Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was droht aus den USA?
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
im politischen Berlin geht die Angst vor einer Frage um, über die in diesen Tagen nur ungern offen gesprochen wird. Denn genau genommen gibt es auf das, wovor sich alle fürchten, keine befriedigende Antwort. Was, wenn auch in den USA aus autoritären Strömungen Mehrheiten werden? Was, wenn in Amerika der Extremismus bald ebenfalls triumphiert?
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Konkret geht es um die sogenannten Midterms, also die Zwischenwahlen, die in den Vereinigten Staaten am 8. November stattfinden. Dabei wird das Repräsentantenhaus komplett gewählt und auch ein Drittel der Senatoren.
Deutsche Politiker reden in Hintergrundgesprächen von nicht weniger als dem großen Extremismus-Test in den USA. Je nach Ausgang der Wahlen im Herbst könnte das Ergebnis die ganze Welt, vor allem aber den Westen, in weitere Ungewissheiten und Unruhen stürzen.
Woher diese Angst? Im Grunde handelt es sich doch um eine durch und durch demokratische Prozedur, die alle vier Jahre stattfindet. Genauer: alle zwei Jahre nach den Präsidentschaftswahlen, die meistens viel spannender wirken. In diesem Jahr gibt es nur diese "Zwischenwahlen", die in den USA normalerweise ein Stimmungstest für die aktuelle Regierung sind. Und im Ausland eben eher von transatlantischen Feinschmeckern verfolgt werden.
Dieses Jahr aber ist alles anders. Deutschland und weite Teile Europas stehen im Winter vor einer handfesten Energie-, Inflations- und damit einer Wirtschaftskrise, welche die Folgen der Corona-Pandemie geradezu lächerlich erscheinen lassen könnte.
Der russische Überfall auf die Ukraine bestimmt die Weltlage. Er hat sie unumkehrbar verändert und das hat unweigerlich Auswirkungen auf unser Verhältnis zu den USA.
Nicht nur Tod und Zerstörung sind nach Europa zurückgekehrt, sondern auch eine Erkenntnis: Autokratisch regierte Atommächte wie Russland und China können ihre imperialistischen Träume im Zweifel einfach durchsetzen. Der Westen scheint sie daran nicht hindern zu können, außer er würde sich selbst militärisch einmischen. Wie schwer es dabei fällt, die übrigen Staaten der Welt von der eigenen Sichtweise zu überzeugen, wird kommende Woche wieder bei der UN-Vollversammlung in New York zu beobachten sein.
Hinzu kommt, dass ausgerechnet jetzt gigantische Rettungsgelder verteilt werden müssen. Es sind Summen, die wir dringend bräuchten für Investitionen in klimafreundliche und digitale Technologien, um uns für die Zukunft erfolgreich aufzustellen. Putins Krieg bremst auch den Kampf gegen die Klimakrise.
Es sind bittere außen- und handelspolitische Lehren, die gerade die deutschen Politiker ziehen müssen. Ausbaden aber müssen wir das alle gemeinsam. Teure Gas- und Stromrechnungen gefährden nicht nur Geringverdiener, sondern ebenso die Mittelschicht. Auch, weil die Kosten für andere Produkte in der Folge noch viel weiter steigen dürften als bislang.
Besonders für Bundeskanzler Olaf Scholz und seinen grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck geht es täglich ums politische Überleben. Der Kampf um den Weiterbetrieb der AKW, die milliardenschweren Hilfspakete, die Diskussion um die Nachfolge des 9-Euro-Tickets, der Streit mit den Bundesländern, die Debatten um die Schuldenbremse und den weiteren Umgang mit Waffenlieferungen zeugen davon.
Neben der innenpolitischen Schadensbegrenzung müssen Scholz und Habeck parallel eine neue Wirtschaftsstrategie entwickeln, bei der es mehr denn je auf die USA ankommt. Denn die Idee ist, künftig möglichst ohne gefährliche Abhängigkeiten von Regimen auszukommen, die Vernichtungskriege wie jenen von Russland gegen die Ukraine anzetteln.
Es soll keine "Partner" mehr geben, die Energieträger als Erpressungsmittel missbrauchen könnten. Sicher sein kann man sich zwar nie. Aber man will zumindest versuchen, vorauszuschauen. Blumig gesprochen ist das auch mit der sogenannten wertegeleiteten Außenpolitik gemeint, von der die Grünen so gerne schwärmen.
