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Jetzt spricht der Altkanzler Gerhard Schröder: "Staatsversagen der EU"


Tagesanbruch
Jetzt spricht der Altkanzler

MeinungVon Florian Harms

29.03.2021Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Gerhard Schröder ermuntert seine Nachfolgerin zu mehr Führung.Vergrößern des Bildes
Gerhard Schröder ermuntert seine Nachfolgerin zu mehr Führung. (Quelle: Michael Hübner/T-Online-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

hier ist Ihr Tagesanbruch, heute geht es um Führung, Eisenbahnen und die Investments eines Bundesministers:

Die 3-T-Strategie

Es war einmal ein Land, das sich im Erfolg sonnte. Das im Konzert der Staaten vorne mitspielte. Das seinen Einwohnern ein sehr viel besseres Leben bot als die meisten anderen Orte auf der Erde. Dessen Führung Sicherheit, Verlässlichkeit und Stabilität garantierte. Das war Deutschland, aber das ist vorbei. Ein Jahr Weltkrise hat genügt, um uns die bittere Erkenntnis vor Augen zu führen: Im globalen Maßstab sind wir derzeit allenfalls mittelmäßig unterwegs. Trotz unseres Reichtums, trotz unserer robusten Demokratie, trotz all der einfallsreichen, einsatzbereiten, kreativen Bürger stecken wir knietief im Corona-Schlamassel und vermögen uns nicht daraus zu befreien.

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Wir tun zu wenig gegen das Virus, und was wir tun, tun wir chaotisch: Das ist keine Schwarzmalerei, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme. Während die Chinesen die Pandemie schon überwunden haben und ihre globale Macht ausbauen, während die Briten und die Amerikaner impfen, was das Zeug hält, schießen die Corona-Zahlen hierzulande in die Höhe, hält der RKI-Chef bald 100.000 Neuinfektionen pro Tag für möglich, befällt die tückische Mutation B.1.1.7 auch immer mehr Kinder, bleiben die politischen Entscheider entschlossene Antworten schuldig: Nach ihrem gescheiterten Nachtgipfel in der vergangenen Woche disputieren sie über alles Mögliche, aber zu wenig über das Wesentliche: Wie kommen wir aus dem Mist so schnell wie möglich heraus?

Stattdessen beschweren sich Ministerpräsidenten über Durchstechereien an Journalisten und beschwören Bundesminister wortreich die Gefahr der dritten Welle: Kanzleramtschef Helge Braun warnt vor der "gefährlichsten Phase der Pandemie". Danke, wussten wir schon. Baden-Württembergs frischgewählter Chef Winfried Kretschmann wünscht sich den nächsten Gesprächskreis, am liebsten gleich heute oder morgen: "Wir sehen halt, die Zahlen rasen förmlich hoch." Also was tun? "Erst mal überlegen wir alle solche Sachen. Aber wir sind nicht in der Entscheidungsphase." Ach so. "Es braucht nicht ständig neue Gespräche, sondern die konsequente Umsetzung der Notbremse", meint dagegen Markus Söder. Stimmt, wie wäre es also mit konsequenter Umsetzung der Notbremse? Doch viele seiner Kollegen missachten den selbst gefällten Beschluss und beginnen schon wieder zu lockern. So weiß keiner mehr genau, was nun eigentlich gilt.

Apropos eigentlich: "Eigentlich brauchen wir noch mal 10, 14 Tage mindestens richtiges Runterfahren unserer Kontakte, unserer Mobilität", räumt Jens Spahn ein. Und uneigentlich? Läuft es erst mal weiter wie bisher. Die Entscheider in Bund und Ländern haben den Faden ebenso verloren wie den Überblick, sie taumeln wie beschwipste Matrosen über ein sinkendes Schiff, und die Kapitänin weiß auch nicht mehr recht weiter. Gestern Abend trat Angela Merkel bei "Anne Will" auf, wozu man eigentlich nicht mehr sagen muss, als dass Angela Merkel gestern Abend bei "Anne Will" auftrat. Viele Worte, wenige Erkenntnisse. Der wichtigste Satz der Kanzlerin war ein Eingeständnis der Grenzen ihrer Macht: "Nichts kann in dieser Republik beschlossen werden, ohne dass Bund und Länder gemeinsam vorgehen." Genau das ist das Problem. In der Pandemiepolitik herrsche Anarchie, kommentiert die "Frankfurter Rundschau": "Die eine Region macht die Geschäfte auf, die andere verhängt Ausgangssperren. Morgen könnte es umgekehrt sein. Und den Bürgern wird viel zu wenig erklärt. Das liegt nicht daran, dass die Politik ihre Entscheidungen nicht erklären will. Sie kann es nicht mehr, weil so vieles nicht mehr zu erklären ist."

