Kriminalität Niels H. soll 84 weitere Menschen getötet haben
Oldenburg (dpa) - Der verurteilte Patientenmörder Niels H. könnte nach Angaben der Ermittler für die größte Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte verantwortlich sein.
Der heute 40-Jährige soll mindestens 84 weitere Menschen an den Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst in Niedersachsen umgebracht haben. Das ist das Ergebnis fast dreijähriger Ermittlungen, die Polizei und Staatsanwaltschaft in Oldenburg vorstellten. Wegen sechs Taten sitzt der Ex-Pfleger bereits lebenslang in Haft, darunter zwei Morde. Spätestens Anfang 2018 will die Staatsanwaltschaft erneut Anklage erheben.
Niels H. hatte gestanden, Patienten eine Überdosis von Medikamenten gespritzt zu haben , um sie anschließend wiederbeleben zu können. Damit wollte er sich vor Kollegen als heldenhafter Retter beweisen. Mehr als 130 verstorbene Patienten der beiden Kliniken ließ die eigens dafür eingerichtete Sonderkommission der Polizei, die Soko Kardio, in den vergangenen drei Jahren ausgraben und auf Rückstände von Medikamenten testen. "Die Erkenntnisse, die wir dabei gewinnen konnten, erschrecken noch immer - ja, sie sprengen jegliche Vorstellungskraft", sagte Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme.
Bei 48 Patienten in Delmenhorst und 36 in Oldenburg wurden die Ermittler fündig. Bei 41 Toten stehen die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung noch aus. Die tatsächliche Zahl der Verbrechen von Niels H. liege aber um ein Vielfaches höher, sagte Soko-Leiter Arne Schmidt. "Die Morde, die wir belegen können, sind nur die Spitze des Eisberges." Allein am Klinikum Delmenhorst seien mehr als 130 Patienten, die während einer Schicht von Niels H. starben, eingeäschert worden. Ein Nachweis sei bei ihnen nicht mehr möglich. Die Polizei löst die Soko jetzt auf, die Ermittlungen laufen aber noch weiter.
In Verhören im Gefängnis hat Niels H. die Taten in Delmenhorst und Oldenburg eingeräumt. Offen bleibe, ob er im vollen Umfang geständig sei und ob er sich überhaupt an alle Taten erinnern könne, sagte Schmidt. So bestreite Niels H., dass er auch Patienten an anderen Arbeitsstätten - als Rettungssanitäter und als Pfleger in Altenheimen - eine Überdosis Medikamente gespritzt habe. Diesen Verdacht legten Zeugenaussagen aber nahe. Die Patienten starben in diesen Fällen aber nicht.
Fest steht nach Ansicht der Ermittler, dass ein großer Teil der Morde hätte verhindert werden können. Schon am Klinikum Oldenburg gab es eine Statistik, die zeigte, dass während der Schicht von Niels H. die Sterberate und die Zahl der Reanimationen stieg. Diese Statistik sei auch der damaligen Geschäftsführung bekannt gewesen, sagte Schmidt. Wären die Verantwortlichen damals schon zur Polizei gegangen, wäre es zu den Morden an der späteren Arbeitsstelle in Delmenhorst nicht gekommen, betonte Schmidt.
Stattdessen trennte sich das Klinikum Oldenburg von dem verdächtigen Pfleger und stellte ihm sogar ein gutes Arbeitszeugnis aus. Eine Warnung an das Klinikum Delmenhorst blieb aus. Auch dort gab es bald Gerüchte, weil auffällig viele Patienten während der Schicht von Niels H. starben. Später lagen auch handfeste Beweise vor: Zwei frühere Oberärzte und der Stationsleiter werden deshalb wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht stehen. Die Ermittlungen gegen Verantwortliche am Klinikum Oldenburg laufen noch.
"Warum die seinerzeit Verantwortlichen die Ermittlungsbehörden nicht eingeschaltet haben, können wir nicht nachvollziehen", hieß es am Montag in einer Stellungnahme des Klinikums Oldenburg. Ob ein schuldhaftes Verhalten der damals Verantwortlichen vorliege, müssten die weiteren Ermittlungen zeigen. "Wir können die Zeit leider nicht zurückdrehen", hieß es vom Vorstand weiter. Aus den Vorfällen müsse man lernen; es gebe bereits zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen.
"Wir sind bestürzt und zutiefst betroffen über die erschreckenden aktuellen Ermittlungsergebnisse und die bekannt gewordene, deutlich höhere Opferzahl", teilte das Josef-Hospitals Delmenhorst mit. "Für die (...) entsetzlichen Taten von Niels H. und das den Angehörigen damit zugefügte unerträgliche Leid lassen sich keine passenden Worte finden", sagte Geschäftsführer Ralf Delker. "Ich bin mir jedoch sicher, dass kein Krankenhaus sensibilisierter ist als unser Krankenhaus und kein Krankenhaus mehr Vorkehrungen für ein Höchstmaß an Patientensicherheit getroffen hat als das unsere", betonte er.
Von einem großen Versagen sprach die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Tätern werde es in Krankenhäusern und Pflegeheimen immer noch zu leicht gemacht, teilte Vorstand Eugen Brysch mit. In vielen der bundesweit 2000 Krankenhäusern seien die Kontrollmechanismen nicht verschärft worden. So fehle für die meisten Kliniken weiterhin ein anonymes Meldesystem.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) warnte aber davor, auf grundlegende Missstände in Krankenhäusern zu schließen. Es gehe um das geplante Verbrechen eines Einzelnen, sagte er der Oldenburger "Nordwest-Zeitung" (Dienstagausgabe). "Dass diese Fälle erst jetzt ans Licht kommen, zeigt, wie unglaublich schwer solche Mordversuche oder Morde zu ermitteln und zu belegen sind", sagte Gröhe.