Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Lage verschlimmert sich drastisch
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
der Krieg in der Ukraine bestimmt täglich die Schlagzeilen. Ukrainischen Einheiten ist es gelungen, ihre Gegner im Osten des Landes hinter die zweitgrößte Stadt Charkiw zurückzuschlagen. In der russischen Armee machen sich Frust, Chaos und Barbarei breit. Ein Kommandeur soll mehrere Verwundete seiner eigenen Einheit erschossen haben. "Da lag ein verwundeter Soldat auf dem Boden, und der Oberstleutnant fragte ihn, ob er laufen könne. Als der Nein sagte, hat er ihn einfach erschossen", berichtet ein Augenzeuge. Die Leichen Hunderter russischer Gefallener liegen in Kühlzügen der ukrainischen Eisenbahn – Putins Generäle weigern sich, die Toten entgegenzunehmen. Der ukrainische Geheimdienst hat den Mitschnitt eines Telefonats veröffentlicht, in dem ein mutmaßlicher russischer Soldat erzählt, wie er Zivilisten umgebracht hat: "Sie weinten, flehten mich an – ich habe sie trotzdem erschossen." Das Grauen kennt keine Grenzen.
Putins Angriffskrieg zerstört Zehntausende Menschenleben, Dörfer und Stadtviertel, Fabriken und Eisenbahnstrecken, Bauernhöfe und Felder. Es wird Jahre dauern, die Ukraine hinterher wiederaufzubauen. Der Krieg verstört aber auch Menschen in ganz Europa. Wer nicht abgestumpft ist, könnte täglich laut schreien angesichts so viel Brutalität und Gemeinheit. Jede Empörung ist gerechtfertigt, jedes Mitgefühl angebracht, jede Hilfe für die bedrängten Ukrainer notwendig.
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Abseits der Schlagzeilen trifft der Krieg allerdings noch viel mehr Menschen. Sie stehen nicht im Fokus der Berichterstattung und der Politiker, dabei brauchen sie ebenfalls dringend Hilfe. Sie leben nicht in Charkiw, Mariupol oder Kiew, sondern in Juba, Mogadischu oder Kabul. An Orten, an denen das Überleben ohnehin ein täglicher Kampf ist. Umso bestürzender ist der Bericht, den das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen heute Morgen veröffentlicht hat: Unicef zufolge verschlimmert sich die Lage an der weltweiten Hungerfront dramatisch, weil die Getreidepreise infolge des Ukraine-Krieges steigen, viele Staaten sich noch nicht von Corona erholt haben und die Klimakrise monatelange Dürren verursacht.
Die Folgen sind erschreckend: Vor allem immer mehr Kinder leiden unter Mangelernährung. Schon jetzt erhalten mindestens zehn Millionen unterernährte Kinder nicht die Mittel, die sie zum Überleben brauchen. Gleichzeitig schießen die Kosten für die therapeutische Nahrung in die Höhe, obendrein reduzieren viele Regierungen ihre Hilfsbudgets. Wie diese therapeutische Nahrung aussieht und welche segensreiche Wirkung sie hat, habe ich vor wenigen Jahren im Südsudan gesehen: Mit Öl, Zucker und Milchpulver angereicherte Erdnusspaste wird an Mütter verteilt, die damit ihre Kinder füttern. Jedes hungernde Kind sollte pro Tag mindestens drei Päckchen bekommen. 50 Cent kostete eines – bisher.
"Für Millionen Kinder bedeutet die lebensrettende Erdnusspaste den Unterschied zwischen Leben und Tod", sagt Unicef-Exekutivdirektorin Catherine Russell. "Eine Preiserhöhung um 16 Prozent mag im Kontext der globalen Lebensmittelmärkte überschaubar klingen. Doch am Ende der Lieferkette steht die Verzweiflung eines mangelernährten Kindes." Wenn man das hört und zugleich weiß, dass weltweit mehr als 13 Millionen Kinder unter fünf Jahren mangelernährt sind, dass viele aufgrund ihrer Entkräftung lebensgefährliche Krankheiten bekommen, beginnt man die Tragweite der dramatischen Entwicklung zu verstehen, die sich gegenwärtig abspielt. In Südasien, im Osten und Süden Afrikas sowie in Afghanistan verschärft sich die permanente Not zu einer brutalen Hungersnot. Allein am Hindukusch leiden in diesem Jahr wohl mehr als eine Million Kinder an schwerer Mangelernährung – fast doppelt so viele wie bisher. Am Horn von Afrika sind es zwei Millionen. Auch relativ stabile Länder wie Uganda können viele ihrer Einwohner nicht mehr ernähren.
Täglich bestimmt der Krieg in der Ukraine die Schlagzeilen. Das ist sicher richtig. Es darf aber nicht dazu führen, dass wir das himmelschreiende Leid nicht mehr sehen, das zeitgleich Millionen Menschen in anderen Teilen der Welt erfahren. Diese Not zu lindern, ist nicht nur eine dringende Aufgabe für Politiker und Hilfsorganisationen. Wer sich von Bildern wie dem Foto der kleinen Anei rühren lässt, kann auch selbst mit einer Spende helfen – zum Beispiel hier oder hier.
Termine des Tages
Der Druck auf Manuela Schwesig wächst: Heute befasst sich der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern in einer Dringlichkeitssitzung mit der umstrittenen "Klimastiftung" der Ministerpräsidentin und setzt einen Untersuchungsausschuss ein. Mithilfe der Stiftung (und viel Geld aus Russland) sollte verhindert werden, dass die USA die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 sanktionieren.
Das Bundesverfassungsgericht veröffentlicht seine Entscheidung zur kommunalen Bettensteuer für Hotelgäste. Mehrere Hoteliers haben dagegen geklagt, dass sie ihre Gäste extra zur Kasse bitten müssen.
Nach dem Mehrfachmord reist US-Präsident Joe Biden nach Buffalo im Bundesstaat New York. Dort hatte ein Mann in einem Supermarkt zehn Menschen erschossen. Ermittler gehen von einem rassistischen Motiv aus.
Am Internationalen Tag gegen Homophobie gibt es heute bundesweit Aktionen gegen die Diskriminierung von Schwulen, Lesben und Transsexuellen – die größte auf dem Rasen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin.
In Cannes beginnen die internationalen Filmfestspiele. Die Leitung hat mit der Deutschen Charlotte Knobloch erstmals eine Ausländerin.
Was lesen?
Welche Folgen hätte der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens – und wie reagiert Russland? Meine Kollegen Josephin Hartwig und Patrick Diekmann geben Ihnen den Überblick.
Lange Zeit wurden die Volksparteien CDU und SPD totgesagt. In Wahrheit feiern sie ihre Wiederauferstehung. Dafür gibt es zwei Gründe, schreibt unser Kolumnist Christoph Schwennicke.
Wie reagieren die Diktatoren in Peking auf den Ukraine-Krieg und das Zusammenrücken des Westens? Der China-Experte Klaus Mühlhahn erklärt es im Interview mit meinen Kollegen Patrick Diekmann und Marc von Lüpke.
Es sieht aus wie alter Schrott, ist aber ein geniales Stück antiker Technik. Worum es sich handelt, erfahren Sie auf unserem Historischen Bild.
Was amüsiert mich?
Jeder Politiker hat seine eigene Strategie, um seine Macht zu sichern.
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag. Morgen schreibt Annika Leister den Tagesanbruch.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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