Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Wirft Putin bald Atombomben?
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wenn einem etwas Angst macht, wird es schwierig. Wegsehen, verdrängen, "wird schon gut gehen": Das ist, zumindest fürs Erste, die am wenigsten unangenehme Strategie. Den dunklen Dämon im Hinterkopf wird man so allerdings nicht los. Genauso gut kann man das Gegenteil wagen: sich dem Angstmacher zuwenden, ihm ins Gesicht sehen und ihn studieren. Es kann passieren, dass das Monster dabei größer wird. Wahrscheinlich aber kleiner. So oder so weiß man anschließend jedenfalls genauer, wie man damit umgehen kann.
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Keine Sorge, ich habe nicht vor, Sie heute Morgen auf die psychotherapeutische Couch zu bitten. Doch um ein angstbesetztes Thema muss es heute gehen. Denn wie ein dumpfes Brummen im Hintergrund begleitet die Gefahr der nuklearen Eskalation gegenwärtig die politischen Debatten, und manchmal verstärkt sich der bedrohliche Ton zu einem schrillen Kreischen. Putin hat in seiner jüngsten Rede an die Nation die Russen mit der Mobilmachung geschockt, aber auch das böse Ausland nicht vergessen und mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Es ist nicht das erste Mal in diesem Krieg, dass der Kremlchef die Angst vor der Apokalypse schürt, diesmal hat er jedoch seine Bedingungen verschärft. Das Horrorszenario einer detonierenden Atombombe ist noch realer geworden, das Risiko gestiegen. Sorgen sind berechtigt. Schauen wir deshalb ganz genau hin.
Eines vorneweg: Auf die leichte Schulter werden Putins Drohungen nicht genommen. In den Hauptstädten des Westens rauchen die Köpfe. US-Präsident Joe Biden hat Putin eindringlich davor gewarnt, die nukleare Schwelle zu überschreiten. Sein Außenminister Antony Blinken beschwört die "entsetzlichen Konsequenzen", die dann über Putins Regime hereinbrächen. Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan ergänzt, man habe diese Botschaft "direkt, vertraulich, auf höchster Ebene" an den Kreml kommuniziert und es nicht bei einer allgemeinen Warnung belassen, sondern die möglichen westlichen Antworten "klar und spezifisch" benannt.
Dieser Schritt ist ungewöhnlich. Zur nuklearen Abschreckung vermeidet man normalerweise konkrete Festlegungen, wann, wie oder womit man reagieren würde. Stattdessen sendet man mit Absicht mehrdeutige Signale, damit der Gegner, wenn er einen Nuklearschlag erwägt, keine zynische Kosten-Nutzen-Rechnung aufstellen kann. Dass die Biden-Administration jetzt auf diese Mehrdeutigkeit verzichtet, deutet darauf hin, dass es zuvor aus dem Kreml konkretere Drohungen gegeben hat als das, was Putin öffentlich formuliert. Es ist außerdem ein Beleg dafür, dass man in Washington die russische Drohkulisse, wie Sicherheitsberater Sullivan betont, "todernst" nimmt. Das ist auch sonst allerorten zu vernehmen, vor und hinter den Kulissen. Ob es der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ist oder der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj: Weglächeln will Putins Drohungen niemand mehr.
Das ist zunächst eine gute Nachricht. Denn nichts wäre verheerender, als die realen Risiken eines russischen Nuklearschlags zu unterschätzen. Aber was, wenn der Elefant doch nur eine Mücke ist? Geht die Nato Putins Angstmacherei auf den Leim? Schließlich geht es Moskaus Militär gerade an den Kragen: Im Süden der Ukraine stehen Putins Truppen unter Druck. Und bei Charkiw im Nordosten haben seine Schergen gerade erst eine so katastrophale Niederlage erlitten, dass der Kreml sich zum Handeln gezwungen sah. Landauf, landab werden Männer in Russland zum Militärdienst gezwungen und ohne Training, dafür mit alten Waffen oder fast ganz ohne Ausrüstung so schnell wie möglich an die Front geschickt. Mehrere Hunderttausend Russen haben fluchtartig das Land verlassen, in den Provinzen flammen Proteste auf.
