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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Getöteter Schüler in Offenburg "Eigentlich müsste man soziale Medien verbieten"
Ein 15-Jähriger schießt in Offenburg einem Mitschüler in den Kopf. Was macht aus einem Teenager einen Killer? Womöglich einen Amokläufer? Eine Expertin versucht zu erklären, was kaum zu begreifen ist.
Noch ist nicht wirklich klar, was einen 15-Jährigen in einer Offenburger Sonderschule bewogen hat, einem gleichaltrigen Mitschüler gezielt in den Kopf zu schießen und ihn tödlich zu verletzen. Nur das beherzte Eingreifen eines zufällig anwesenden Erwachsenen hat womöglich verhindert, dass es noch mehr Opfer gab: Der Täter hatte wohl noch deutlich mehr Munition für die Waffe dabei, die aus seinem persönlichen Umfeld stammen soll.
Die Sozialpädagogin Ramona Bliestle aus Villingen-Schwenningen ist schon häufig hinzugezogen worden, wenn Polizei und Ermittler nach einer solchen Tat einen ersten Kontakt zum Täter aufbauen müssen, um mehr über die Hintergründe und sein Motiv zu erfahren. Philipp Michaelis hat mit ihr gesprochen.
t-online: Frau Bliestle, mir ist völlig unbegreiflich, wie ein Mensch einen anderen töten kann. Und bei einem Jugendlichen, einem Kind verstehe ich es noch viel weniger. Können Sie es mir so erklären, dass ich es verstehe?
Ramona Bliestle: Ja, das kriege ich hin. Sie werden die Dynamik verstehen, die zu so einem Ereignis führen kann. Aber: Sie werden es wahrscheinlich nicht nachfühlen können.
Zur Person
Ramona Bliestle (43) arbeitet als Sozialpädagogin, Anti-Aggressions-Trainerin und Präventions-Fachkraft für Amok und schwere Gewalt in Villingen-Schwenningen. Sie hat viele junge Gewalttäter, sogar Amokläufer gesprochen und betreut, teilweise unmittelbar nach deren Tat.
Es mag naiv klingen, aber für mich ist es "böse", einen Menschen zu töten. Sie haben schon oft jungen Tätern in die Augen geschaut, die gerade jemanden getötet hatten. Haben Sie dabei jemals einen "bösen" Menschen gesehen?
Die Kategorie "böse" mag ich nicht. Was ich sagen kann: Wenn wir von den psychotischen oder psychopathischen Tätern mal absehen, die schlicht "nicht gesund" sind, dann habe ich noch nie einen Täter getroffen, der vorher nicht subjektiv empfunden ein Opfer war. Und bei diesen "Opfer-Tätern" ist für mich hinterher ganz oft nachvollziehbar, dass dieser Mensch sich unter diesen Umständen, in denen er sich gerade befindet, so entwickelt hat. Mit den Fähigkeiten und Regulationswerkzeugen, die er zur Verfügung hatte, konnte er für sich wahrscheinlich nur diesen einen Ausweg sehen. Das kann ich dann kognitiv verstehen. Nachfühlen kann auch ich es nicht. Trotzdem: Von diesen Tätern war keiner "böse".
Wenn Sie zu so einem Täter gerufen werden: Was ist Ihre erste Frage?
(denkt lange nach) Am ehesten: "Was hättest du gebraucht, um einen anderen Weg zu wählen?" Die Frage habe ich recht oft gestellt. Und die Antwort ist – altersübergreifend – sehr oft: "Jemanden, der mir zuhört. Jemanden, der da ist."
Verstehen diese Jugendlichen, was sie getan haben? Bereuen sie?
Wer mit Gewalt aufwächst, für den gehört Gewalt zur Normalität. Jemandem in den Kopf zu schießen, ist zwar extrem, aber eben auch eine Form von Gewalt. Bei Kindern, die Gewalt erleben, ist diese Grenze oft schmal. Die Fähigkeit, die Folgen unserer Handlungen in der letzten Komplexität abschätzen zu können, entsteht erst während der Pubertät, wenn sich im Gehirn der präfrontale Cortex bildet. Das dauert gut und gerne bis zum 20. Lebensjahr. Bis zu diesem Zeitpunkt kann ein junger Mensch nur sehr eingeschränkt beurteilen, welche Konsequenzen seine Taten haben: für sein Leben, für sein Umfeld, für seine Eltern und auch für die Familie des Opfers. Neurobiologisch ist er dazu einfach noch nicht in der Lage – ohne ihn in Schutz nehmen zu wollen.
