Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein Ausweg für Putin
Guten Morgen aus Tokio, liebe Leserin, lieber Leser,
fast 9.000 Kilometer liegen zwischen Berlin und der japanischen Hauptstadt, 14 Stunden dauert der Flug. Die Luft ist mild, das Zentrum der 40-Millionen-Metropole gleicht einem Labyrinth aus Beton, Glas, Stahl. Auf den Stadtautobahnen herrscht Dauerstau, die Hochhäuser funkeln im Abendlicht.
Ob Olaf Scholz froh ist, dass er hier im Fernen Osten weilt, statt sich gestern im Bundestag die Vorwürfe der Opposition gegen sein Krisenmanagement anhören zu müssen? Er wirkt nicht so, als wolle er sich auf seinem Kurs im Ukraine-Krieg beirren lassen. Der Kanzler findet, dass er alles richtig macht, auch die Sache mit den schweren Waffen. Viele andere, die das auch finden, gibt es nicht. Immerhin nimmt die Entscheidung des Bundestags, Kiew noch entschlossener aufzurüsten, etwas Druck aus der Debatte um die mangelnde Führungsstärke des Regierungschefs. "Ich bin sehr dankbar für die klare Unterstützung", sagt er.
Scholz braucht jetzt Verbündete, und er sucht sie auch in Asien. Die Japan-Reise ist ihm wichtig, das wird hier schnell klar. Er will eine bipolare Weltordnung verhindern, in der China und die USA den Rest nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Dafür braucht es starke Partner, die dieselben Werte teilen: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Fairness. Japans Premierminister Fumio Kishida ist da voll auf Linie: Sein Land steht an der Seite der Europäer, sanktioniert Moskau und unterstützt die Ukraine mit humanitären Gütern; der Kanzler wird nachher auf dem Rückflug gespendete Windelpakete mitnehmen. Manchmal können auch kleine Gesten die große Politik symbolisieren. Kishida ist Scholz dankbar, dass dieser trotz der Bundestagsdebatte seine Reise nicht abgesagt hat. Der russische Angriff habe auch den indopazifischen Raum erschüttert, stellt er klar und schaut ernst in die Runde. Ein Ende des Krieges habe hier ebenfalls Priorität, obwohl die Ukraine am anderen Ende der Welt liegt. Plötzlich wirken die 9.000 Kilometer gar nicht mehr so weit.
Gegen Putin helfen nicht nur Waffen
Unter Druck tun Menschen die übelsten Dinge. Gerichtsakten sind voll von Berichten über Leute, die im Streit ihre Frau erschlagen, aus Verzweiflung über eine ausweglose Lage ihre Kinder gemeuchelt oder aus Wut das Haus des Nachbarn angezündet haben. Narzisstische, größenwahnsinnige oder sonst wie verblendete Personen können ihr gesamtes Umfeld erst recht ins Unglück stürzen, und am gefährlichsten sind sie, wenn sie sich gekränkt oder in die Defensive gedrängt fühlen. Dann brennen die Sicherungen durch, dann sehen sie rot, und ihr zerstörerischer Zorn kennt keine Grenzen.
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Wann brennen Putins Sicherungen durch? Der Kremlchef steht unter enormem Druck. Sein Feldzug gegen die Ukraine entwickelt sich zu einem militärischen, politischen und wirtschaftlichen Desaster. Der Blitzkrieg gegen Kiew: gescheitert. Die Offensive im Donbass: angesichts massiver Gegenwehr der hochgerüsteten Ukrainer ins Stocken geraten. Zigtausende Soldaten gefallen. Unmengen Panzer, Transporter, Drohnen und das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte zerstört. Die russische Wirtschaft: schwer getroffen von Sanktionen. Ob in der Luftfahrt, der Ölförderung oder bei Computern, überall fehlen plötzlich Ersatzteile.