Der wichtigste Grundpfeiler für das neue deutsche Wirtschaftsmodell sind wie vermutlich nie zuvor die Vereinigten Staaten – neben Beziehungen zu anderen wichtigen Demokratien wie Kanada, Japan, Südkorea, Australien und natürlich den Mitgliedern der EU. Diese Staaten sind nicht nur Bezugsquellen für Rohstoffe und Technologien, sie gehören außerdem zu den wichtigsten Absatzmärkten für deutsche Produkte und sind das Ziel von Investitionen deutscher Firmen.
Nun könnten ausgerechnet die USA bereits bei den Zwischenwahlen erneut zu einem Partner werden, auf den man sich freundlich ausgedrückt schlecht einstellen kann. Sollten die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus und womöglich ebenfalls im Senat verlieren, wäre Joe Biden kaum noch in der Lage, seine Agenda durchs Parlament zu bekommen.
Im Klartext: Das könnte auch für uns ein Desaster werden. Unsere viel beschworene Diversifizierung ist zugleich eine Fokussierung – und zwar auf unseren transatlantischen Partner. Problematisch ist das deswegen, weil die USA in Sachen Demokratie zunehmend instabil wirken. Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 war dabei nur ein besonders markanter Vorfall. Dahinter steckt eine viel breitere Entwicklung, bei der nicht zuletzt der Kampf um die Besetzung der Gerichte eine immer wichtigere Rolle spielt.
Grund dafür ist der nach den Trump-Jahren immer weiter anwachsende, verfassungsgefährdende politische Extremismus. Die "Make America Great Again"-Bewegung ist dabei, das politische System zu sabotieren. Ob durch das geradezu absurde Zuschneiden von Wahlkreisen zugunsten der Republikaner, durch das Besetzen von Richter- oder Verwaltungsstellen mit willfährigen Personen oder das andauernde Schüren von Misstrauen gegen die Institutionen. Wie Trump nach seiner Niederlage mit brisanten Staatsgeheimnissen umgegangen ist, lesen Sie hier.
Inzwischen sehen zwar laut einer aktuellen Umfrage 58 Prozent der Befragten Trumps "MAGA"-Bewegung als eine Bedrohung für das demokratische Fundament Amerikas. Es ist jedoch offen, wie viele Sitze im Kongress an Trump-treue Republikaner gehen werden. Es könnten mehr sein als je zuvor.
Die Furcht vor einer landesweiten "MAGA"-Welle ist so groß wie noch nie. Sie könnte einer ebenfalls autokratischen Ideologie ausgerechnet in der ältesten Demokratie der Welt den Weg bereiten. Eine zweite Amtszeit Trumps nach den Präsidentschaftswahlen 2024 wäre dann viel wahrscheinlicher – und zwar unabhängig davon, ob er gewinnt oder nicht. Dann wäre die Wahl womöglich wirklich gestohlen. Pläne dafür gab es längst und gibt es noch.
Die Folgen wären für die übrigen westlichen Partner der USA und besonders für Deutschland noch viel schwerwiegender als zu Trumps erster Amtszeit. Die deutsche Regierung und hiesige Unternehmen haben sich bereits auf den Weg gemacht. Sie wenden sich von Russland ab und perspektivisch ebenso von China. Die Abhängigkeit von Amerika wächst.
Bei einer Veranstaltung, die kürzlich im Auswärtigen Amt stattfand, drückte es der Transatlantikbeauftragte der Bundesregierung, Michael Georg Link (FDP), in der Gegenwart internationaler Gäste so aus: Die Biden-Regierung sei so europafreundlich wie keine US-Administration zuvor. "Diese Chance müssen wir ergreifen", sagte Link.
Heißt: Die Sorge ist groß, dass sich das Zeitfenster für diese Chance bereits im Herbst bei den Zwischenwahlen schließen könnte. Was droht, ist nicht weniger als die Ungewissheit, wie es danach weitergeht. Schon das ist Gift für Unternehmen, die Planungssicherheit brauchen. Aber auch für die Politik, die Rahmenbedingungen schaffen muss. Gerade wenn es um Energieprojekte geht, die eine künftige Flüssiggas- oder Wasserstoffversorgung sichern sollen. Jeder in Berlin weiß, dass nicht nur Wladimir Putin, sondern auch Donald Trump bestehende Handelsbeziehungen im Zweifel als Waffe einsetzen würde.
