Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Putin hinter Gittern
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Bosco Ntaganda war ein Teufel. Mit seiner Mörderbande wütete der Mann mit dem Spitznamen "Terminator" im Osten des Kongo, ließ Zivilisten massakrieren, Frauen vergewaltigen, Kinder an die Waffen zwingen. Vor drei Jahren verurteilte ihn der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 30 Jahren Gefängnis.
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Auch Thomas Lubanga hat grausame Verbrechen begangen: Als Anführer einer Miliz verbreitete er in der Demokratischen Republik Kongo Angst und Schrecken. Wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten verurteilte ihn der Internationale Strafgerichtshof zu 14 Jahren Haft. Die Warlords Germain Katanga (Kongo, 12 Jahre Haft) und al-Mahdi (Mali, 9 Jahre) sowie fünf zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilte Kämpfer aus der Zentralafrikanischen Republik gehören ebenfalls in diese Reihe. Gegen mehrere weitere mutmaßliche Verbrecher hat der Gerichtshof Verfahren eingeleitet, doch sie sind flüchtig oder bereits gestorben. Ein paar wurden von den Richtern freigesprochen. Aber alle haben eines gemeinsam: Sie stammen aus Afrika und haben ihre Schreckenstaten dort begangen.
Heute vor 20 Jahren ist das Weltstrafgericht eingesetzt worden. Mit einer hochrangig besetzten Konferenz feiern Juristen und Politiker den Jahrestag. Doch gibt es wirklich etwas zu feiern? Man braucht sich nur eine Minute lang in der Welt umzuschauen, um zahlreiche Ungeheuer zu finden, die zwar Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, aber unbehelligt bleiben. Das ist doch ein Skandal! Warum wird Syriens Diktator Assad nicht angeklagt oder der saudische Kronprinz bin Salman? Warum nicht die Chefs der iranischen Revolutionsgarden und ja, warum nicht auch Chinas Präsident Xi Jinping oder der ehemalige US-Präsident George W. Bush?
Die Welt ist ungerecht, das ist schon wahr. Und die Juristerei ist kompliziert – erst recht, wenn sie der Politik in die Quere kommt. Dann siegen Zynismus und Pragmatismus allzu oft über Gerechtigkeit und Moral. Abgesehen davon, dass sich nicht nur Diktatoren, sondern auch manche demokratische Ex-Regierungschefs immun gegen Strafverfolgung wähnen, ist es tatsächlich schwierig, Verbrechen von Potentaten lupenrein nachzuweisen: Wer gab wann welchen Befehl, wer traf welche Entscheidung? Meinungen am Stammtisch oder in Leitartikeln sind das eine, gerichtsfeste Beweise das andere.
Vor allem aber besitzt das Weltstrafgericht keine universelle Zuständigkeit. Angeklagt werden können nur Staatsangehörige der 123 Mitgliedstaaten sowie Taten auf den Territorien dieser Staaten. Länder wie Russland und die USA haben das Statut des Gerichts nicht ratifiziert. Sind keine Ausnahmen möglich?, fragte mich kürzlich ein Leser. Doch, von einem Nicht-Mitgliedsland müssten sie allerdings ausdrücklich beantragt werden und zudem ein kompliziertes Verfahren durchlaufen. Aber es gibt doch das Weltrechtsprinzip, gemäß dem Kriegsverbrechern auch vor deutschen Gerichten der Prozess gemacht werden kann, erinnerte mich eine Leserin. Stimmt, gibt es, wir erinnern uns an die in Koblenz verurteilten syrischen Folterknechte. Aber auch solche Verfahren sind kompliziert und politisch heikel.
"Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen": Die alte Redensart gilt trotz vieler Fortschritte des internationalen Rechts leider vielerorts bis heute. Falls Sie sich gefragt haben, warum der Verbrecher im Kreml nicht schon längst vor einem Richter steht und womöglich sogar im Herbst zum G20-Gipfel reist, finden Sie in der Gemengelage aus politischen und formalen Gründen die Antwort. "Juristisch ist der Krieg im Moment noch kein Problem für Putin", erklärt der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler im Gespräch mit meinem Kollegen David Schafbuch. Das könne sich allerdings in Zukunft ändern.
Wann? Zum Beispiel dann, wenn Putin abgelöst und von neuen Machthabern im Kreml nach Den Haag ausgeliefert würde. Völlig unrealistisch, meinen Sie? Ich wäre mir da nicht mehr so sicher. Die geschlossene Front aus EU, G7 und Nato beim jüngsten Gipfelmarathon war imponierend. Die US-Regierung gibt der Ukraine weitere Waffen im Wert von 800 Millionen Dollar und zusätzlich 500 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe. Selbst wenn es im gegenwärtigen Gasstreit anders erscheinen mag: Die Sanktionen treffen das Moskauer Regime und seine Günstlinge hart. Der Putin-Vertraute Oleg Deripaska hat den Krieg soeben öffentlich einen "kolossalen Fehler" genannt. Und der britische Geheimdienst meldet, die russischen Generäle hätten immer größere Probleme, ihre Kampfgruppen in der Ukraine aus aufgeriebenen Bataillonen zusammenzustellen.
Alle diese Entwicklungen läuten noch keine Vorentscheidung ein. Aber der Druck auf den Kremlchef wächst. Vielleicht siegt ja doch irgendwann die Gerechtigkeit und Putin landet dort, wo er hingehört: hinter Gitter.
