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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gefährliche Hitze Das Drama in der Tiefe
Die Weltmeere sind zu heiß – und die Korallen sterben. Forscher und Meeresschützer versuchen zu retten, was zu retten ist. Doch die Prognose ist düster.
Der Urwald des Meeres stirbt – so fassen Forschende zusammen, was sie selbst kaum begreifen können. Ob vor den Küsten der USA oder im Mittelmeer: Um die Korallen steht es dramatisch.
Infolge der menschengemachten Klimakrise erhitzen sich die Ozeane immer weiter, die Tiere sind den höheren Temperaturen hilflos ausgesetzt, denn einfach davonschwimmen können sie schließlich nicht. Wissenschaftler und Korallenschützer rechnen deshalb mit einem neuen Massensterben.
Dabei geht um mehr als nur die bunten Riffe. Diese bedecken lediglich 0,2 Prozent des Meeresgrundes. Noch viel wichtiger: Sie beherbergen rund ein Viertel des Lebens in den Ozeanen. Auch Millionen Menschen hängen indirekt von ihnen ab: Fisch und andere Meerestiere, die in und an den Riffen leben, sind in vielen Regionen Grundnahrungsmittel, sie dienen den Küsten als Wellenbrecher und den Anwohnern als Einnahmequelle, weil sie Touristen anziehen.
Das Global Reef Monitoring Network und die International Coral Reef Initiative schätzten 2020 in einem gemeinsamen Bericht den Wert von Waren und Dienstleistungen im Zusammenhang mit Korallenriffen auf 2,7 Billionen US-Dollar (knapp 2,5 Milliarden Euro) im Jahr.
Schicksal auf der Kippe
Doch die Riffe sind so bedroht wie noch nie. 2018 stellten die Wissenschaftler des Weltklimarats der Vereinten Nationen fest, dass bei einer Erderhitzung von 1,5 Grad – dem ambitionierteren Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens – 70 bis 90 Prozent der weltweiten Korallen sterben würden. Bei 2 Grad, dem Mindest-Klimaziel, wären es als mehr 99 Prozent. Bisher hat sich die Erde um etwa 1,2 Grad erhitzt und steuert auf 2,7 Grad zu, weil die Klimaschutzmaßnahmen für die Pariser Ziele nicht ausreichen.
Für viele Korallen bedeutet das schon jetzt den Tod. Die durchschnittliche Oberflächentemperatur der Meere liegt auf Rekordniveau. Seit Mitte März übertraf jeder einzelne Tag alles bisher Gemessene – und gemessen wird seit 1982. Aktuell liegt die globale Durchschnittstemperatur an der Meeresoberfläche bei 21,1 Grad; fast ein Grad mehr als im Mittel der Jahre 1982 bis 2011.
Hälfte der weltweiten Korallen bereits verloren
"Grund ist die menschengemachte Erderwärmung", sagte Klimaforscher Mojib Latif vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung bereits Anfang August. "Über 90 Prozent der Wärme, die durch die menschengemachten Treibhausgase entsteht, speichern die Ozeane." Dazu kommt das natürliche Wetterphänomen El Niño, das die Ozeantemperaturen zusätzlich in die Höhe treibt – aber gerade erst beginnt.
Das Problem bei all dem: Korallen sind sensible Lebewesen, die nur unter spezifischen Bedingungen gedeihen können. Stimmen die nicht, geraten die Tiere unter Stress und stoßen die bunten Algen ab, mit denen sie in Symbiose leben. Dann fehlen ihnen jedoch Nährstoffe, mit denen die Algen sie versorgen – und die Farbe: Man spricht von Korallenbleichen. Seit den 1980er-Jahren gibt es davon immer mehr.
"Die Korallen hatten gar keine Chance zu bleichen"
Besonders deutlich werden die Folgen der marinen Hitze derzeit vor der Küste Floridas. Ende Juli wurde am Manatee Bay der Rekordwert von 38 Grad Wassertemperatur gemessen – beste Badewannentemperatur. Im trüben Wasser dort leben zwar keine Korallen, aber auch vor den Florida Keys, einer vorgelagerten Inselkette mit Korallenriffen, wurden teils bis zu 36 Grad gemessen.
Als Bailey Thomasson, Mitarbeiterin der Schutzorganisation Coral Restoration Foundation, am Sombrero Riff abtauchte, war sie deswegen zunächst positiv überrascht: Die Korallen erschienen als braun, nicht weiß. Doch dann folgte der Schock, wie sie der "New York Times" erzählte:
"Die Korallen hatten gar keine Chance zu bleichen. Sie sind einfach gestorben." Was braun von den Kalkskeletten der Tiere herabhing, war abgestorbenes Gewebe. "Ich dachte nur: Oh mein Gott, wir sind in der Apokalypse."
Auch im Korallen-"Kindergarten" der Organisation am Looe-Key-Riff habe es kaum besser ausgesehen, berichtete sie der Zeitung. Zwei Jahre lang hätten sie und ihre Kollegen dort die Nachzucht aufgebaut, 5.400 Korallenstücke sollten dort wachsen. Als sie im Juli herausfuhren, sahen sie das Weiß der ausgeblichenen Korallen schon vom Boot aus. Nach dem Auftauchen sei sie weinend zusammengebrochen, so Thomasson. "In Looe Key ist alles verloren", berichtete sie im Anschluss.
