"Miss DDR" Leticia Koffke Schönheitskönigin eines untergehenden Staates
Als Leticia Koffke im September 1990 zur ersten "Miss DDR" gekrönt wurde, gab es ein kleines Problem: Zwei Wochen später gab es das Land nicht mehr. Für Leticia Koffke ist es der Beginn einer neuen Karriere - wenn auch nur kurz als Model.
Leticia Koffke hat einen Titel mit Seltenheitswert: Sie war die erste und die letzte "Miss DDR", gekürt in der Umbruchzeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung.
Damals hätte sie sich nicht träumen lassen, dass dieser Sieg der Anfang ihrer ganz persönlichen Wende wird, ein Weg, der sie bis nach Mailand, New York und Istanbul führt. Nur mit Modeln hat das bald nichts mehr zu tun.
Nur der Vorname fällt auf
19 Jahre lang führt Leticia Koffke ein normales DDR-Leben in Brandenburg an der Havel. Die Mutter Krippenerzieherin, der Vater Koch, keine großen Sprünge. Nur ihr Vorname fällt auf, der Vater hat ihn ausgesucht. "Vielleicht lag es an der ganzen Gleichmacherei", mutmaßt sie. "Dass sich irgendetwas unterscheiden sollte, und sei es nur der Name."
Wenn sie sich später in der DDR unterscheidet, dann mit ihrer Kleidung. Sie entwirft und näht sie selbst, wie viele andere auch. Für sie ist es mehr als eine Notlösung, weil es kaum etwas Schickes zum Kaufen gibt. Kleidung bedeutet ihr etwas. Sie trage zum Selbstbewusstsein bei, sagt sie bis heute.
Ausbildung zur Krankenschwester
Nach der Schule beginnt sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Grau ist die Stadt Brandenburg, grau wie so viele andere DDR-Städte, wie das ganze Land. Doch so lange es kaum Vergleiche gibt, ist die Tristesse weniger spürbar. "Mir war schon klar, dass nicht alles okay war in der DDR, so wie sie war", erinnert sich Leticia Koffke an ihre Gefühle damals. "Aber ich hatte mich eben damit arrangiert. Ich hatte auch nicht das dringende Bedürfnis, da raus zu müssen."
Am 9. November 1989 steht sie um 4 Uhr auf, sie hat Frühschicht als Schwesternschülerin. Abends ist sie todmüde und schläft. Ihr Freund weckt sie, als die ersten Bilder aus Berlin im Fernsehen flimmern, die Mauer ist auf, die Nation im Freudentaumel. Leticia Koffke freut sich auch, aber ihr Misstrauen sitzt tief. Vielleicht irgendein Irrtum und morgen ist die Grenze wieder dicht, denkt sie. Sie geht zur Frühschicht.
Miss-Wahl in Brandenburg: "So ein Quatsch"
Erst einige Tage später fährt sie nach Berlin, mit Thermoskanne und Butterbrot, damit das Begrüßungsgeld nicht für Essen und Getränke draufgeht. Ein neugieriger Blick ins KaDeWe und in andere Kaufhäuser. Schön ist er, der Westen, denkt sie. So bunt. Doch sie will die Ausbildung nicht abbrechen und rübermachen.
Die Tante aus Berlin bringt einen Zeitungsartikel über eine Miss-Wahl in Brandenburg an der Havel mit. Die Mutter sagt: "So ein Quatsch". Leticia Koffke aber denkt an Abwechslung. Sie schneidert sich Rock und Bluse, leiht sich schwarze Pumps.
Miss-Wahlen haben keinen guten Ruf
Miss-Wahlen haben Ende der 80er Jahre keinen guten Ruf. Die DDR-Regierung lehnte sie lange ab und setzt auf den "Held der Arbeit". Helden müssen nicht schön sein. Erst spät gibt es kleine Zugeständnisse wie Wahlen zur Miss Frühling oder Miss Sommer. In der Bundesrepublik laufen Feministinnen zu dieser Zeit Sturm gegen die "Fleischbeschau".
Für den Soziologen Veit Didczuneit, der über Miss-Wahlen geforscht hat, bleiben sie aber immer ein Unterhaltungsformat, das sein Publikum findet. Im Unterschied zum Glamour der 1920er und 1950er Jahre hängt den Wahlen in den späten 80ern in Westdeutschland allerdings schon eine Art "Friseusen-Image" an.
Die Konkurrenz der Schönen ist groß
Doch Ostdeutschland ist bei Miss-Wahlen völlig unverbraucht, Tausende bewerben sich. Es geht um kleine Gewinne, kleine Fluchten aus dem grauen Alltag. Vorurteile gibt es kaum. "Wer hatte denn als Ost-Frau Angst als dumm-niedliches Weibchen durchzugehen?", fragt Leticia Koffke und lacht. An FKK gewöhnt, kommen ihr die Badeanzüge für den Auftritt züchtig vor.
Mit langen blonden Haaren und guter Figur wird sie Zweite im Landesausscheid für Brandenburg und denkt sich wenig dabei. Sie steckt mitten in der Schwesternprüfung. Als sie Mitte September 1990 zur Wahl der "Miss DDR" nach Schwerin eingeladen wird, ist das Kleid geliehen und die Konkurrenz der Schönen groß.
Wer bucht die "Miss DDR"?