Der Befehl zur Mobilmachung ist für Putin ein riskanter Schritt. Doch gefährlicher kann ihm der Unmut der Hardliner werden, die in seinem Apparat, in den Sicherheitsdiensten, im Militär und in den Medien verankert sind und ihm näher kommen können als jeder liberale Zivilist, der auf der Straße ein bisschen protestiert, bevor prügelnde Polizisten ihn einkassieren. Den Kriegstreibern in seinem System hat der "Präsident" deshalb einige Wünsche erfüllt: Die besetzten Gebiete in der Ukraine werden per Scheinreferendum annektiert – in Windeseile, bevor die Ukraine sie vielleicht zurückerobern kann. Markige atomare Drohungen an den Westen kommen bei dieser Klientel auch immer gut an. Sind sie also nur begleitendes Theater, leeres Getöse, während Putin im Innern den Laden zusammenhält? Oder gar ein Zeichen seiner Schwäche, weil er sich angesichts des militärischen Debakels nicht mehr anders zu helfen weiß?
Das kann sein. Es ist nicht auszuschließen. Nur leider genügt die bloße Möglichkeit nicht. Mit einer atomaren Drohung kann man nicht umgehen, indem man optimistisch vom Besten ausgeht und die Sache damit als erledigt betrachtet. Was passiert, wenn man damit falschliegt? Wenn es, wie Putin eiskalt verkündet hat, "kein Bluff" ist? Wer politische Verantwortung trägt, wird die Last dieser Frage in diesen Tagen spüren. Auch Olaf Scholz spürt sie.
Die Lage ist ernst. Denn leider gibt es tatsächlich starke Argumente dafür, das nukleare Säbelrasseln in Moskau ernst zu nehmen, statt es als Angstmacherei abzutun. Putin hat sich öffentlich radikal positioniert und die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen gesenkt. Zu Beginn des Krieges dienten seine Drohungen noch dazu, die Nato-Staaten davon abzuhalten, mit eigenen Truppen in den Konflikt einzugreifen. Und es gibt Hinweise darauf, dass die Lieferung schwerer westlicher Offensivwaffen – zum Beispiel der deutschen Leopard-Kampfpanzer – eine weitere rote Linie darstellt, die Putin mit Nachdruck gezogen hat. Beide Forderungen hat der Westen respektiert und sie zugleich geschickt unterlaufen: mit Handelskrieg statt offenem Krieg, mit massiver militärischer Unterstützung ohne Entsendung von Soldaten, mit hochmodernen Haubitzen statt Leoparden.
Seine neue rote Linie hat Putin jedoch viel aggressiver gezogen: Jetzt soll der Einsatz von Atomwaffen schon infrage kommen, sobald die "territoriale Integrität" Russlands bedroht ist. Das schließt die besetzten Gebiete in der Ukraine ein, die Putin seinem Reich noch in dieser Woche einverleiben will. Wenn Selenskyjs Soldaten wieder ein Durchmarsch wie gerade bei Charkiw gelingt, behält sich Putin eine nukleare Antwort vor. Der Einsatz der ultimativen Waffe ist damit sehr konkret und zeitnah in den Bereich des Möglichen gerückt.
Aber die Frage der Glaubwürdigkeit ist damit noch nicht beantwortet. Besetzen, annektieren, atomar abschrecken: Glaubt Putin wirklich, dass er damit durchkommt? Kann man das für voll nehmen? Man kann dieses Manöver als plump und verblendet interpretieren, als gewaltigen Fehler – oder als riskanten, aber absichtlichen Schachzug. Sicher ist: Der Zocker in Moskau hat sich selbst in die Ecke manövriert. Sobald er das umkämpfte Gebiet zu russischem Territorium erklärt, ist eine Rückgabe ausgeschlossen, und eine ukrainische Rückeroberung würde ihn politisch erledigen. Putin hat öffentlich geschworen, dieses Land mit allen, wirklich allen Mitteln zu verteidigen. Er droht mit Atomwaffen und hat sich kein Hintertürchen offengelassen. Das kann dumm sein – oder eine sehr, sehr riskante Strategie, um die Glaubwürdigkeit seiner Worte zu erhöhen. So oder so kommt man nicht darum herum, die Drohung ernst zu nehmen.
