Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch So wird Putin gewinnen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Idealismus ist schön, aber Realismus ist oft praktikabler. Auch in der Politik: Wer sich von hehren Visionen leiten lässt, verhakt sich oft schnell in den Fallstricken des Alltagsgeschäfts. Pragmatische Kompromisse zu schmieden fällt schwerer, wenn man stets von hoher Warte auf die Dinge blickt. Das kann gravierende Folgen haben, und es kann Politiker in Bredouille bringen, erst recht in internationalen Krisen.
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Im Hinblick auf den Ukraine-Krieg argumentieren westliche Politiker fast ausnahmslos moralisch: Russlands Angriffskrieg ist ein Verbrechen, Putin ist böse, also muss man ihn bekämpfen, bestrafen, sanktionieren. Menschlich und faktisch ist das vollkommen richtig – aber politisch ist es zu wenig, um am Ende erfolgreich zu sein. "Der Schlüssel für einen Waffenstillstand liegt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in der Politik und der Diplomatie", haben wir schon im März im Tagesanbruch geschrieben. Daran hat sich nichts geändert. Diplomatische Initiativen müssten die Waffenlieferungen für die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland flankieren.
Es gibt sie aber bis heute nicht, und das liegt nicht allein an Putins Kaltblütigkeit. Es liegt auch daran, dass sich westliche Politiker – ob sie nun Baerbock oder Biden heißen – vor allem von moralischer Entrüstung leiten lassen. Deshalb verstrickt sich auch Deutschland immer weiter in den Konflikt, leidet nun unter einem Gasnotstand und zittert vor dem Herbst. Deshalb gibt es bis heute keinen bekannten Plan, wie es eigentlich weitergehen soll, falls die eine oder andere Seite den Krieg gewinnt. Was wollen EU und Nato tun, falls Russland die eroberten Gebiete allesamt annektiert und – unterstützt von China, Indien, Indonesien, Brasilien – irgendwann auf die internationale Bühne zurückdrängt? Oder wie wollen sie mit einem erschütterten Kremlregime umgehen, falls die russische Armee dank westlicher Waffen für die Ukraine den Krieg doch noch verliert?
Wie wollen Scholz, Macron und Co. sich auf dem G20-Gipfel Mitte November verhalten, wenn sie dort auf Putin treffen? Sind sie eigentlich für den Fall gerüstet, dass nach Putin ein noch unberechenbarer, womöglich noch brutalerer Halunke im Kreml an die Macht kommt, der seine Attacken auf EU-Staaten nicht auf Attentate, Propaganda und Wahlmanipulation beschränkt? Im russischen Staatsfernsehen kann man jeden Abend die wildesten Pläne verfolgen, extremistische Kommentatoren schwadronieren dort unter großem Applaus über einen Atomangriff auf den verweichlichten Westen und proklamieren ein russisches Großreich von Sibirien bis an den Atlantik. Das alles als Quatsch abzutun, wäre fahrlässig. Es braucht eine kühle Strategie, die über den Moment hinausweist und verschiedene Optionen für unterschiedliche Szenarien enthält, aber von allen europäischen Staaten mitgetragen wird.
Die Grundlage für so eine realpolitische Strategie ist ein realistisches Bild der Lage, das nicht durch Wunschdenken verzerrt wird. Selbstverständlich sähe man Putin lieber heute als morgen entmachtet und würde den furchtbaren Krieg möglichst schnell beenden, ohne weite Teile der Ukraine dem Despoten zu überlassen. Aber realistisch ist beides zumindest gegenwärtig nicht erreichbar. Sich das einzugestehen, ist schmerzlich. Aber es kann helfen, neue Wege auszuloten, die weiteres Leid und weitere Zerstörung vielleicht verhindern. Pragmatische Kompromisse eben.
Wie also sieht es aus, das realistische Bild der Lage fast fünf Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs? Diese Frage kann ein Mann genauer beantworten als Politiker: Der Osteuropahistoriker Jörg Baberowski zählt zu den besten Kennern Russlands und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Vorgängen im Kreml. Was er in unserem Interview erklärt, hat meinen Kollegen Marc von Lüpke und mich sehr nachdenklich gestimmt. Wenn Sie heute nur Zeit für einen einzigen Text haben: Es sollte dieser sein.
