseln doch beanspruchen, vielleicht macht das die Welt sicherer. Ich glaube nicht, dass die Chinesen Australien erobern und dort ihre Fahne pflanzen wollen. Auch, dass Putin das russische Narrativ alter Stärke und westlicher Einflussnahme transportiert, erscheint mir nicht verwunderlich.
Der renommierte Militärhistoriker Sönke Neitzel hat den Lehrstuhl für Internationale Geschichte an der London School of Economics and Political Science inne. Grundlegende Werke wie "Weltmacht oder Untergang", "Blut und Eisen" oder "Weltkrieg und Revolution" unterstreichen das Fachwissen des 45-jährigen gebürtigen Hamburgers.