Aber ist das nicht klassische Täter-Opfer-Umkehr?
Ja, aber anders, als Sie denken. Diese Menschen, die ihre Opferrolle satthaben, stehen vor der Entscheidung: die Position des Täters oder die des Opfers. Es gibt dabei für sie keine Grauzone. "Ich werde nie wieder Opfer. Punkt." Das sagen sie eigentlich alle.
Wenn das eine bewusste Entscheidung ist, dann verwenden wir den Begriff "Amoklauf" falsch?
"Die meisten sogenannten Amokläufe sind kognitiv geplant"
Ramona Bliestle, Sozialpädagogin
Die meisten sogenannten "Amokläufe" sind kognitiv geplant und keine wilde Raserei. Die Täter überlegen sich: Durch welche Türe betrete ich die Schule, auf wen habe ich es abgesehen, wen lasse ich entkommen. Die gehen an ganz vielen Menschen vorbei auf denjenigen zu, den sie töten wollen. Ganz cool. Und wenn am Ende dann trotzdem 15 Menschen tot sind, dann deshalb, weil sie nach dieser ersten, geplanten Tat die Kontrolle verlieren und in Panik verfallen.
Und woher stammt der Impuls zur ersten Beziehungstat?
Das Motiv hat oft mit Ausgrenzung zu tun. Insbesondere zwischen zwölf und 18 Jahren ist das Bedrohlichste für neurobiologische Systeme die Ausgrenzung aus der Gruppe. Das ist das Schlimmste – hormonelle Lebensgefahr. "Ich werde ausgegrenzt. Ich gehöre nicht dazu!" Und wenn der Jugendliche niemanden hat, dann kann sich diese Spirale in Gang setzen.
Es geht also um Zugehörigkeit.
Wir sehen das an jeder neuen TikTok-Challenge. Zimt einatmen, Chili essen, was auch immer. Man will dazugehören. Und ehrlicherweise sind viele Erwachsene nicht anders. Denken Sie an Reality-TV, was die Kandidaten dort alles tun für ein bisschen Aufmerksamkeit und "gesehen werden". Die sozialen Medien aktivieren im Gehirn denselben Bereich wie Kokainkonsum. Stellen Sie sich das mal vor! Eigentlich müsste man das verbieten. Genau wie Ballerspiele: Mit ihnen trainiert man Fokus, Aggression und Reaktion. Wie einen Muskel. Viele wollen das nicht hören, aber es gibt einen Bogen von dieser Kombination zu solchen Taten.
Mein Sohn ist acht Jahre alt. Was kann ich tun, damit er so etwas niemals tut?
Üben Sie mit ihm, über seine Emotionen zu reden. Lassen Sie ihn über die eigenen Bedürfnisse, die eigenen Grenzen sprechen. Als würde er eine Sprache lernen. "Ich bin stinksauer, dass du schon wieder so lang arbeitest. Ich hätte mir gewünscht, dass wir heute kuscheln." Und zwar ohne ein erwachsenes "Ja, aber" zu erwidern. Zuhören. Alle Emotionen müssen in Ordnung sein, wenn sie in seinem Bauch toben. Er muss das lernen, bevor in der Pubertät zwischen zwölf und 15 neue Emotionen dazukommen. Reden Sie mit ihm, wenn das Wutmonster tobt und er weinend im Bett liegt. Lassen Sie ihn nicht allein im Zimmer. Warten Sie nicht, dass er herauskommt. Wir sind dafür zuständig, in dieses Zimmer hineinzugehen. Zu fragen: "Sag, wie geht es dir jetzt? Wie kriegen wir das wieder hin?" Halten Sie die Bindung zu Ihrem Kind. Das ist ein Anfang.
- Interview mit Ramona Bliestle