Dass es die DDR zwei Wochen später nicht mehr geben wird? Daran denkt sie nicht im Traum. Es gibt Wichtigeres. Im Krankenhaus arbeitet sie in der Gerontopsychiatrie, es ist ihre erste Stelle. Sie konnte sich die Station nicht aussuchen, muss sich auf Jahre verpflichten. Sie sieht nur alte Leute. "Einmal saß ich da im Spätdienst und dachte: Das kann doch nicht alles sein. Da muss noch was passieren." Nur was?
Die Antwort gibt sich Leticia Koffke selbst, als sie als völlig überraschte Siegerin der Schweriner Wahl noch am Abend einen Model-Vertrag unterschreibt. Einen ziemlich unwägbaren Vertrag: Wer bucht die "Miss DDR" - ohne DDR?
Umzug nach Oldenburg
Es folgen viele Telefonate, für die Leticia Koffke zu einer Telefonzelle in Brandenburg an der Havel läuft, eine halbe Stunde für die Leitung in den Westen ansteht - um dann von Model-Auftritten an Orten zu erfahren, die sie mit dem Zug nicht erreichen kann. Es ist Veranstalter Horst Klemmer in Oldenburg, der für seine "Miss DDR" improvisiert. Die Tochter ist gerade aus dem Haus, ihr Zimmer frei - Leticia Koffke zieht ein.
In Oldenburg lernt sie modeln, macht den Führerschein und fühlt sich in ihrer Ersatzfamilie gut aufgehoben. Ende 1990 gewinnt sie die Wahl zur Miss Germany - die erste gesamtdeutsche Siegerin seit Jahrzehnten. Ihr Bild ist in den Zeitungen.
In der Glitzerwelt des Westens
Der Titel "Miss DDR" verschwindet so schnell wie das Land. Leticia Koffke wird Teil der bunten Glitzerwelt des Westens, sie hat Auftritte in Mailand und New York. Sie verdient gutes Geld, verliebt sich und zieht zum neuen Partner in die Nähe von Düsseldorf.
Es ist Jahr eins nach der Wiedervereinigung - und der erste große Bruch. Leticia Koffke ist enttäuscht von den Westdeutschen. Sie findet, dass sie grundlos rumjammern, während im Osten viele Menschen ihre Arbeit verlieren. Sie stört sich an der Fixierung auf Materielles, an oberflächlichen Gesprächen. "Ich war einfach anders", sagt sie.
"Es war auch oberflächlich"
Sie hatte auf einen dritten Weg gehofft, darauf, dass zwei Staaten das Beste von sich zusammenwerfen und etwas Neues entsteht. Sie hätte gern ein paar Nischen aus der DDR behalten, das Gefühl, dass man nicht überall eine Maske tragen muss. Der Westen kommt ihr kalt vor. Auch das Modeln bringt sie mit der Zeit ins Grübeln. "Es war auch oberflächlich. Da geht es nur ums Aussehen. Ich wollte aber auch was leisten im Leben."
Zusammen mit ihrem Partner gründet Leticia Koffke im Jahr vier nach der Wiedervereinigung das Modelabel "Leticia K.". Mit ihrer zweijährigen Tochter zieht sie für die Produktion 1998 mit nach Istanbul. Als Anker in Deutschland mietet sie eine Wohnung - in Brandenburg an der Havel. Der Westen war ihr fremd geblieben.
Geld macht auch nicht glücklicher
Zwei Jahre bleibt sie in Istanbul, dann reicht es ihr. Selbstständigkeit fresse das Privatleben auf, resümiert sie. Und das permanente Denken an Gewinnmaximierung liege ihr auch nicht. "Ich habe mit Modeln gut Geld verdient, und das hat mich auch nicht glücklicher oder unglücklicher gemacht."
Sie trennt sich von Partner und Firma und zieht mit ihrem Kind zurück nach Brandenburg. Dort merkt sie, dass sich die Stadt in zehn Jahren weitaus weniger verändert hat als sie selbst. Sie packt die Koffer für den zweiten Aufbruch in den Westen: Berlin.
Neue Heimat in Köln
Sie fängt bei einer Juwelierkette im KaDeWe an - es ist ein Sponsor der Miss-Wahlen. Sie arbeitet sich hoch. 2005 übernimmt sie eine Filiale in Bremen. 2007 bewirbt sie sich für die Leitung eines Schmuckgeschäfts in Köln. Sie findet nach ihren Jahren in Ost und West, dass die Rheinländer die entspanntesten Deutschen sind. Sie will dazugehören.
Heute nennt sie Köln ihre Heimat. Sie will da nicht mehr weg. Die Tochter schaute irgendwann "Germany's Next Topmodel". Leticia Koffke ist erleichtert, dass die Phase schnell vorbeigeht. Sie mag die Kommerzialisierung der heutigen Castingshows nicht, verdammt sie aber auch nicht. "Ich finde nur, dass sich Frauen langsam wirklich zu Weibchen entwickeln", kritisiert sie. Eine Frau müsse doch sagen können: "Ich bin ich. Ohne Botox-Spritzen."
Im vergangenen Jahr ist Leticia Koffke zu einem Schweizer Luxusuhren-Hersteller gewechselt. Schöne Dinge, die auch etwas leisten - sie sind ihr lieber als Brillanten. Sie ist jetzt Mitte 40. Wenn sie heute an die wichtigste Wende in ihrem Leben denkt, dann war es nicht die Miss-Wahl vor fast einem Vierteljahrhundert. Es war das Jahr 2011, in dem ihr Bruder ihr eine Niere spendete.