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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Parteitag der Grünen Eine Revolution, die eine ist – und keine
Die Grünen brechen auf ihrem Parteitag in Hannover gleich mit mehreren zentralen Prinzipien. Und zeigen dabei, dass diese trotzdem noch gelten.
Das Motto des Grünen Parteitags lautet: "Und das ist erst der Anfang." Auf den ersten Blick klingt es nach Aufbruch: motivierend und optimistisch. Auf den zweiten Blick aber klingt es fast bedrohlich: Wenn das erst der Anfang war, was wird dann von den Grünen bleiben?
Welche Prinzipien halten noch? Denn die Grünen haben sich auf dem Parteitag in Hannover viel zugemutet, mit großer Zustimmung jeweils. Aber das ändert nichts daran, dass die Partei mit ehemals unverbrüchlichen Prinzipien brach.
Die naheliegende Frage lautet daher: War es das ? War das der Anfang vom Ende von Flügelstreit, vom Wettbewerb zwischen den Flügeln und sogar von der Skepsis gegenüber Heilsbringern und starken Männern?
Auf den dritten Blick aber ist noch einmal eine andere Lesart möglich. Sie heißt: Die vergangenen vierzig Jahre der Grünen waren gerade erst der Anfang dieser Prinzipien. Auch wenn sich vieles ändert und künftig möglich ist, was bisher undenkbar war, erfüllen die Prinzipien immer noch eine Funktion – und gerade dieser Parteitag des Prinzipienbruchs belegt es.
Um es philosophisch zu sagen wie Robert Habeck und mit Verweis auf die Dialektik, wie Annalena Baerbock: Es ist eine Revolution, ohne Frage. Und es ist gleichzeitig keine.
Satzungsänderung für den Retter ohne Gegner
Am Freitagabend, als debattiert wurde, ob er die geforderte Satzungsänderung und damit eine Übergangsfrist bekommen würde, während der er sein Ministeramt in Schleswig-Holstein behalten kann, während dieser Debatte also sagte eine Delegierte: "Da ist er wieder, der starke Mann, der seine Forderungen steht, damit wir ihn wählen.“
Es sah also so aus, als sei das eine zutreffende Beschreibung. Als triumphiere hier eine Erlöserfigur, ein charismatischer Mann, über Prinzipien einer prinzipientreuen Partei. Wie sonst sollte man es nennen, wenn für einen Mann die Satzung geändert wird, wenn er bekommt, was Claudia Roth und Fritz Kuhn einst verwehrt wurde, wenn er ohne Gegenkandidat für den Parteivorsitz kandidiert?
Habeck bekam seine Satzungsänderung, mit 77 Prozent. Das war die erste Zumutung. Und er wurde zum Parteichef gewählt, mit 81 Prozent. Ohne Gegenkandidat. Das war die zweite Zumutung.
Ende des Gleichgewichts der Flügel?
Und dann die dritte Zumutung, wieder mit großer Zustimmung. Als Parteichefin wurde Annalena Baerbock gewählt, mit 64 Prozent.
Vergeblich war zuvor eine linke Frau gesucht worden, die in der Lage gewesen wäre, die Bundestagsabgeordnete zu schlagen und den Realo Habeck auszupendeln. Zu viel Bekanntheit und Anerkennung hatte die 37-Jährige als Mitglied des Jamaika-Sondierungsteams gewonnen. Es galt von Beginn an als ausgemacht, dass die aktuelle Vorsitzende Simone Peter keine Mehrheit mehr bekommen würde. Schließlich ließ sich Anja Piel aufstellen, ehemalige Spitzenkandidatin in Niedersachsen.
Am Ende hatte sie aber keine Chance. Im Ergebnis brachen die Grünen mit dem Prinzip, dass eigentlich an der Parteispitze sowohl der Realo-Flügel als auch die Parteilinke vertreten sein muss.
Die alten Prinzipien wirken nach wie vor
Und doch wurde genau im Moment ihres Bruchs sichtbar, dass der offene Wettbewerb ums Amt eine Funktion erfüllt, dass auch die Doppelspitze eine Funktion erfüllt und dass selbst die Flügel eine Funktion erfüllen, immer noch, auch unter diesen Bedingungen.