Das politische Berlin ist inständig auf der Suche nach Antworten auf die bangen Fragen. Zahlreiche deutsche Politiker und Politikerinnen fliegen darum in den kommenden Wochen in die USA. Den Auftakt macht diese Woche die USA-Parlamentariergruppe unter ihrem Vorsitzenden Jürgen Trittin.
Antworten auf die große Angst vor dem Ergebnis der Zwischenwahlen werden auch die Abgeordneten erst erhalten, wenn es so weit ist. Klar ist aber schon jetzt, dass Europa und insbesondere Deutschland sich wappnen müssen. Notwendig wird das wohl sein, ganz egal, welcher Präsident ins Weiße Haus einzieht. Das heißt: keine Abkehr von Amerika. Das jedoch wird im Zweifel bedeuten, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen und mehr Zugeständnisse an die USA bei Sicherheitsthemen zu machen.
Das muss nichts Schlechtes sein, denn es bedeutet zugleich Augenhöhe. Doch es wird uns etwas kosten. Gut möglich, dass die 100 Milliarden Euro, die in die Bundeswehr investiert werden sollen, erst der Anfang waren. Nicht ausgeschlossen, dass es schon bald gar nicht mehr um 2-Prozent-Ziele für die Nato gehen wird, sondern darum, 2,5 oder gar 3 Prozent der Wirtschaftsleistung ins Militär zu stecken.
Wir wissen, wer für diese Forderung einst verdammt und verlacht wurde: Donald Trump, mit dem wir womöglich bald wieder werden auskommen müssen.
Was steht an?
In Brüssel hält die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Rede zur Lage der Union. Einmal im Jahr skizziert die deutsche Spitzenpolitikerin Ideen und Leitlinien für die Zukunft der Europäischen Union.
Der Europäische Gerichtshof fällt sein Urteil zur EU-Milliardenstrafe gegen Google. Die Europäische Kommission hatte 2018 eine Geldbuße in Höhe von 4,34 Milliarden Euro wegen illegaler Praktiken bei Android-Mobilgeräten verhängt. Denn der Konzern soll seine marktbeherrschende Stellung als Suchmaschinenbetreiber missbraucht haben. Google und Alphabet wollen diesen Beschluss für nichtig erklären lassen.
In Schweden werden die Stimmen nach der Wahl weiter ausgezählt. Frühestens an diesem Mittwoch soll dann ein vorläufiges Endergebnis feststehen. Der Vier-Parteien-Block des Konservativen Ulf Kristersson hatte zuletzt einen minimalen Vorsprung vor dem Lager der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson.
Was lesen?
Das Bundesarbeitsgericht hat ein weitreichendes Urteil gefällt, mit dem der Druck auf die Ampel wächst: Deutschland braucht zügig ein Gesetz, das die Erfassung von Arbeitszeiten regelt. Mein Kollege Florian Schmidt hat darüber mit dem Hamburger Arbeitsrechtler Michael Fuhlrott gesprochen. Dessen Urteil zum Urteil: "Mit der Vertrauensarbeitszeit ist es dann vorbei. Die Stechuhr für alle wird kommen." Zu den wichtigsten Fragen und Antworten rund ums künftige Stempeln auf der Arbeit geht es hier.
Mit aller Gewalt sperrte die SED ihre Menschen ein, doch auf abenteuerlichen Wegen strebten die Bürgerinnen und Bürger der DDR in die Freiheit. Besonders spektakulär verlief vor 60 Jahren die Flucht durch den "Tunnel 29". Mein Kollege Marc von Lüpke hat die Geschichte aufgeschrieben.
Der Erfolg der Ukrainer im Oblast Charkiw ist selbst für den Militärexperten Carlo Masala überraschend. Doch er warnt in seiner t-online-Videokolumne davor, ihn schon als Wendepunkt des Krieges zu sehen: Die Kremltruppen können weiterhin zurückschlagen. Ob es dazu kommt, hängt auch vom Westen ab.
Historisches Bild des Tages
Diktatoren bereichern sich hemmungslos an Geld, das ihnen nicht gehört. Nur wenige trieben es allerdings so schlimm wie Mobutu Sese Seko. Mehr erfahren Sie hier.
Was amüsiert mich?
Morgen schreibt Florian Harms wieder an dieser Stelle. Ich wünsche Ihnen einen schönen Mittwoch.
Ihr
Bastian Brauns
Washington-Korrespondent
Twitter @BastianBrauns
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Mit Material von dpa.
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