"Sie haben einfach aufgegeben"
Ähnliches erzählt Ian Enochs, Leiter des Korallenprogramms am Atlantic Oceanographic and Meteorological Laboratory (AOML) in Miami. Anfang August tauchte er am Cheeca-Rocks-Riff ab – eigentlich eines der am dichtesten bewachsenen und stabilsten Riffe in Florida. Doch was er sah, war die "totale Verwüstung": eine schockierende Korallenbleiche. Dem "Miami Herald" sagte er: "Es war buchstäblich jede einzelne Koralle. Sie haben einfach aufgegeben."
Die Korallenschützer an der US-Ostküste versuchen nun zu retten, was zu retten ist: Sie evakuieren Bruchstücke der Korallen in Tanks an Land, wo sie die Temperaturen kontrollieren können. Doch nicht nur Florida ist betroffen – im gesamten Golf von Mexiko und der Karibik sterben die Korallen, teils über Hunderte von Kilometern.
Korallen können der Hitze nicht entfliehen
Auch auf der anderen Seite des Atlantiks sind Forscher besorgt. Das Mittelmeer ist ebenfalls Heimat von Korallen – und auch hier wird ein Massensterben befürchtet. Ende Juli wurde mit 28,7 Grad die höchste mittlere Oberflächentemperatur seit Messbeginn im Jahr 1982 vermeldet.
Noch immer liegen die Temperaturen teils zwei bis drei Grad höher als für die Jahreszeit üblich – die höchsten Werte werden normalerweise ohnehin erst im August erreicht. Infolge der Klimakrise erwärmt sich das Mittelmeer besonders schnell.
"Vor 25 Jahren waren marine Hitzewellen Ausnahmen, jetzt werden sie zur Normalität", sagt Joachim Garrabou vom Institut für Meereswissenschaften (ICM) des Spanischen Nationalen Forschungsrats (CSIC). Die Korallen haben so kaum noch Zeit, sich zu erholen.
"In diesem Jahr ist die Lage noch schlimmer"
Erst im vergangenen Jahr habe das westliche Mittelmeer die schwerste marine Hitzewelle erlebt, die je aufgezeichnet wurde. Es kam zu einem Massensterben – also dem Tod von Tieren verschiedener Arten. In diesem Jahr sei es noch zu früh, um wieder von einem Massensterben zu sprechen, sagt Garrabou.
Die Folgen der Hitze sehe man frühestens Ende August. "Die Arten können der Hitze eine Zeit lang widerstehen, aber dann beginnen sie zu leiden." Aber die Aussichten sind schlecht. "In diesem Jahr ist die Lage noch schlimmer", so der Meeresforscher. Diesmal betreffe die Hitze das gesamte Mittelmeer.
Akut gefährdet sind zum Beispiel die Gorgonien, eine Weichkorallenart. Sie können teils mehr als 100 Jahre alt werden und wachsen nur langsam. Für die immer häufigeren marinen Hitzewellen sind sie deshalb besonders anfällig. "Viele Gorgonien-Populationen befinden sich auf dem Weg zum Zusammenbruch", so Garrabou.
"Wir verlieren die Ökosysteme"
Und die Gorgonien sind nur ein Beispiel – das gesamte Leben im Mittelmeer leidet. "Das ist so, als würde man einen Urwald mit jahrhundertealten Bäumen mit einer Wiese vergleichen", veranschaulicht Garrabou. "Wir hatten sehr komplexe Ökosysteme, die hohe Artenvielfalt beherbergten, und jetzt verlieren wir sie, zumindest in den flachen Gewässern." Diese sind der Hauptlebensraum der Korallen – und von den marinen Hitzewellen besonders betroffen.
Es brauche daher mehr Schutzgebiete, um die Auswirkungen der Klimakrise im Meer zumindest abzumildern, fordert der Spanier. "Obwohl Meeresschutzgebiete das Wasser nicht kühler machen können, sehen wir, dass sich streng geschützte Gebiete schneller und besser von menschlichen Störungen erholen." Dazu zählen neben den Folgen der Klimakrise auch Überfischung oder Verschmutzung – zusätzliche Stressfaktoren für die Ökosysteme.
Korallenschützerin Bailey Thomasson aus Florida setzt zudem auf Ursachenbekämpfung. Es liege jetzt an allen, Klimaschutzmaßnahmen einzufordern. "Nicht in einem Jahr, nicht morgen, sondern genau jetzt", sagte sie der "New York Times". "Eigentlich gestern."
- nytimes.com: "A Desperate Push to Save Florida’s Coral: Get It Out of the Sea" (Englisch)
- miamiherald.com: "Florida corals in hotter water than first thought. Scientists blame ‘weird phenomenon’" (Englisch)
- gcrmn.net: Status of Coral Reefs of the World: 2020 (Englisch)
- ipcc.ch: Special Report: Global Warming of 1,5 °C (Englisch)
- sciencemediacenter.de: "Hitze im Mittelmeer schädigt marine Ökosysteme"
- sciencenews.org: "Extreme ocean heat off Florida has ebbed. But for marine life, the danger remains" (Englisch)
- theguardian.com: "‘Huge’ coral bleaching unfolding across the Americas prompts fears of global tragedy" (Englisch)