SPD gegen Schröder
Der Altkanzler bleibt dabei: "Ich werde meine Gesprächsmöglichkeiten mit Präsident Putin nicht aufgeben", verkündete Gerhard Schröder vor wenigen Tagen in der "FAZ". Außerdem stellte er den Nutzen von Waffenlieferungen an die Ukraine infrage und warb für eine "diplomatische Lösung" im russischen Angriffskrieg – womöglich gar mit ihm als Vermittler? In der SPD hat der Frust über die Nähe ihres einstigen Vorsitzenden zum Kreml-Despoten enorme Ausmaße erreicht; zuletzt äußerte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sein Bedauern über Schröders Haltung.
Heute beginnen im SPD-Unterbezirk Hannover die Verhandlungen über 17 Anträge zum Parteiausschluss des 78-Jährigen. Doch selbst wenn einige entsprechende Kriterien durchaus auf Schröders Verhalten anwendbar scheinen ("Gegen die Grundsätze der SPD verstößt insbesondere, wer das Gebot der innerparteilichen Solidarität außer Acht lässt", heißt es in den Statuten), dürfte ein Ausschluss am Ende unwahrscheinlich sein. Dafür nämlich müsste auch noch der Nachweis erbracht werden, dass Schröder der SPD vorsätzlich Schaden zugefügt hat – was als juristisch extrem schwierig gilt. Insofern zählen hier wohl vor allem der Symbolwert des Verfahrens und die damit verbundene Distanzierung.
Uni lässt nun doch Redefreiheit zu
Die Kritik an der Berliner Humboldt-Universität war zu Recht scharf: Anfang des Monats war dort ein geplanter Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht mit dem Titel "Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht: Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt" abgesagt worden – nicht etwa, weil die These als allzu selbstverständlich empfunden worden wäre, sondern weil der "Arbeitskreis kritischer Jurist*innen" ihn als transfeindlich eingestuft und zu Protesten aufgerufen hatte. Begründet wurde die universitäre "Cancel Culture" mit angeblichen Sicherheitsbedenken.
Heute soll der Vortrag nachgeholt werden, gefolgt von einer Podiumsdiskussion zum Thema "Meinung, Freiheit, Wissenschaft – der Umgang mit gesellschaftlichen Kontroversen an Universitäten". Teilnehmen werden Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), der umstrittene HU-Präsident Peter Frensch und Jenny Wilken von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität. Die Biologin Vollbrecht hat dagegen für die Diskussion abgesagt.
Frankreich feiert
Paris putzt sich heute heraus: Der Nationalfeiertag wird mit der traditionellen Militärparade auf den Champs-Élysées gefeiert, zu der rund 6.300 Soldaten und Polizisten aufmarschieren – zu Fuß, im Flieger, zu Pferde und in Wagen. Ausnahmsweise aber richten die Franzosen ihre Blicke diesmal nicht nur auf die Hauptstadt: Denn mit der Bergankunft in Alpe d'Huez erreicht die diesjährige Tour de France ihre Königsetappe. Bei der Fahrt von Briançon ins legendäre Skiresort sind mehr als 4.500 Höhenmeter zu bewältigen. Wie üblich schaffen das die Fahrer wohl nur vollgepumpt mit Doping.
Was lesen?
Wladimir Putin ist alles andere als isoliert: Der Kremlchef hat neue Verbündete und Abnehmer für seine Rohstoffe gewonnen. Warum die Ablehnung der westlichen Hegemonie in vielen Ländern größer ist als die moralische Entrüstung über den russischen Angriffskrieg, erklärt mein Kollege Patrick Diekmann.
In Deutschland läuft etwas grundsätzlich falsch: Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge beschreibt in der "Süddeutschen Zeitung", wie die zunehmende Armut unsere Gesellschaft zerfrisst.
Die Ampelkoalition blockiert sich in etlichen Punkten selbst. Vielleicht lässt es einer der Partner deshalb irgendwann auf Neuwahlen ankommen, meint unser Reporter Tim Kummert.
Abschalten der letzten Atomkraftwerke? Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert kommentiert im Interview mit unserem USA-Korrespondenten Bastian Brauns die deutsche Regierungspolitik.
Das sexistische Schlagerlied "Layla" ist von mehreren Volksfesten verbannt worden. Was t-online-Leserinnen und -Leser davon halten, fasst mein Kollege Mario Thieme zusammen.
Was amüsiert mich?
Der Finanzminister verhält sich solidarisch.
Ich wünsche Ihnen einen erquicklichen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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