Für Dummheit spricht allerdings wenig. Das Spiel mit der Angst wirkt durchdacht und zielführend. Ganz egal, wie eilig Putin seine frisch mobilisierten Reservisten als Kanonenfutter an die Front schickt, bis zum Winter bleibt die Lage für Russland militärisch prekär. Im kommenden Jahr jedoch könnten besser ausgebildete, besser ausgerüstete, weniger überstürzt in den Kampf geschickte Rekruten die russischen Linien verstärken und die Besatzung zementieren. Bis dahin braucht Putin einen Plan B, falls die Front dem ukrainischen Druck trotz aller hastigen Bemühungen nicht standhält. Dafür muss Moskaus Atomarsenal herhalten. Ja, das ist zynisch und verantwortungslos. Aber ohne Logik ist es nicht.
Weder die Ukraine noch die Nato kann sich dieser Drohkulisse beugen, ohne Putins Skrupellosigkeit weiter zu befeuern. Deshalb sind die kommenden Wochen so riskant. Einknicken und klein beigeben sind nicht einmal theoretisch eine Option. Den kritischen Moment, in dem der Westen der Erpressung mit Atomwaffen die Stirn bietet, kann man nicht vermeiden, sondern nur verschieben. Der Showdown fände dann später bei einer noch riskanteren Konfrontation, etwa im Baltikum, statt. Der Krieg ist in eine neue Phase eingetreten. In den nächsten Wochen werden Staatschefs und Politiker Nerven wie Drahtseile brauchen. Und wir alle ein bisschen Glück.
Wo bleibt die Strategie?
Bei ihrer Energiepolitik wirkt die Ampelregierung nach wie vor wie ein Hühnerhaufen: Heute dies, morgen das, und alle gackern aufgeregt durcheinander. Nun verlängert Wirtschaftsminister Robert Habeck also die Laufzeit der beiden süddeutschen Atomkraftwerke bis ins kommende Frühjahr. Es werden bereits Wetten angenommen, wann er seinen Widerstand gegen einen dauerhaften Weiterbetrieb der Meiler endlich aufgibt. Bis dahin macht er, was wir im Tagesanbruch bereits vor drei Wochen festgestellt haben: Er serviert den Bürgern die Wahrheit nur scheibchenweise.
Wer bezahlt?
Wegen seiner Corona-Infektion muss Bundeskanzler Olaf Scholz derzeit alle Termine aus der Quarantäne im Kanzleramt absolvieren (es geht ihm so weit gut). Einen Termin hat er gar ganz abgesagt und auf den 4. Oktober verschoben: Scholz wird heute nicht wie ursprünglich vorgesehen an den Beratungen der Ministerpräsidenten der Länder teilnehmen. Die Damen und Herren diskutieren über die Frage, wer all die Versprechen aus dem dritten Entlastungspaket der Ampelregierung bezahlen soll. Der Bund ist nach der Corona-Füllhornpolitik abgebrannt, viele Länder wollen ihre unter Schmerzen gesund gesparten Haushalte nicht gleich wieder ins Minus stürzen. Aber einer muss die Zeche für Strompreisbremse, Kindergelderhöhung, Rentenplus, Wohngeldreform und so weiter ja berappen. Und noch – wohlgemerkt: noch – sperrt sich Christian Lindner dagegen, die Schuldenbremse auch im kommenden Jahr aufzugeben. Umso interessanter ist das Interview, das meine Kollegen Sven Böll und Florian Schmidt mit dem Finanzminister geführt haben.
Was noch lesen?
Die Lecks in den Ostseepipelines Nord Stream 1 und 2 gehen vermutlich auf Sabotage zurück. Die amerikanische CIA warnte die Bundesregierung schon vor Wochen vor Angriffen auf die Gasröhren. Unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe berichtet über die neuesten Entwicklungen.
Ex-US-Präsident Donald Trump kämpft an immer mehr Fronten mit rechtlichen Problemen. Er gerät nun in echte Bedrängnis, berichtet unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.
Mit einer Äußerung zum angeblichen "Sozialtourismus" ukrainischer Flüchtlinge sorgt Friedrich Merz für Empörung. Inzwischen rudert der CDU-Chef zwar zurück, doch der Schaden ist groß, berichten unsere Reporter Miriam Hollstein und Fabian Reinbold.
Was amüsiert mich?
Friedrich Merz wäre gern Kanzler. Gut, dass uns das erspart bleibt.
Ich wünsche Ihnen einen optimistischen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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