Erstens, der Wettbewerb
Annalena Baerbock war die Favoritin, das war klar. Das Ergebnis belegte das dann auch. Aber die Debatte zwischen den beiden Frauen, so fair und respektvoll und frei von Gegnerschaft sie war, wirkte stärker als die Solo-Rede Habecks. Denn beide bewarben sich, für beide stand etwas auf dem Spiel - ihre Reden hatte eine Funktion. Habecks Beitrag nicht, er hatte seine Bewerbungsrede faktisch schon am Freitag gehalten. Der Samstag war nur noch Verwaltung. So erhielt selbst Piel mehr Applaus als er, der am Ende das beste Ergebnis bekam, weil ihre Unterstützer eine Botschaft senden wollten, seine es nicht mehr mussten.
Bei vorigen Wahlen zum Parteivorsitz forderten die Favoriten in der Regel nur Zählkandidaten heraus. Heute wurde offenbar: Ein echter Wettbewerb der Flügel, und damit auch der Personen, belebt mehr als das Abnicken eines Kandidaten.
Zweitens, die Doppelspitze
“Wir wählen heute nicht nur die Frau an Roberts Seite, sondern die neue Bundesvorsitzende”, so hatte Baerbock vor Wochen ihre Kandidatur erklärt und so eröffnete sie ihre Rede. Habeck, der auch bisher stets versichert hatte, diese Lesart abzulehnen, gab zurück: “Vielleicht habe ich ja Glück und darf der Mann an deiner Seite sein".
Das hätte kokett klingen können, wirkte zu diesem Zeitpunkt aber schon nicht mehr so, weil der Wettbewerb zwischen Piel und Baerbock so bedeutungsvoller wirkte und beide aufwertete. Auch weil offenbar wurde, dass beide neuen Parteichefs Schwächen haben: Wo Baerbocks Vortrag manchmal zu hektisch und zu laut daherkam, blieb Habeck über weite Strecken zu sehr im Ungefähren. Begriffsarbeit ist wichtig, reißt aber nicht mit. Anstelle eines Heilands ist da jetzt eine Duo, das sich ergänzt. Frau an Roberts Seite? Mann an Annalenas Seite?
Eher: Zwei, Seit’ an Seit’. Effektiver kann man Erwartungen an Heroismus eines Einzelnen nicht einhegen, bevor er sich entwickeln können.
Drittens, die Flügel
Beide, Baerbock und Habeck, betonten im Vorfeld, dass sie die Flügel eher überwinden als betonen wollten. Und doch war ihre Wahl nicht getrieben von Einigungs-Romantik, vor allem unter Linken, sondern von pragmatischer Analyse der Situation. Und der Wahrnehmung, dass in der Tat beide neuen Vorsitzenden anschlussfähig nach beiden Seiten sind. Unter Linken heißt es: Die Satzungsänderung sei ein Vorschuss gewesen, jetzt müsse Habeck sich beweisen. Abwarten.
Beide Parteichefs zeigten, dass sie das verstanden haben und hielten auffallend linke Reden, Baerbock noch mehr als Habeck. Als sie etwa den Familiennachzug von Flüchtlingen einforderte, überholte die ihre linke Kontrahentin Piel links, so dass die auf Baerbocks Rede verweisen musste.
All das zeigte: Solange Interessen weiterhin in Flügeln organisiert sind, müssen die neuen Parteichefs bei aller Flügellosigkeit diese Interessen auch ernst nehmen und wahren.
Verfechter müssen künftig mehr kämpfen
Die Grünen werden sich verändern. Sie haben sich verändert auf diesem Parteitag, mit großer Mehrheit, wenn auch mancher Skepsis.
Die alten Prinzipien wirken weiter. Sie müssen von ihren Verfechtern künftig vielleicht nur noch etwas entschlossener verteidigt werden.
Quelle und weiterführende Informationen
- eigene Recherchen vor Ort
- Redemanuskript Habecks
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels stand, die Grünen hätten erstmals mit dem Prinzip einer Doppelspitze aus beiden Lagern gebrochen. Tatsächlich gilt dieses Prinzip, aber nicht absolut. Anfang des Jahrtausends beispielsweise führten mit Renate Künast und Fritz Kuhn schon einmal für wenige Monate zwei Realos die Partei an.