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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Tausende Tote nach Erdbeben Darum ist das Ausmaß der Zerstörung so gewaltig
Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien haben die Aufräumarbeiten begonnen. Viele Fragen sind allerdings noch offen.
Am Tag nach den schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien werden die Ausmaße der Katstrophe sichtbar: Mehr als 5.000 Menschen kamen ums Leben, Zehntausende sind verletzt. Mit Antakya, Kahramanmaraş und Gaziantep sind große Teile ganzer Städte zerstört. Die Naturkatastrophe trifft das Land und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mitten im Wahlkampf.
t-online beantwortet die wichtigsten Fragen zum verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien:
Wie kommen die Rettungsarbeiten voran?
Vielerorts laufen die Arbeiten nur schleppend an. Viele Straßen und Zufahrtswege sind zerstört, zahlreiche Häuser stark einsturzgefährdet. Nicht überall kommen Helfer deshalb sofort an den Ort des Geschehens.
Neben türkischen und syrischen Hilfskräften sind dabei auch viele Helfer aus dem Ausland im Einsatz. Über das Zentrum für Katastrophenhilfe der EU sind 27 Such- und Rettungsteams mobilisiert worden, berichtet Janez Lenarčič, der zuständige EU-Kommissar am Dienstag. Insgesamt seien 1.150 Rettungskräfte und 70 Hunde unterwegs.
Auch aus Großbritannien, Israel, Indien, Pakistan, Finnland, Schweden, aus den USA sowie aus Russland und der Ukraine sind Helfer unterwegs in die Katastrophenregion. Aus Deutschland reisen Einsatzkräfte des Technischen Hilfswerks (THW) in die Türkei.
Sie alle werden vor Ort den türkischen Rettungskräften helfen. An diesen jedoch gibt es am Tag nach der Katastrophe auch Kritik. In den sozialen Medien monieren Nutzer, dass von staatlicher Seite in vielen Orten noch niemand zu sehen sei. "Keine Soldaten, keine Polizei, keine Suppe, keine Decken, keine Regierung, nichts!", sagte Muharrem İnce, der Gründer der kemalistischen Partei Memleket Partisi, bei einem Besuch in der Stadt Kahramanmaraş am Montagabend. Damit wird klar: Die Rettungsarbeiten bergen auch eine politische Dimension – denn die schwer getroffenen Gebiete sind vornehmlich kurdisch bewohnt.
Auch in der Stadt Gaziantep kommt keine Hilfe an. In einem Bezirk mit 60.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sei die Hälfte aller Häuser eingestürzt, berichtet die Bürgermeisterin Fatma Şahin in einem Fernsehinterview am Dienstag: "Ich habe so eine Katastrophe noch nie gesehen".
Warum sind so viele Häuser komplett zusammengebrochen?
Das hat mehrere Gründe. Einerseits bebte die Erde in der Türkei und in Syrien nur in einer Tiefe von etwa 18 Kilometern und war mit einem Wert von 7,8 auf der Richter-Skala relativ stark. Das führte zu sehr großen Zerstörungen, erklärt Joanna Faure Walker, Leiterin des UCL Institute for Risk and Disaster Reduction im Gespräch mit dem ZDF.
Ein weiterer Grund für das vielerorts fast unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung ist die Lage einiger besonders stark betroffener Städte. So liegt etwa die Stadt Antakya (390.000 Einwohner) in einem Talkessel. In der Gegend um die Stadt gibt es viel Landwirtschaft und damit auch eine aktive Bewässerung der Böden.
Die Folge: Der weiche Boden reagiere bei starken Erschütterungen wie ein Verstärker für Erdbebenwellen, schreibt der Geophysiker Jens Skapski auf "erdbebennews.de". Die Erdbebenwellen würden von den umliegenden Berghängen reflektiert und auf die Stadt zurückgeworfen. Viele Gebäude hätten deshalb keine Chance, ein solches Beben zu überstehen.
Doch selbst die, die es eigentlich aushalten sollten, sind es oft nicht: Viele der Häuser im Erdbebengebiet sind nicht so stabil gebaut, wie es der Staat verlangt. Der Grund: Viele Bauherren in der Türkei setzen sich immer wieder über die strengen Bauvorschriften hinweg, die seit dem schweren Erdbeben von İzmit im Jahr 1999 in Kraft sind, bei dem mehr als 18.000 Menschen starben. Auch sollen die Behörden oft genug wegschauen und ihre Zustimmung zu Häusern geben, die nicht den Regeln entsprechen.
Hätten die vielen Toten verhindert werden können?
Möglicherweise. Zumindest wenn der türkische Staat auf die Warnungen der türkischen Kammer für Ingenieurgeologie, gehört hätte. Im Gespräch mit dem "Spiegel" berichtet deren Chef, Hüseyin Alan, im Jahr 2021 hätte seine Behörde andere staatliche Stellen vor der Erdbebengefahr in den nun betroffenen Gebieten gewarnt. "Leider wurde unsere Arbeit offenbar von keiner Stelle zur Kenntnis genommen", sagt der Wissenschaftler.
Die Zerstörung kam für Alan nicht überraschend. Eigentlich müssten Bodenuntersuchungen durchgeführt werden, bevor Gebäude in Erdbebenregionen gebaut werden können. "Das passiert nicht", sagt Alan dem "Spiegel". "Immer wieder weisen wir auf die Mängel des Systems hin, jedoch ohne Erfolg".
Wie beeinflusst das Erdbeben die Türkei-Wahl?
In erster Linie ist das Erdbeben eine humanitäre Katastrophe, aber für das Land bringt das auch politischen Sprengstoff mit sich. Die Türkei befindet sich im Wahlkampf, die größte Oppositionspartei CHP wollte im Februar ihren Kandidaten vorstellen, der Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai herausfordern soll. Das Erdbeben hat nun alles verändert.
Für den türkischen Präsidenten sah es in den Umfragen zuletzt nicht gut aus. (Mehr dazu lesen Sie hier). Die Wirtschafts- und Währungskrise hat die Türkei fest im Griff, aber nun verschiebt die Naturkatastrophe den Fokus auf andere Themen: Wie laufen die Rettungsarbeiten? Wie funktioniert der Wiederaufbau?
Erdoğan steht unter Druck, denn die Lage bietet Raum für Fehler. Um sich im Notfall eine Rechtfertigungsgrundlage zu verschaffen, betont die türkische Regierung immer wieder die riesige Dimension der "Jahrhundertkatastrophe".
Hilft die Katastrophe Erdoğan im Wahlkampf?
Das ist völlig unklar. In Deutschland werden Erinnerungen an Gerhard Schröder (SPD) wach, der sich im Jahr 2002 während der Hochwasserkatastrophe in Sachsen mit Gummistiefeln im Flutgebiet inszenierte und auch dadurch die Bundestagswahl für sich entschied.
Doch das Erdbeben ist nicht zwangsläufig eine Wahlkampfhilfe für Erdoğan. Es kommt nun auf sein Krisenmanagement an. Er wird versuchen, Türkinnen und Türken im Angesicht dieser Katastrophe hinter sich zu versammeln. Sein Problem: Empathie gehörte nicht immer zu den größten politischen Stärken Erdoğans, im Gegenteil. Im Oktober 2022 sprach er von "Schicksal", als bei einer Explosion in einer Kohlemine in Amasra 41 Menschen starben. Die Wut der Bevölkerung traf daraufhin auch ihn.
Das Erdbeben bringt neben der humanitären Katastrophe auch viele andere politische Probleme für Erdoğan. Er wird sich der Frage stellen müssen, warum er in seiner fast 20-jährigen Amtszeit – trotz der großen Erdbebengefahr in der Türkei – die Bausubstanz vieler Gebäude nicht verbessern ließ (siehe oben). Das Erdbeben war eine Katastrophe mit Ansage, viele Expertinnen und Experten warnten immer wieder vor einem derartigen Szenario.
Außerdem stürzte die türkische Lira in Folge des Bebens weiter ab, was die wirtschaftliche Situation für viele Menschen im Land abermals verschärft. Wenn Erdoğan das nicht in den Griff bekommt, birgt das Beben für ihn keinen Vorteil im Wahlkampf. Viele westliche Partner werden nun Hilfskräfte in die Türkei schicken und das Land nach dem Erdbeben mit Spenden unterstützen. Erdoğans bewährte Strategie – die Suche nach dem Konflikt im Ausland, das Ablenken von innenpolitischen Problemen – ist dementsprechend nur schwer umsetzbar.
- Eigene Recherche
- zdf.de: "Warum das Erdbeben so verheerend war"
- erdbebennews.de: "Die Zerstörung von Antakya: Antiochs Erbe"
- nzz.ch: "Die Türkei hat aus dem Beben von 1999 gelernt, viele Reformen sind aber Stückwerk geblieben"
- spiegel.de: "Leider wurde unsere Arbeit offenbar von keiner Stelle zur Kenntnis genommen" (Kostenpflichtig)