Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Deutschland haut die Bremse rein
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wenn ich morgens schlaftrunken ins Bad tapse und das Radio anknipse, höre ich seit Wochen immer dasselbe Wort. Es ist lang, es ist kompliziert, und es ist in aller Munde. Weil ich immer nur den Deutschlandfunk höre und dort offenbar nur ein einziger Redakteur die Frühnachrichten spricht, höre ich Tag für Tag dieselbe Stimme, die das immer gleiche Wort in meine Ohren raunt – und dabei jede Silbe betont, die Vokale wie einen Kaugummi in die Länge zieht und die Konsonanten herauspresst wie eine saure Gurke, in die man versehentlich gebissen hat.
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Das Ergebnis klingt ungefähr so: Gaaa!-sss-prreiii-sss-brr-ääämm!-seee. Meistens handelt die jeweilige Nachricht, in der das Wort vorkommt, von den Herren Scholz, Habeck, Lindner, Merz oder irgendeinem anderen Politiker, manchmal auch von der Kommission, die auch noch irgendwie mitredet, so genau höre ich da mittlerweile nicht mehr hin. Es geht im Radio dann darum, ob die beschlossene Entlastung der Bürger nun zu diesem oder jenem Datum beginnen soll und darum, was dieser oder jener Politiker beziehungsweise dieses oder jenes Kommissionsmitglied davon hält. Es geht um Bemessungsgrundlagen und Jahresverbrauchsprognosen, und spätestens da schalte ich das Radio wieder aus.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich finde es gut, dass die Regierung den Bürgern hierzulande eine Menge Geld zurückgibt, um die Folgen von Putins Gemeinheiten zu lindern. Ich finde es auch gut, dass Medien ausführlich und präzise über die Pläne der Regierenden berichten, ebenso wie über die Kritik der Opposition. Na klar, bin ja selbst Journalist. Aber während all der Monate, in denen nun schon über Entlastungspakete, Doppelwummse und andere finanzielle Kaventsmänner berichtet, diskutiert und getalkshowt wird, habe ich den Überblick verloren. Das ist mir natürlich schon aus professionellen Gründen peinlich, und ich versuche mein Defizit mit noch mehr Zeitungs- und Internetlektüre als sonst wettzumachen. Aber auch ich bin nur ein Mensch und habe zudem den Eindruck, dass ich nicht der Einzige bin, der von der permanenten Krisenfolgenentlastungsdiskussion allmählich die Nase voll hat. Es wäre schon schön, könnten wir mal wieder über leichtere Dinge sprechen als nur über die Schäden von Krieg, Inflation und Mangel. Das waren die Gedanken, mit denen ich vergangene Nacht durch die heutigen Terminankündigungen gehuscht bin, auf der Suche nach einem Thema für den Tagesanbruch. Als ich durch war, hatte ich nicht den Eindruck, irgendetwas wirklich Neues entdeckt zu haben – aber in meinem Kopf war seit dem Morgen immer noch dieses eine Wort: Gaaa!-sss-prreiii-sss-brr-ääämm!-seee.
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: In der aktuellen Lage brauchen wir nicht weniger, sondern dringend noch mehr Bremsen! Aber nicht nur für Gas, Strom und Öl, sondern in viel grundlegenderer Hinsicht. Da wir Deutschen eh im Ruf stehen, eher bedächtig und penibel vorzugehen, passt es doch gut, wenn wir den Sturm der Ereignisse drosseln, indem wir nun allerorten fröhlich die Bremse reinhauen.
Es ist zum Glück überhaupt nicht schwer, die passenden Orte dafür zu finden. In vier Tagen beginnt die Weltklimakonferenz in Ägypten, leider sind die Staaten noch weit entfernt davon, ihre Versprechen zu erfüllen. Gehen wir also mit gutem Beispiel voran und treten öffentlichkeitswirksam auf die Bremse: Tempolimit auf den Autobahnen, Langstreckenflüge begrenzen und fünf Jahre lang weder Rindfleischverkauf noch Kreuzfahrten noch Formel 1. Anschließend kann man ja weitersehen, vielleicht gibt es dann schon super Technologien zum Absaugen der Treibhausgase aus der Atmosphäre.
Wo wir schon mal beim Abbremsen sind, können wir bei der Geldpolitik gleich weitermachen: Heute entscheidet die amerikanische Notenbank über die Höhe des Leitzinses, alle anderen Institute werden ihr wohl früher oder später folgen, auch die EZB. Deshalb ist der Fall hier ebenfalls glasklar: Die Banker sollten jetzt dringend auf die Inflationsbremse treten: Zinsen weiter hoch!
Einer, der immer höher hinaus will, ist bekanntlich der Herr Musk. Ihm reicht es nicht mehr, der reichste Mann der Welt zu sein und überdimensionierte Elektroflitzer zu bauen, jetzt hat er sich auch noch Twitter als Spielzeug gekauft und macht sich dran, die Plattform noch gefährlicher zu machen: Corona-Schwurbler, rechtsextreme Hetzer und sogar Donald Trump will er dort angeblich wieder ihr Gift verspritzen lassen. Da hilft nur eins: Eine sofortige Elon-Bremse des Justizministeriums!