Chaos-Karl
Die Corona-Zahlen schnellen in die Höhe, kostenlose Bürgertests gibt es seit gestern jedoch nur noch für Risikogruppen: Das ist nur das aktuellste Beispiel für die schlechte Performance, die der einst gefeierte Talkshow-Mahner Karl Lauterbach seit seinem Amtsantritt als Gesundheitsminister abliefert. Da nützt es auch wenig, wenn der SPD-Mann beteuert, dass er selbst die kostenlosen Tests ja gern behalten hätte, sich aber nicht gegen FDP-Finanzminister Christian Lindner habe durchsetzen können. Unsere Reporterin Annika Leister hat den politischen Absturz des Unglücksraben rekonstruiert.
Heute bekommt Lauterbach das Gutachten eines Sachverständigenrats zu den bisherigen Corona-Regeln übergeben. Das Gremium hat die Wirksamkeit des Infektionsschutzgesetzes ausgewertet. Aus den Erkenntnissen will die Ampelkoalition Konsequenzen für den Herbst ziehen. Das wird auch Zeit, denn die geltenden Corona-Bestimmungen laufen am 23. September aus, und die parlamentarische Sommerpause naht. Außerdem warten die Bundesländer, deren Gesundheitsminister sich heute zur gefühlt achthundertsiebenundzwanzigsten Digitalkonferenz zusammenschalten, immer noch auf einen Masterplan aus Berlin. Ich ahne: Wenn der Karl jetzt nicht liefert, dann wird es eng für ihn.
Wackliges Wunder
Christian Lindner tritt auf die Bremse: Zwar nicht in Sachen Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen, ein Tempolimit lehnt der FDP-Chef weiterhin ab. Aber bei der Neuverschuldung: Der Haushaltsentwurf des Finanzministers für 2023, der heute auf der Tagesordnung des Kabinetts steht, sieht – zum ersten Mal seit 2019 – wieder die Einhaltung der im Grundgesetz festgeschriebenen Schuldenbremse vor. So soll die Neu-Kreditaufnahme des Bundes von in diesem Jahr knapp 140 Milliarden Euro auf rund 17 Milliarden Euro im kommenden Jahr sinken.
Die Rechnung geht auf dem Papier auch deshalb auf, weil viele Kosten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie entfallen sollen (siehe oben) und hohe Rücklagen aufgelöst werden. Aber natürlich basiert sie auch auf Unwägbarkeiten: Wer wollte etwa exakt vorhersagen, wie stark sich gestörte Lieferketten oder ein dauerhaftes Abdrehen des Gashahns durch Putin noch auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken? "Lindners wackeliges Wunder" nennt unser Reporter Tim Kummert daher den Plan. Der Weg des Entwurfs ist freilich noch weit: Die erste Lesung im Bundestag ist für Ende September geplant, Ende November soll er im Parlament beschlossen werden – und dann muss noch der Bundesrat zustimmen, was für Dezember geplant ist. Viel Zeit also für den Realitätscheck.
Benin-Bronzen kehren heim
Es geht um mehr als 1.100 Figuren, Tafeln, Büsten und Reliefs aus dem Palast des einstigen Königreichs Benin, das heute zu Nigeria gehört: Vor rund 125 Jahren von britischen Kolonialisten gestohlen, wurden die Objekte an deutsche Museen und Sammlungen weiterverkauft – und sind seit mehr als 50 Jahren Gegenstand von Auseinandersetzungen. Heute wollen Außenministerin Annalena Baerbock und Kulturstaatsministerin Claudia Roth gemeinsam mit ihren nigerianischen Amtskollegen eine Vereinbarung unterschreiben, die die Rückgabe des Raubguts regelt. Anschließend sollen die Nigerianer bestimmen, welche Objekte zurückkehren und welche als Leihgaben in Deutschland bleiben. Wurde auch Zeit.
Nix mit Fliegen
Falls Sie im schönen Hamburg leben und eine schöne Flugreise planen, sollten Sie heute schön zu Hause bleiben. Das tägliche Chaos am Check-in, an der Sicherheitsschleuse und am Kofferband artet heute zum Mega-Chaos aus: Die Gewerkschaft Verdi ruft die technischen Mitarbeiter des Airports mit Beginn der Frühschicht zum Warnstreik auf. Und das ausgerechnet heute, wo in den Nachbarländern Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern die Sommerferien beginnen …
Was lesen?
Eine geniale Erfindung wird auf dieser Karikatur verspottet – dabei hat sie unzähligen Menschen das Leben gerettet. Welche es ist, erfahren Sie auf unserem Historischen Bild.
Die obersten US-Richter haben eine weitere radikale Entscheidung gefällt: Diesmal betrifft sie nicht nur Amerika, sondern die ganze Welt. Warum das Klima-Urteil des Supreme Courts ein Desaster für den ganzen Planeten ist, analysiert unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.
Jeder Bürger soll künftig sein Geschlecht und seinen Vornamen selbst festlegen und in einem einfachen Verfahren beim Standesamt ändern können: Das von der Ampelkoalition geplante Selbstbestimmungsgesetz ist eine Revolution. Die "Süddeutsche Zeitung" fasst die Details zusammen.
Die Inflation hat sich leicht verringert. Sollte Putin jedoch weiter am Gashahn drehen, droht Fatales, kommentiert mein Kollege Mauritius Kloft.
Was amüsiert mich?
Beim Reisen kann man derzeit Außergewöhnliches erleben.
Ich wünsche Ihnen einen wohlgeordneten Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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