Die Corona-Beschlüsse sind nicht mehr zu verstehen, sie mäandern zwischen Hü und Hott, und ein entscheidender Grund dafür ist mangelnde Führung. Das Dirigentenpult im föderalen Konzert ist leer, deshalb fiedeln und tröten alle wild durcheinander, bis keiner mehr zuhören mag. Mit dem deutschen Bundesstaatsprinzip lässt sich diese Kakophonie schon längst nicht mehr erklären. Frau Merkel hat nicht nur mit Abstand die größte Autorität, sondern genießt auch die größte Popularität aller deutschen Politiker, aber sie setzt weder die eine noch die andere konsequent ein, um das Hin und Her von halbherzigen Lockdowns und unkoordinierten Lockerungen zu beenden und endlich das zu tun, was die meisten Wissenschaftler seit Wochen fordern: einen harten, aber kurzen Lockdown für das ganze Land, und danach langsam und koordiniert wieder aufsperren – aber mit verpflichtenden Schnelltests überall, wo sich Menschen längere Zeit gemeinsam aufhalten, vor allem in Schulen, Kitas, Büros, Fabriken und Geschäften. Zudem eine bessere Organisation beim Impfen, ohne endlose Telefon-Warteschleifen und sklavische Befolgung von Alterskategorien, wenn Dosen übrigbleiben.

Einer, der bewiesen hat, dass er führen kann, ist Gerhard Schröder. Der Kanzler der rot-grünen Koalition hat gegen immensen Widerstand den verkrusteten Sozialstaat reformiert, die Hartz-Gesetze durchgesetzt und dem amerikanischen Kriegstreiber George W. Bush die Gefolgschaft bei dessen Abenteuer im Irak verweigert. Das heutige Wirken des Altkanzlers als Wirtschaftslobbyist und Freund des russischen Präsidenten Putin ist umstritten, aber zur politischen Lage hat er bemerkenswerte Beobachtungen beizutragen. In seiner neuen Podcast-Folge, die heute erscheint, seziert Herr Schröder die Corona-Politik der Bundesregierung und der EU mit klarem Blick (hier geht’s zum Podcast). Er zollt Angela Merkel Respekt für ihre Entschuldigung nach dem versemmelten Beschluss zur Osterruhe, wirft aber ihrem Kanzleramtsminister Helge Braun Fehler vor: Der habe die nächtliche Sitzung offenkundig nicht gut genug vorbereitet. Sein damaliger Kanzleramtsminister Frank-Walter-Steinmeier, heute Bundespräsident, habe dergleichen besser gemacht.

Den wichtigsten Grund für die deutsche Corona-Malaise sieht der Altkanzler aber anderswo: "Die entscheidenden Fehler sind am Anfang gemacht worden, und sie sind bis heute nicht überwunden worden. Man hätte von anderen Ländern lernen können, zum Beispiel von Südkorea, wo man von Anfang an eine 3-T-Strategie verfolgt hat: Testing, Tracing, Treatment – also Testen, Nachverfolgen des Infektionsgeschehens und Behandeln." Vor allem in den ersten beiden Punkten sieht Schröder hierzulande Versäumnisse: "Man hätte mit dem Testen in Deutschland sehr viel früher beginnen müssen. Und man hat es nicht fertiggebracht, eine funktionierende App herzustellen, die das Nachverfolgen ermöglicht. Darüber hätte man reden müssen. Davon habe ich wenig gehört."