Apropos Gift: In Oldenburg beginnt heute der Prozess gegen eine Krankenschwester, der Körperverletzung in 15 Fällen vorgeworfen wird. Als Impfgegnerin soll sie Impfspritzen heimlich mit Kochsalzlösung verdünnt haben, damit die Vakzine nicht mehr wirkten. Ich plädiere für eine bundesweite Coronaspinnerbremse, Herr Lauterbach kann sich da bestimmt was ausdenken.
Apropos ausdenken: In den Terminankündigungen der Deutschen Presse-Agentur las ich, dass immer mehr Restaurants wegen Personalmangels künftig Roboter einsetzen wollen: Sprechende Maschinen sollen die Gäste bewirten und das Geschirr abräumen. Meine Meinung: ein klarer Fall für die Überflüssigetechnikbremse (und höhere Löhne für Kellner).
Sie sehen, liebe Leserin und lieber Leser, wenn man erst einmal über das Bremsen nachzudenken beginnt, kommt man schnell auf den Trichter, was unser Land jetzt wirklich braucht. Und falls ich etwas vergessen habe, helfen Sie mir bitte auf die Sprünge: Unsere E-Mail-Adresse steht am Ende dieses Textes.
Heute zählt's
So, und weil der Tagesanbruch eigentlich schon ein halbwegs ernsthafter Newsletter ist, schauen wir doch noch halbwegs ernsthaft auf den wichtigsten Politiktermin des Tages: Am Nachmittag trifft sich der Kanzler mit den Ministerpräsidenten, und natürlich geht es auch dabei, Sie ahnen es, um die Gaspreisbremse. Außerdem stehen das 49-Euro-Ticket, das Wohngeld und die Betreuung von immer mehr Flüchtlingen auf der Agenda.
Beim letzten Treffen Anfang Oktober kam außer ein paar Kalauern nicht viel heraus: "Wir sind hier nicht aufm Fischmarkt", soll Olaf Scholz den nimmersatten Länderchefs entgegengeschleudert haben; "Piff und Paff statt Doppelwumms", ätzte die CDU im Streit über die milliardenschweren Entlastungspläne. Auch die Jahreskonferenz der Ministerpräsidenten vor zwei Wochen brachte keine Ergebnisse. Heute herrscht also Einigungsdruck – und gestern Abend deuteten sich Lösungen in den wichtigsten Punkten an: Die – taddaa! – Gaspreisbremse könnte zum 1. März eingeführt, aber dann rückwirkend auch für den Februar bezahlt werden, die Strompreisbremse (noch eine Bremse!) kommt wohl schon ab Januar. Unsere Reporter Miriam Hollstein und Tim Kummert haben die Details. Neben Gas- und Strompreisbremse soll es zusätzliche Entlastungen im Gesundheitssektor geben. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat gestern Abend bei "Markus Lanz" Milliardenhilfen für Krankenhäuser angekündigt (hier lesen Sie mehr).
Kompromiss im Kirchenstreit?
Seit Jahren tobt der Grundsatzstreit über den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche: Die einen sehen das im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörte, 1968 von der DDR-Führung gesprengte Bauwerk als bedeutendes Kulturdenkmal. Für die anderen ist die preußische Militärkirche, vor der sich Hitler und Hindenburg 1933 die Hände schüttelten, eine Weihestätte des Militarismus, die zum Pilgerort für Rechtsextremisten werden könnte. Während der Wiederaufbau des Kirchturms seit 2017 vorangeht, stellen sich noch ein paar Fragen: Soll auch das Kirchenschiff wiedererrichtet werden? Wie geht es mit dem benachbarten Kreativhaus "Rechenzentrum" weiter? Und wäre vielleicht ein "Haus der Demokratie" zwischen Turm und Zentrum ein denkbarer Kompromiss? Um diese Fragen wird es gehen, wenn sich heute das Kuratorium der Stiftung Garnisonkirche zur Beratung trifft und dabei auch einen neuen Vorsitzenden wählt.
Was lesen?
Bei einer Aktion von Klimaschützern in Berlin ist ein schlimmer Unfall geschehen. Die Aktivistin Aimée van Baalen hat meinem Kollegen Yannick von Eisenhart Rothe die Frage beantwortet, was daraus folgt.
CDU-Vizechef Carsten Linnemann soll die Partei erneuern. Mit unserem Reporter Tim Kummert spricht er über den Umgang mit der AfD, eine mögliche Blockade des Bürgergelds und die Frage, was Olaf Scholz in China tun sollte.
Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht kokettiert damit, eine eigene Partei zu gründen. Warum ihr das niemals gelingen wird, erklärt unser Kolumnist Christoph Schwennicke.
Der Kaufhausriese Galeria Karstadt Kaufhof ist mal wieder in der Krise. Meine Kollegin Frederike Holewik zeigt Ihnen, in welchen Städten die Filialen wohl geschlossen werden.
Was amüsiert mich?
Bei Karstadt und Kaufhof gibt's jetzt tolle Schnäppchen!
Ich wünsche Ihnen einen tollen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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