Der russische Präsident hat sein Land in eine katastrophale Lage gestürzt. Sein imperialer Machthunger fügt nicht nur den Ukrainern, sondern auch den eigenen Landsleuten immense Schäden zu. Diese Schäden werden von Tag zu Tag offensichtlicher. Immer mehr junge Russen verlassen ihre Heimat, immer mehr Firmen schlagen Alarm, immer mehr Mütter weinen um ihre Söhne. Offenbar dachte Putin, der Westen werde auf den Einmarsch in die Ukraine genauso halbherzig reagieren wie auf die Besetzung der Krim im Jahr 2014. Welch ein Irrtum! Die Reaktion ist ganz anders. Damals meckerten Merkel, Obama und Co. ein bisschen, beschlossen ein paar Sanktiönchen und legten sich dann wieder mit Putin ins Bett. Bauten die Ostseepipeline Nord Stream 2, machten sich abhängig von russischem Gas, Öl, Kohle; wurden erpressbar.
Nun ist alles anders. Joe Biden, Olaf Scholz, Emmanuel Macron und ihre Verbündeten lassen keinen Zweifel daran, dass sie Putin in die Knie zwingen wollen: Sie rüsten die Ukraine bis an die Zähne auf und bestrafen Moskau mit den härtesten Sanktionen, denen ein großer Staat je ausgesetzt gewesen ist. Aufheben wollen sie die Strafen erst dann, wenn Putin seine Armee zurückpfeift und die Ukraine gerettet ist.
Das kann noch länger dauern, es droht ein monatelanger Abnutzungskrieg. Oder die Lage ändert sich schlagartig. Denn das ist die irrationale Komponente in diesem russischen Roulette, und wer mit Politikern darüber spricht, bekommt eine Ahnung davon, wie nah wir alle am Abgrund einer noch viel größeren Katastrophe wandeln: Je offensichtlicher Putins Misserfolg wird, desto größer ist die Gefahr, dass der Kremlchef plötzlich austickt und zur tödlichsten Waffe greift.
Solche Einschätzungen hört man jetzt: Das Risiko eines russischen Atomangriffs wächst mit jeder Minute. Sei es eine begrenzte Attacke mit einem taktischen Sprengkopf in der Ukraine, der Hunderte oder gar Tausende Opfer fordern könnte – oder das Armageddon eines Schlags mit strategischen Atomwaffen gegen Westeuropa: Ausgeschlossen ist nichts mehr. Und nein, wenn ich diesen Satz schreibe, ist das keine Panikmache und auch keine Klickschinderei. Es ist eine Wiedergabe der nüchternen Realität, wie sie auch Politiker sehen.
Umso größer ist das Erstaunen über all die Bescheidwisser, die nun in Talkshows und vor Mikrofonen zur maximalen Eskalation blasen. Manchen Grünen erkennt man ja kaum wieder: früher Sonnenblume, heute Stahlhelm. Mancher würde offenbar am liebsten sämtliches Militärgerät der Bundeswehr nach Kiew verfrachten, ungeachtet dessen, dass die Ukrainer moderne Panzer wie den "Leopard" oder den "Marder" wohl gar nicht bedienen können und dass Deutschland dann womöglich auch nicht mehr genug Material zur eigenen Landesverteidigung hätte. Schon jetzt kann die kleingesparte Bundeswehr die Nato-Anforderung, einem Angriff mindestens zwölf Tage lang standzuhalten, nicht erfüllen.
Unter Druck tun Menschen die übelsten Dinge, und besonders üble Menschen tun besonders üble Dinge. Deshalb führt der einzige Ausweg aus dem Drama in der Ukraine über eine Kombination aus Härte und Zugeständnissen: Putins Armee muss aufgehalten und weiter geschwächt werden, wofür es westliche Waffenhilfe braucht – aber nicht wahllos, sondern effektiv. Die Amerikaner haben das verstanden, sie kaufen weltweit russische Munition auf, um sie den Ukrainern für deren Panzer, Kanonen und Gewehre aus russischer Produktion zu geben.
Zugleich sollten die Regierungschefs in Washington, Berlin und Paris dem russischen Kriegsfürsten einen gesichtswahrenden Rückzug ermöglichen. Vielleicht sogar einen, den er "Sieg" nennen kann, um sich von seinen Propagandasendern feiern zu lassen und seinem geschundenen Volk einen Triumph über den bornierten Westen vorzugaukeln.
