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Ukraine-Hilfen: Die Ausreden der Bundesregierung werden immer absurder


Tagesanbruch
Die Ausreden werden immer absurder

  • Daniel Mützel
MeinungVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 20.10.2022Lesedauer: 6 Min.
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Scholz und sein Kanzleramtschef Schmidt bei einer Kabinettssitzung: "Teenager, die sich nicht sicher sind, wo ihr Platz ist."Vergrößern des Bildes
Scholz und sein Kanzleramtschef Schmidt bei einer Kabinettssitzung: "Teenager, die sich nicht sicher sind, wo ihr Platz ist." (Quelle: Jochen Eckel/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Hand aufs Herz: Was war Ihre letzte Ausrede, als Sie zu spät zur Arbeit kamen, den Bericht nicht rechtzeitig abgeliefert oder die Präsentation vergeigt haben? Lassen Sie mich raten: Es kam was Wichtiges dazwischen, der Computer hat gestreikt, der Kollege Mist gebaut?

Es tut mir leid, aber dann sind Sie blutiger Anfänger.

Wenn echte Profis sich aus der Verantwortung stehlen wollen, schieben sie es auf ihre Hormone. Die Anleitung für die, nun ja, nicht gerade einfallsreichste Ausrede hat Wolfgang Schmidt dieser Tage skizziert: Als der Chef des Bundeskanzleramts vergangene Woche beim "Progressive Governance Summit", einem Treffen für Außenpolitikexperten, gefragt wurde, warum Deutschland mit der selbst beanspruchten Führungsrolle in Europa hadert und Verbündete im Ukraine-Krieg vor den Kopf stößt, erklärte Schmidt das so:

Deutschland sei im Grunde noch ein "Teenager", wenn es um Außen- und Sicherheitspolitik gehe. Da seien "viele Hormone" und "Übertreibung" und "Schreien" im Spiel, weil man unsicher sei, wo man hingehöre.

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Im Publikum sorgte das für Heiterkeit, doch Schmidts Gegenüber, die US-Historikerin Anne Applebaum, lächelte gequält. Applebaum hatte zuvor eindringlich versucht, Schmidt begreiflich zu machen, warum Deutschlands Partner "so wütend" seien seit Putins brutalem Angriffskrieg: Es liege nicht nur an "ein paar Panzern", die Berlin der Ukraine stoisch verweigere, sondern an der fatalen deutschen Russlandpolitik, die aus Sicht vieler Länder den Ukraine-Krieg mit ermöglicht habe.

Man sah Applebaum an, dass ihr wirklich daran lag, dass die Bundesregierung im Allgemeinen und Schmidt im Besonderen endlich begreife, dass die Stimmung bei Deutschlands Verbündeten gefährlich nah am Boden ist. Es wäre eine Gelegenheit für den Scholz-Vertrauten gewesen, die Gemüter zu beruhigen, Verlässlichkeit auszustrahlen, Vertrauen zurückzugewinnen.

Schmidt verschenkte sie. Deutschland ein außenpolitischer Teenager? Eine abwegige Begründung. Wer soll das glauben? Ob in der Eurokrise oder der Energiepolitik: Deutschland wusste immer sehr genau, wie es seine Interessen auch gegen Widerstände durchsetzen konnte.

Beim Thema Nord Stream 2 etwa nahm es die Bundesregierung nicht nur mit ganz Europa, sondern auch mit der letzten verbliebenen Supermacht auf, um sich günstiges Gas zu erschleichen. Wenn es den eigenen Interessen (vermeintlich) diente, rollte Berlin wie ein Panzer über seine Verbündeten.

Noch zwei Monate vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nannte Scholz die Ostseepipeline ein rein "privatwirtschaftliches" Projekt – eine Behauptung, die ihm natürlich schon damals niemand mehr abnahm, aber bei der es offenbar eher darum ging, ob er damit durchkommt (er kam). So reden keine hormongesteuerten Teenager, sondern Erwachsene, die ganz genau wissen, was sie wollen und welchen Preis sie zu zahlen bereit sind.

