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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Studie zur Jugendkriminalität Mehr Liebe führt zu leeren Gefängnissen in Deutschland
Weniger Gewalt und mehr Perspektiven: Die Jugendkriminalität in Deutschland ist von 2007 bis 2015 um die Hälfte gesunken. Forscher begründen den überraschenden Befund mit dem Rückgang der familiären Gewalt.
von Patrick Diekmann
Härtere Gesetze und trotzdem leere Jugendgefängnisse: Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Demnach sank die Kriminalität von 14- bis 18-Jährigen in Deutschland erheblich. Zwischen 2007 und 2015 reduzierte sich der Anteil der Tatverdächtigen pro 100.000 Jugendliche – und zwar um die Hälfte. "Auf Basis der polizeilichen Kriminalstatistik ist damit ein historisch einzigartiger Rückgang der Jugendkriminalität zu konstatieren", schlussfolgern die Kriminologen Dirk Baier, Christian Pfeiffer und Sören Kliem in ihrer Langzeitstudie.
Dieser Trend kommt überraschend. Vor einem Jahrzehnt diskutierte das Land noch über volle Jugendgefängnisse und immer brutalere Gewalttaten. Jetzt versuchen bereits erste Städte, ihre leeren Gefängnisanlagen umzufunktionieren. So auch in der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand in Hamburg: "Nur noch jeder zweite der 3000 Hafträume war belegt im ältesten Jugendgefängnis der Republik, idyllisch gelegen auf einer Elbinsel", berichtet die "Süddeutsche Zeitung". Hamburgs Haushälter setzten sich dafür ein, den Komplex zu verkaufen und ein Hotel daraus zu machen.
Leere Gefängnisse
Diese Entwicklung ist kein Einzelfall. Auch in Nordrhein-Westfalen werden Gefängnisse ganz oder teilweise geschlossen. Erst Ende 2010 wurde die Jugendvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf fertig, das größte Jugendgefängnis in NRW. Heute stehen laut dem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" Teile leer. Auch in Essen wurde die Jugendarrestanstalt geschlossen, es gab zu wenig Insassen. Im Gefängnis in Gera (Thüringen) sitzen nur noch 35 Insassen ein, bis 2020 sollen auch hier die Lichter ausgehen. Viele dieser Gefängnisse waren bis zur Jahrtausendwende hoffnungslos überfüllt und wurden deshalb ausgebaut.
Doch was sind die Gründe für diese Entwicklung? Denn die Aufklärungsquote von Straftaten durch die Polizei ist gestiegen und Gerichte tendieren eher zu härteren Strafen. Außerdem wurde 2013 der Warnschussarrest eingeführt – ein maximal vier Wochen langer Jugendarrest. Dieser kann von Richtern dann angewandt werden, wenn sie der Auffassung sind, dass eine Bewährungsstrafe nicht ausreicht, um dem straffälligen Jugendlichen das Unrecht seines Verhaltens deutlich zu machen.
Rute und Rohrstock geächtet
Die Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen sieht vor allem soziale Faktoren als Grund für den Rückgang der Jugendkriminalität. "Jugendliche wachsen immer häufiger gewaltfrei in ihren Familien auf. Der Anteil an Jugendlichen, die in Schülerbefragungen berichten, in der Kindheit keine Gewalt vonseiten der Eltern erlebt zu
haben, ist von 43,3 auf 60,8 Prozent gestiegen", schreiben Baier, Pfeiffer und Kliem. Parallel zu dieser Entwicklung würden positive elterliche Erziehungsstile, insbesondere die emotionale Zuwendung, häufiger praktiziert. "Nachdem Rute und Rohrstock durch die 68er geächtet wurden, erntet die Gesellschaft jetzt eine Art Friedensdividende", konstatiert die "Süddeutsche Zeitung". Der größte gemeinsame Nenner bei Jugendkriminalität sei, dass Gewalttäter in ihrer Jugend selbst geschlagen wurden.
Doch es gibt vielerlei Faktoren, die dazu führen können, dass Jugendliche weniger Gewalt ausüben. Laut den drei Kriminologen brauchen junge Menschen vor allem eine Perspektive. So stieg der Anteil der Jugendlichen mit einem höheren Schulabschluss (Fach-/Hochschulreife) seit Ende der 1990er-Jahre von 24 auf 34 Prozent. Parallel reduzierte sich der Anteil ohne Abschluss von 9 auf 5,7 Prozent. Hinzu kommt, dass die Jugendarbeitslosigkeit zwischen 2004 und 2016 von 15 auf knapp 7 Prozent gesunken ist.
Auch Faktoren wie der Rückgang des Alkoholkonsums unter Jugendlichen spielen eine Rolle. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass dort, wo junge Menschen eine Perspektive haben, sich weniger Aggressionen entwickeln.
Mehr Perspektiven
Trotz dieser positiven Entwicklungen deckt die Studie aber auch einige Problemfelder in Deutschland auf. Zwischen 2015 und 2016 ist es zu einem merklichen Anstieg der Jugendkriminalität gekommen. Die Forscher begründen diese Entwicklung größtenteils mit der Flüchtlingskrise. Die Integration von Migrantinnen und Migranten im Allgemeinen und von Flüchtlingen im Besonderen sei ein besonderes Problemfeld. Flüchtlinge sind dabei Opfer und Täter zugleich: Einerseits steigerte die verstärkte Zuwanderung das Aufkommen rechtsradikaler Gewalttaten. Andererseits fehlt vielen Flüchtlingen in Deutschland eine Perspektive und sie begehen Gewalttaten, laut der Studie oft gegenüber anderen Flüchtlingen oder Migranten.
Aber es gibt auch noch andere Felder, die als problematisch gelten: So bemerken die Forscher eine zunehmende Zustimmung zum politischen Extremismus. Auf Basis von Schülerbefragungen aus dem Jahr 2015 kann geschätzt werden, dass etwa jeder fünfte deutsche Jugendliche ausländerfeindlich eingestellt ist, etwa jeder 14. Jugendliche dezidiert linksextreme Orientierungen aufweist und jeder neunte muslimische Jugendliche Zustimmung zu islamisch fundamentalistischen Einstellungen äußert.
Auch diesen Jugendlichen muss die Gesellschaft vermehrt Perspektiven bieten, damit sich die Tendenz zu leeren Gefängnissen und weniger Gewalt in Deutschland fortsetzt.
Quellen: