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Klimakrise, Dürre, Wasserknappheit: Höchste Zeit für eine radikale Entscheidung


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Tagesanbruch
Eine radikale Entscheidung

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.07.2022Lesedauer: 6 Min.
Rettungseinsatz nach dem Abbruch am Marmolata-Gletscher in den Dolomiten.Vergrößern des Bildes
Rettungseinsatz nach dem Abbruch am Marmolata-Gletscher in den Dolomiten. (Quelle: Corpo Nazionale Soccorso Alpino e Speleologico/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

viele finden es ja schön, wenn man das Theoretisieren hinter sich lassen kann und endlich zum praktischen Teil kommt. Man ist fertig mit all den Formeln, Rechenmodellen, Kurven und Diagrammen, stattdessen wird es schön anschaulich und handfest. Aber wissen Sie, wann das Mist ist? Wenn es in den Urlaub geht. Die Klimaforscher nämlich bleiben längst nicht mehr brav unter sich, stecken die Köpfe auf ihren Konferenzen zusammen und erzählen anschließend der versammelten Presse, wie schlimm bald alles wird. Was sie ausgerechnet haben, findet nicht mehr bloß Eingang in die Fachliteratur. Sondern auch in die Urlaubsplanung.

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Sommerferien am Mittelmeer? Super Sache eigentlich, nur hat sie durch Hitze und Dürre ein paar Fußnoten bekommen. Die spanische Ferienregion Costa del Sol zum Beispiel hat sich bereits Anfang Juni auf die Hochsaison eingestimmt, und zwar durch die Evakuierung Tausender Menschen wegen eines ersten Waldbrands. Am Meer in der Türkei geht es damit auch schon wieder los. In Norditalien bleiben wegen der Wassernot die Pools und mancherorts sogar die Wasserhähne leer. Legen Reisebüros bald Broschüren aus, in welchen Regionen mit besonderer Trockenheit und häufigen Waldbränden zu rechnen ist? Kundenservice ist ja wichtig.

Für Fernreisende habe ich eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst: An den Traumzielen sieht es auch nicht besser aus. In Japan kann man tolle Tempel besichtigen, gebraten wird aber nicht nur der Fisch im Restaurant. Noch nie war es dort so früh so lange so heiß. Dass die Glut in Kalifornien um diese Jahreszeit schon wütet, kennen wir seit Jahren, aber es geht eben immer noch ein bisschen schlimmer.

Damit sind wir aber auch schon bei den Sonnenseiten: In Arizona kann man dank der Hitze seine Burger inzwischen im Auto braten. Eine gute Nachricht gibt es zudem für die Reisekasse: Den teuren Langstreckenflug in die Karibik kann man sich sparen. Denn selbst dem norwegischen Städtchen Bodø am Polarkreis bescheinigten die Meteorologen kürzlich eine Tropennacht. Sommertemperaturen von über 30 Grad kommen im höchsten Norden Skandinaviens inzwischen so häufig vor, dass sich dafür nicht mal mehr eine Postkarte nach Hause lohnt.

"Wir haben die ganze Zeit Sonne gehabt!", ist deshalb nicht mehr unbedingt ein Hinweis auf einen gelungenen Urlaub. Das Wasser ist aber noch schlimmer. Rekordfluten haben schon im vergangenen Jahr verheerende Folgen gehabt – ob im Ahrtal, am Amazonas, in New York oder in Australien, wo es derzeit in der Region um Sydney mit der endlosen Serie weitergeht. Gegen die punktuellen Extremereignisse, die immer häufiger, aber nicht vorhersagbarer werden, kann auch die ausgefeilteste Ferienplanung nichts mehr ausrichten. Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, dem hilft nur noch Glück.

Und manchmal hilft es leider nicht. Mehrere Tote hat ein tragischer Gletschersturz gerade an einem beliebten Berg der Dolomiten gefordert. Für einen solchen Moment gibt es keine Vorwarnung. Wann auf dem Gletscher ein riesiger Eisklotz kollabiert und eine Katastrophe auslöst, darauf haben selbst die Experten keine Antwort. Auf die Frage nach dem Warum hingegen durchaus.

Die Klimakrise hat Einzug in unseren Alltag gehalten. Nichts an ihr ist mehr abstrakt. Man braucht keine Prognose mehr, die davor warnt, dass die Welt eines Tages heißer wird. Stattdessen kann man einfach auf das Thermometer vor dem Fenster schauen. Wer einen Garten hat, bemerkt irgendwann, dass er von Jahr zu Jahr immer länger und immer öfter gießen muss. Wer oben im Haus oder gar direkt unter dem Dach wohnt, kann die schleichende Veränderung an der Zahl der Ventilatoren in der Wohnung ablesen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die überhitzende Welt in unserem Denken eingenistet hat, markiert den Beginn einer neuen Phase. Schwierig zu verstehen ist an der Klimakrise nichts mehr, überraschend auch nichts. Nur das enorme Tempo der Veränderung erscheint manchmal ungewöhnlich. Denn so, wie Wissenschaftler ihre Klimamodelle konstruieren, tendieren die Voraussagen dazu, die Geschwindigkeit der Erhitzung zu unterschätzen.

Bei näherem Hinsehen kann man noch eine weitere bemerkenswerte Beobachtung machen. Es fehlt nämlich etwas: Den selbstverständlichen Konsens zum Klima, der sich eigentlich quer durch alle politischen Köpfe und Parteien ziehen müsste, gibt es nicht. Spätestens nach Feierabend geht es Politikern nicht anders als allen anderen Menschen: Schwitzen muss jeder. Die Klimakrise ist auch für die abgebrühtesten Politprofis persönlich erfahrbar geworden. Das Wissen um die Gewalt und Geschwindigkeit der weltweiten Hitze-Explosion müsste deshalb längst zur Grundlage der politischen Gestaltung geworden sein – und zwar unabhängig von allen anderen Überzeugungen, die man als Parteimitglied sonst so hat. Auch im Bundestag checkt jeder auf seinem Handy die Wetter-App, die zum x-ten Mal das Sonnensymbol und eine viel zu hohe Zahl in Celsius anzeigt. Wie kann man darüber nicht ins Grübeln geraten – ganz egal, welche Buchstaben auf dem Parteibuch stehen?

Natürlich sind die Lippenbekenntnisse zum "entschlossenen Vorgehen" gegen die Klimakrise für Politiker aller Parteien zu einer Art Vitalzeichen geworden, so ähnlich wie ein tastbarer Puls oder die regelmäßige Atmung: Die Wähler wollen es, also sagen wir es. Doch nicht nur bei den Außenseitern von der AfD, sondern auch in Teilen von CDU und CSU sowie in der FDP haben die Erfahrungen, die jeder von uns im Privaten mit der Veränderung des Klimas machen kann, die politische Praxis keinesfalls durchdrungen. Auch in der SPD und sogar bei den Grünen schauen viele lieber weg. Es ist eine Berufskrankheit: mit Prioritäten zu jonglieren, Deals und Kompromisse einzutüten, Sachfragen und Anliegen als Verhandlungsmasse zu begreifen. Und dabei zu übersehen, wann es ans Eingemachte geht.

Die meisten von uns merken, dass es jetzt ernst wird: Der Überhitzung des Erdballs entgegenzuwirken, ist nicht mehr eine Priorität unter vielen, sondern läuft außer Konkurrenz. Das ist ein simpler Satz mit enormen Konsequenzen. Denn der klimagerechte Umbau der Wirtschaft ist ein Mammutunternehmen – soll heißen, man darf ihn nicht herauszögern – und er kostet ein Vermögen. Deshalb ist eine einfache, grundsätzliche, gravierende Entscheidung nötig. Die Schuldenbremse wieder einzuhalten, wenigstens in absehbarer Zeit, mag eigentlich eine gute Sache sein. Aber der klimagerechte Umbau der Wirtschaft sollte von der Schuldenbremse ausgenommen sein. Finanzminister Lindner würde bei dieser Forderung eigentlich toben. Das soll er besser mal lassen. Dafür ist es viel zu heiß.

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Und sonst so?

Kanzler Scholz stellt sich im Bundestag einer Regierungsbefragung, Außenministerin Baerbock jettet nach Indonesien, Japan und so weiter, eine Berliner Expertenkommission legt ihren Bericht zu den Pannen bei der Abgeordnetenhauswahl vor, der britische Premier Johnson wird nach dem Rücktritt von zwei Ministern von einem Parlamentsausschuss gegrillt. Alles irgendwie wichtig, aber alles Killefitz im Vergleich zur täglich wachsenden Bedrohung durch die Erderhitzung. Daher präsentiere ich Ihnen heute lieber ein Gedicht, das Tagesanbruch-Leserin Renate Boldra verfasst und mir freundlicherweise geschickt hat:

Ich seh auf allen Köpfen Narrenkappen,
Regierende mit Narrenzeptern in der Hand,
und mancher Narr hat neben Schellenstäben
auch schon ein Zündholz angebrannt.

Seit vielen Jahren wissen wir vom Artenschwinden,
was schert es uns, die Krone sind ja wir.
Der Klimawandel? Mag schon sein, wenn die das sagen, aber nicht hier.

Und einer sagt uns, dass die Bienen sterben,
und dass die Ernten drohen einzubrechen,
natürlich wär das schade um den Honig,
doch andrerseits, so können sie nicht stechen.

Wir lieben dieses Leben aus der Fülle,
und wehe, einer kratzt an seinem Lack.
Wir kaufen mehr, obwohl wir alles haben,
man braucht es eben, weil's der Nachbar hat.

Wir rühmen uns der Größe unsres Geistes,
doch kommt uns einer mit dem Wort Verzicht,
berufen wir uns gern auf die Instinkte:
Verzicht? Genetisch geht das leider nicht.

Ich seh auf allen Köpfen Narrenkappen
und auch auf meinem, wenn ich in den Spiegel seh,
auch ich will immer etwas Neues haben,
ein bisschen besser und ein bisschen mehr.

Nur manchmal irritiert uns eine Nachricht:
"Die Wissenschaft sagt ..." Ach, das ist nur Fake!,
ruft einer – aufatmendes Lachen,
und ruhig ziehen wir die bunten Kappen
ein bisschen tiefer in die Stirn und tappen
blind einem andern Narren hinterher.


Was lesen?


Schon in zwei Wochen könnte Putin Deutschland den Gashahn endgültig abdrehen. Was dann droht, erläutern unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert.


Der umstrittene ukrainische Botschafter Andrij Melnyk soll offenbar nach Kiew abgezogen werden. Meine Kollegen Liesa Wölm und Fabian Reinbold haben die Hintergründe.


Eine Gruppe Linksradikaler hat an der Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag über das Thema "Geschlecht" verhindert. Die absurden Hintergründe erklärt der Historiker Jörg Baberowski in unserem Interview.


Was amüsiert mich?

Sommerloch? Da kommt noch was …

Ich wünsche Ihnen Gesundheit und Zuversicht an diesem Sommertag. Aber tun Sie mir und sich selbst den Gefallen: Beginnen Sie in ihrem Familien- und Freundeskreis, täglich über das Klimaproblem zu sprechen. Und machen Sie Druck auf die Politiker in Ihrem Wahlkreis, damit die endlich entschlossen handeln. Wischiwaschi können wir uns nicht mehr leisten.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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