Auf dem Gipfel der Außenpolitikexperten war der Kanzleramtschef damit allerdings noch nicht fertig. Er fühlte sich offenbar so wohl auf der Bühne, dass er sich zu einem abstrusen Vergleich hinreißen ließ: Die Rufe nach deutschen Kampfpanzern für die Ukraine verglich Wolfgang Schmidt mit Hoffnungen, die Nazideutschland in die damals als "Wunderwaffe" propagierten V2-Raketen setzte. Ein Fehltritt, der die erwartbaren Reaktionen nach sich zog. "Was geht eigentlich im Kopf dieses Mannes vor?", kommentierte CDU-Chef Friedrich Merz.

Schmidts merkwürdiger Auftritt ist nur die letzte Episode einer langen Reihe von Ausreden, mit denen die Scholz-Regierung ihre Hilfen für die Ukraine auf ein überschaubares Niveau begrenzt. Wir erinnern uns: Mal traute man den Ukrainern nicht zu, deutsche Waffensysteme zu bedienen, mal hieß es, die Bundeswehrbestände seien leer. Ein anderes Mal verschleppte man Hilfen, indem man ukrainische Anfragen einfach ignorierte.

Aktuell heißt die Begründung 'keine deutschen Alleingänge'. Doch die europäischen Verbündeten haben den deutschen Alleingang in der Energiepartnerschaft mit dem Putin-Regime eben nicht vergessen.

Wie ernsthaft beschädigt das Vertrauen insbesondere der osteuropäischen Staaten in die deutsche Regierung mittlerweile ist, zeigte sich auf dem Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung diese Woche. Die baltischen Staaten hinterfragen inzwischen offen Deutschlands Beistand im Kriegsfall. "Können wir Deutschland trauen?", hieß es etwa vom lettischen Verteidigungsminister Artis Pabriks.

Zweifel an der deutschen Verlässlichkeit kommen jedoch längst nicht mehr nur von den Polen, Tschechen und Balten. Spricht man mit westlichen Diplomaten, spürt man dort ebenfalls einen wachsenden Frust über die Scholz-Regierung: Schlecht informiert über das Kriegsgeschehen seien die Deutschen, überrumpelt von ukrainischen Gegenangriffen, heißt es da zum Beispiel. Berlin mache es sich "bequem", statt voranzugehen. Auch äußert man unter vorgehaltener Hand Befürchtungen, Deutschland werde in der Energiekrise zum Wackelkandidaten für weitere Ukraine-Hilfen.

Nun kann man geteilter Meinung sein über die Ausweitung deutscher Militärhilfen für Kiew. Aber es fällt zunehmend schwer, eine vernünftige Debatte zu führen, die das Land nicht weiter auseinandertreibt, wenn die Bundesregierung ihren kommunikativen Eiertanz weiter aufführt: Zwischen "Zeitenwende", Nazivergleichen und "Der Gepard hat ein Rohr, das in die Luft schießt" lässt sich nur schwer eine kohärente Strategie erkennen, die Verbündeten und der deutschen Öffentlichkeit gleichermaßen einleuchtet. Wo ist der "Richtlinien-Wumms" in der Außenpolitik?

Gut also, dass immerhin Scholz' Koalitionspartner wissen: Der Architekt der Zeitenwende braucht manchmal sanfte Stöße, um die Zeit auch praktisch zu wenden. Erneut haben Bundestagsabgeordnete der Grünen und der FDP in einem Appell die Bundesregierung aufgerufen, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Das angegriffene Land soll weitere Möglichkeiten bekommen, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern, unter anderem durch deutsche Materiallieferungen.

Ein Zeitfenster für solche Hilfen wäre da: Der Winter steht vor der Tür und wird voraussichtlich das Kampfgeschehen verlangsamen. Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Streitkräfte wollen daher noch so viel Gelände erobern wie möglich.