Worin dieser vergiftete Lohn bestehen kann, müssen klügere Köpfe entscheiden. Dafür gibt es im Kanzleramt und im Außenministerium ganze Stäbe. Der Verzicht der Ukraine auf eine Nato- und EU-Mitgliedschaft? Die Wiederannäherung Russlands an den Kreis der G8-Staaten? Womöglich sogar die inoffizielle Anerkennung der russischen Besetzung des östlichen Donbass? Eine entmilitarisierte Zone, gesichert von einer UN-Friedenstruppe? Jedes Zugeständnis wäre schmerzhaft, und es wäre nicht leicht, es den patriotischen Ukrainern abzuringen. Doch ohne Kompromisse wird es kaum gehen. Man kann üble Menschen in die Knie zwingen. Aber solange sie einen Finger am Atomknopf haben, sollte man sie lieber nicht zu Boden werfen.
Urteil gegen Boris Becker
Heute Vormittag verkündet die Richterin im Londoner Southwark Crown Court ihr Urteil im Insolvenzverschleppungsprozess gegen Boris Becker. Die Geschworenen haben den einstigen Tennisstar bereits in 4 der insgesamt 24 Anklagepunkte für schuldig befunden, nun geht es um das Strafmaß. Das kann zwischen einer hohen Geld- und sogar einer Gefängnisstrafe liegen. Die Erfolgsaussichten einer Berufung wären gering.
Entscheidung über Libyen-Mission
Seit zwei Jahren läuft die EU-Marinemission "Irini", die das UN-Waffenembargo gegen Libyen überwachen soll. Auch die Bundeswehr ist mit bis zu 300 Soldaten dabei. Dass diese Beteiligung bis Ende April 2023 verlängert werden soll, hat das Kabinett bereits beschlossen; heute stimmt der Bundestag über das Mandat ab.
Die Nato wächst
Noch sind die Beitrittsgesuche Schwedens und Finnlands nicht offiziell, doch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherte den beiden Partnerländern gestern schon mal, dass die Allianz sie mit offenen Armen empfangen werde. Genau darum dürfte es auch heute gehen, wenn sich die schwedische Außenministerin Ann Linde und ihr finnischer Amtskollege Pekka Haavisto in Helsinki treffen. Im Brüsseler Nato-Hauptquartier rechnet man damit, dass die Anträge bereits in einigen Wochen eintreffen könnten. Alle 30 Mitgliedsländer müssen dann zustimmen.
Feiern oder verzichten?
Wird wieder o'zapft? Findet also das Oktoberfest nach zwei Jahren Pause wieder statt – Krieg und Corona zum Trotz? Die Liste der Befürworter ist lang, auch Ministerpräsident Markus Söder hat sich schon dafür ausgesprochen. Heute Mittag will der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) seine Entscheidung bekannt geben.
Was lesen?
Hochrangiger Besuch saß 1941 im Flieger dieses Piloten. Warum der als Sensation galt und wer die Dame war, lesen Sie auf unserem Historischen Bild.
Russlands Gaslieferstopp für Polen und Bulgarien setzt auch deutsche Gasimporteure unter Druck. Warum die Zeit jetzt drängt, erklären die Kollegen der "Tagesschau".
Im Osten der Ukraine toben Schlachten. Welche russischen Einheiten kämpfen wo, und wo stehen die Verteidiger? Auf dieser Karte finden Sie alle Informationen.
Der Philosoph Jürgen Habermas hat in der "Süddeutschen Zeitung" den wohl klügsten Text seit Beginn des Ukraine-Kriegs veröffentlicht. Was er zur schrillen deutschen Debatte zu sagen hat, sollten Sie lesen.
Was amüsiert mich?
Des Kanzlers Logik ist komplex.
Ich wünsche Ihnen einen klaren Tag und melde mich morgen wieder aus Berlin. Dann mit dem Wochenend-Podcast, in dem diesmal unser Wirtschaftschef Florian Schmidt zu Gast ist.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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