Obdachlose, Stricher, Dealer Berlins Tiergarten wird zur Gefahrenzone
Ein paar Obdachlose, Prostituierte und Stricher gab es in Berlins Innenstadt schon immer. Inzwischen leben aber viele der Menschen im angrenzenden Tiergarten. Durch einen Mord geriet der Park wieder in den Fokus.
Es sind nur wenige Meter vom Bahnhof Zoo im Herzen West-Berlins zum Rand des Tiergartens, wo nasse Blumensträuße und Zettel am Weg liegen. "Hier wurde am Freitag, den 8.9.17, meine über alles geliebte Frau Susanne gefunden", steht auf einem eingeschweißten Blatt Papier mit dem Foto einer lächelnden Frau. "40 gemeinsame und glückliche Jahre – mal eben so ausgelöscht". Der mutmaßliche Mörder der 60-jährigen Susanne F., ein junger Mann aus Russland, wurde inzwischen gefasst und sitzt im Gefängnis. Der Tiergarten, einer der größten Parks Berlins, steht seitdem wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Zu viele Kriminelle, Dealer, Obdachlose aus Osteuropa und junge, männliche Prostituierte würden sich dort herumtreiben, so die Vorwürfe von Parkbesuchern. Der Grünen-Bezirksbürgermeister von Mitte klagte, die Lage sei außer Kontrolle geraten, das Ordnungsamt sei völlig überfordert, Polizeieinsätze hätten nichts gebracht.
Hundert Meter weiter, direkt an der S-Bahntrasse, sitzt am Dienstagmorgen ein junger Mann vor einem kleinen Zelt, in der Hand ein Marmeladenbrot. Seit Beginn des Jahres lebe er hier im Tiergarten, sagt er. Basti ist 28 Jahre alt, sieht mit Stoppelhaaren und Tätowierungen zehn Jahre älter aus, kommt aus der Oberpfalz in Bayern und hat Tischler gelernt. Vor seinem Zelt stehen zwei kleine Hocker und eine Bierflasche.
"Seitdem das mit der Toten war, geht das hier ab"
Basti will etwas klarstellen. "Seitdem das mit der Toten war, geht das hier ab. Dabei sind wir ja die einzigen, die immer ruhig sind." Er zeigt um sich, auf die acht kleinen Kuppelzelte in einer langen Reihe. Im nächsten Zelt wohne sein Bruder, dann zwei Polen, und hinten einer, der schon acht Jahre hier sei. "Wir passen gegenseitig auf unsere Sachen auf, wenn wir Flaschen sammeln gehen. Sonst klauen die einem ja hier alles weg. Und wir tun niemanden was."
Basti gibt aber zu: Nicht alle Parkbesucher sind Jogger, Radfahrer und Mütter mit Kinderwagen, die am Tag das Bild bestimmen. Abends und nachts sind andere Leute unterwegs. Immer wieder finde er leere Handtaschen, Überbleibsel von Überfällen, erzählt Basti. In einigen Bereichen des unübersichtlichen Tiergartens, der teilweise eher einem Wald gleicht, gebe es Probleme mit Dealern und anderen Zeltbewohnern.
Auch Flüchtlinge prostituieren sich
Nahe der Siegessäule treffen sich schon seit vielen Jahren Männer, die Sex mit Männern suchen, mit Strichern. Jetzt prostituieren sich dort auch Flüchtlinge. Tagsüber sieht man nur einzelne Männer, die wartend auf den Wegen stehen. Im Unterholz trifft man unvermittelt auf junge Männer arabischen Aussehens, die nur "Hallo" sagen und wieder hinter einem der großen Bäume verschwinden. An der Straße hält ein großer, weißer Geländewagen, ein Audi Q7, mit Brandenburger Nummernschild. Ein dunkelhaariger Mann steigt aus, geht einen Weg hinunter in den Park und verschwindet zwischen den Bäumen und Büschen.
Der auf den ersten Blick friedliche Eindruck täusche, sagt eine resolute Angestellte mittleren Alters, die mit ihrem stämmigen Kollegen vom Grünflächenamt im Bezirk Mitte in einem Elektrolaster durch den Tiergarten rollt. "Es wird immer schlimmer und voller hier. An manchen Ecken werden schon Kinder, also Jungen, zur Prostitution angeboten. Andere brechen hier Äste ab, um ihre Zelte zu bauen", erzählt sie durch die heruntergelassene Seitenscheibe. "Und wenn wir was sagen, bekommen wir dumme Antworten."
Dabei ist das Problem der campierenden Obdachlosen und Einwanderer aus Osteuropa nicht neu und betrifft nicht nur die Hauptstadt und den Tiergarten. Auch in anderen Parks stehen illegale Zelte, an den Bahnhöfen liegen Obdachlose in Schlafsäcken, Roma-Familien wohnen in Kleintransportern. Viele leben vom Betteln und von Pfandflaschen, andere auch von Taschendiebstählen. Deutsche Großstädte wie Hamburg, Frankfurt oder München kämpfen mit ähnlichen Schwierigkeiten.
In Berlin wollen der Regierende Bürgermeister Michael Müller und sein Innensenator Andreas Geisel, beide von der SPD, seit Jahresbeginn mit aller Macht den Eindruck vermeiden, der Senat tue zu wenig für die Sicherheit. Fast im Monatsrhythmus gibt es Ankündigungen: Mehr Polizisten, Polizeiwachen, Videoüberwachung und neue Ermittlungsgruppen. Auch jetzt reagierte der Senat nach Zeitungsberichten über die Klagen des Bezirksbürgermeisters schnell.
Wunderwaffe Arbeitsgruppe
Ab diesem Mittwoch sollten mehr Polizisten durch den Tiergarten laufen. So sollten sich "die Dinge zumindest schon kurzfristig spürbar verändern", sagte Senatssprecherin Claudia Sünder. Doch sie musste prompt zurückrudern: Es habe offenbar Missverständnisse gegeben. Die Polizei werde ihre schon länger bestehenden Kontrollen noch einmal intensivieren, dies geschehe "zeitnah". Ein Termin wurde nicht genannt.
Außerdem startet die Wunderwaffe der Politik: eine Arbeitsgruppe aus verschiedenen Behörden, neudeutsch "Task Force" genannt.
Zeltbewohner Basti hält nichts von der Aufregung, zumindest nicht, wenn es um seine Leute geht. "Die sollen uns einfach in Ruhe lassen. Wo sollen wir denn hin?"