Stattdessen werde jetzt eigentlich nur noch über das Für und Wider von Lockdowns geredet – das könnten viele Menschen nicht mehr nachvollziehen. Dabei machten Kommunen wie Tübingen und Rostock ja vor, wie sich dank konsequentem Testen, Maskenpflicht und Hygieneregeln Schulen, Geschäfte und sogar Fußballstadien offenhalten lassen. Solche fantasievollen Konzepte könnten die Lage überall in Deutschland verbessern, gäbe es eine starke Führung, die sie einfordert und unterstützt. "Vielleicht wäre es ganz gut, manchmal zu sagen, wo es langgehen soll", sagt Gerhard Schröder. "Man muss ja nicht Basta sagen. Aber man muss auch aufpassen, dass in der jetzigen Situation politische Führung nicht zerrinnt. Die Menschen erwarten Führungsfähigkeit. Alles nur über Dialog zu lösen, wird nicht funktionieren. Gelegentlich muss ein Regierungschef versuchen, von vorne zu führen, und nicht erst gucken, wie die Dinge sich gestalten, um sich dann an die Spitze zu setzen."

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Und weiter: "Die Impfstoffbeschaffung ist ein riesiges Dilemma. Die europäische Kommission hat bewiesen, dass sie es nicht kann. Das war Unfähigkeit." Schröder regt deshalb an, parallel zur europäischen auch eine nationale Impfstoffbeschaffung in Deutschland aufzubauen. "Was mich umtreibt: Dass wir aus Europa Impfstoff nach Amerika und Großbritannien liefern, aber die denken umgekehrt gar nicht daran, etwas zurückzuschicken, sondern impfen erst mal ihre Leute. Das kann man nicht hinnehmen. Dass die europäische Kommission so amateurhaft verhandelt hat, das zeigt Staatsversagen."

Und wie geht es nun weiter? Um einen weiteren Lockdown komme Deutschland jetzt nicht mehr herum, sagt Gerhard Schröder: "Wir müssen eine Zeit lang zu Hause bleiben." Aber zugleich brauche es jetzt systematisches, flächendeckendes Testen – und Impfen mit jedem Stoff, den man kriegen kann. Also auch dem russischen. "Die Tatsache, dass bei dessen Zulassung die europäische Behörde Ema nicht in die Strümpfe kommt, ist nicht in Ordnung."

Klare Worte eines wachen Geistes. Sie werden nicht jedem im Regierungsviertel gefallen. Gehört werden sollten sie trotzdem. Und wenn dann alle genug gehört und geredet haben, sollten wir bitte schnell ins Handeln kommen. Es ist höchste Zeit.


Sammeln für Syrien

Heute vor zwei Wochen jährte sich der Aufstand gegen Syriens Diktator Assad zum zehnten Mal. Wenngleich es gegenwärtig keine größeren Kämpfe gibt, bleibt die Lage in dem Vielvölkerland katastrophal, eine politische Lösung des Konflikts ist nicht zu erkennen. Während Russland, der Iran und die Türkei ihren Einfluss festigen, scheint sich die internationale Gemeinschaft mit Assads Sieg abgefunden zu haben. Immerhin beginnt heute die fünfte Brüsseler Syrien-Konferenz, die EU und die Vereinten Nationen bitten die Staatengemeinschaft um mehr Geld und organisatorische Hilfe für die Notleidenden, auch der politische Dialog soll wiederbelebt werden. Man mag den Gipfel als "Feigenblatt" schmähen, wie es die Linken-Europaabgeordnete Özlem Demirel getan hat, aber er ist die wichtigste Geberveranstaltung in diesem Jahr – und jede humanitäre Hilfe tut bitter not.


Höchste Eisenbahn


Was lesen?

Angela Merkels Gesundheitsminister ist angezählt, und es ist nicht nur das schleppende Krisenmanagement, das ihm vorgeworfen wird: Jens Spahn wirkt mittlerweile auf viele in der Partei wie ein Mann, dessen wichtigstes Ziel neben der persönlichen Politikkarriere das Geldverdienen ist. Denn sein Vermögen ist kein Zufall. Recherchen meines Kollegen Jonas Mueller-Töwe zeigen: Spahn verknüpfte seine Karriere von Beginn an mit Investments. Es ist sein System des Aufstiegs. Lesen Sie hier den Text, der im Regierungsviertel hohe Wellen schlägt.


Die Lage in Myanmar eskaliert: Soldaten der Putschgeneräle haben am Wochenende mehr als 100 Demonstranten erschossen, darunter kleine Kinder. Der Armee müssen endlich Geld und Waffen entzogen werden, fordert die ARD-Korrespondentin in Singapur.



Was amüsiert mich?

Bei CDU und CSU haben Abgeordnete ja ihre ganz eigenen Sorgen.

Ich wünsche Ihnen einen sorgenfreien Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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