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Eine Entscheidungsschlacht bahnt sich im Gebiet Cherson an. Dort stehen die ukrainischen Streitkräfte vor dem Durchbruch: Die gleichnamige Regionalhauptstadt – Cherson ist die einzige Großstadt, die Russland seit Februar erobern konnte – wird von den Russen bereits evakuiert, auch die russische Besatzungsverwaltung sucht das Weite. Russische Kampftruppen sollen zwar weiter in der Stadt bleiben und sich auf eine blutige Schlacht vorbereiten. Doch das russische Staatsfernsehen bereitet die Bevölkerung bereits auf eine Niederlage vor.

Vielleicht gibt sich Scholz noch mal einen Ruck vor dem Wintereinbruch? Teenager können ja manchmal sehr vernünftig sein.


Was steht an?

Kampf gegen die Energiekrise: Der Bundestag befasst sich am Donnerstag erneut mit dem dritten Entlastungspaket der Bundesregierung: Unter anderem beraten die Abgeordneten über die geplante Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro für Rentner sowie den Heizkostenzuschuss für Bedürftige. Kanzler Scholz gibt um 9 Uhr eine Regierungserklärung zum EU-Gipfel ab, der am gleichen Tag beginnt.

Auch das Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel steht ganz im Zeichen des Ukraine-Krieges und seiner Folgen: Zwei Tage lang will der Europäische Rat über Lösungen beraten, um die steigenden Energiepreise zu deckeln. Doch es bahnt sich Streit an: Seit Wochen drängen die Mitgliedsländer die EU-Kommission, einen Vorschlag für einen Gaspreisdeckel zu erarbeiten. Der bisherige Entwurf stößt jedoch auf Kritik, unter anderem aus Deutschland, wie das "Handelsblatt" berichtet. Sollte auf dem Gipfel keine Einigung gefunden werden, könnte der Gasstreit eskalieren.

Die Frankfurter Buchmesse, die von Mittwoch bis Sonntag geht, hat einen prominenten Politiker zu Gast: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schaltet sich virtuell ein und hält eine Rede. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine steht im Mittelpunkt der diesjährigen Messe. Viele ukrainische Verlage stellen ihre Literatur aus, laut den Veranstaltern ein Akt des Widerstands gegen die russischen Versuche, die Kultur des Landes zu vernichten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief auf der Eröffnungsrede am Mittwoch zur Unterstützung der ukrainischen Buchbranche auf, die durch den Krieg leide.


Was lesen?

Gestern stellte Verkehrsminister Volker Wissing in der Bundespressekonferenz die neue Ladeinfrastruktur vor. Der FDP-Politiker steht vor einem Mammutprojekt: Er soll die Mobilitätswende in Deutschland vollziehen, das Land digitaler machen – und die Deutsche Bahn endlich aufs richtige Gleis setzen. Wie soll das gehen? Im Interview mit meinen Kollegen Sven Böll und Tim Kummert lässt sich Wissing in die Karten schauen.


Von Hamburg aus soll ein Schmuggler Russlands Militär versorgt haben. US-Ermittler sehen Verbindungen zu Oligarchen und einem Gouverneur. Mein Kollege Jonas Mueller-Töwe hat sich den spektakulären Fall genauer angeschaut.


Heute in einem Monat startet die umstrittene Fußball-WM in Katar. Sami Khedira, Weltmeister von 2014, wird sie für die ARD als TV-Experte begleiten. Im Interview mit meinem Kollegen Noah Platschko spricht er über die Chancen des DFB-Teams und erzählt, weshalb er nie aus der Nationalmannschaft zurückgetreten ist.


Was amüsiert mich?

In der Gaskrise sind kreative Lösungen gefragt.

Ich wünsche Ihnen einen entspannten Donnerstag. Morgen schreibt an dieser Stelle unsere Chefreporterin Miriam Hollstein für Sie.

Herzliche Grüße

Ihr

Daniel Mützel
Stellvertretender Ressortleiter Politik
Twitter: @DanielMuetzel

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Mit Material von dpa.

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