Vor 30 Jahren: Rot-Grün in Hessen Atomausstieg, Nato-Austritt, Drogen - Eine Partei verändert Land und Politik
Von Alexander Reichwein.
Vor 30 Jahren trat in Hessen die erste rot-grüne Koalition an. Die SPD, die lange nicht wollte, musste sich auf eine unberechenbare Truppe in Jeans und Turnschuhen einlassen: Die Grünen. Unter ihnen tummelten sich auch Hausbesetzer, radikale Feministinnen und selbsternannte Öko-Fundamentalisten. Für das bürgerlich-konservative Lager damals war das so etwas wie der Untergang des Abendlandes.
1980 hatten sich die Grünen als Partei in Karlsruhe gegründet. Nach Einzügen in mehrere Stadt-, Kommunal- und Landesparlamente schafften sie 1985 in Hessen den Sprung in die Regierung. Seit 1982 waren sie bereits im Wiesbadener Landtag vertreten - und jahrelang wie ungebetene Gäste behandelt worden.
"Die Grünen sind außerhalb jeder Kalkulation"
Über die militanten Demonstranten gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen, unter ihnen viele Grüne, sagte der damalige hessische Ministerpräsident Holger Börner (SPD) 1982 der "Bunten": "Ich bedauere, dass es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins auf die Fresse zu hauen. Früher auf dem Bau hat man solche Dinge mit der Dachlatte erledigt." Börner war gelernter Betonfacharbeiter und vor seiner Politiker-Karriere auf dem Bau tätig. Auch das mutet heute ungewöhnlich und wie aus einer längst vergangenen Zeit an.
Noch bei den Landtagswahlen 1983 hatte Börner eine Zusammenarbeit mit der neuen Partei kategorisch ausgeschlossen. Gegenüber der "Welt" sagte er am 21. September 1983: "Die Grünen stehen für mich außerhalb jeder Kalkulation. Ich schließe nicht nur eine Koalition, sondern jede Zusammenarbeit mit ihnen aus."
Atomausstieg, Nato-Austritt, Legalisierung von Drogen
Die Grünen waren anders als die anderen Parteien: basisdemokratisch, radikal und hatten keine Lust auf Staat. Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit waren Mitglieder in der Frankfurter Sponti-Szene, besetzten als Ausdruck des Protests gegen Großkapital und Immobilienspekulanten Häuser im noblen Westend und galten vielen als Straßenkämpfer gegen Polizei, Recht und Ordnung.
Und die Grünen forderten unfassbare Dinge: Atomausstieg, Nato-Austritt und Abrüstung, Emanzipation der Frau oder die Legalisierung von Haschisch. Die politischen Eliten waren geschockt und wussten sich oft nur damit zu helfen, sich über die neuen Parlamentarier lustig zu machen. In Hessen hatten Unternehmen mit der Abwanderung ihrer Betriebe gedroht - in der Erwartung, der Kapitalismus sei nun bedroht.
Koalition zerbrochen, politischer Aufstieg begonnen
Die erste rot-grüne Regierungskoalition der deutschen Geschichte zerbrach 1987. Der Grund: ein Streit um die Atomanlagen Nukem und Alkem im hessischen Hanau. Aber die damalige Zeit markiert den Anfang fundamentaler Veränderungen unserer Gesellschaft - und einer Partei, die sich nach der Wiedervereinigung in "Bündnis 90/Die Grünen" umtaufte. Heute sind nahezu alle grünen Forderungen Wirklichkeit geworden. Die Grünen gehören längst zum politischen Establishment des Landes, die im bürgerlichen und liberalen Lager gewählt wird. Und sie führen sogar Kriege. Wir blicken aber noch einmal zurück.
Die etwas andere politische Kraft: Der Gründungsparteitag der "ökologischen, basisdemokratischen und sozialen" Grünen in Karlsruhe am 13. Januar 1980.
Das rot-grüne Kapitel beginnt in Kassel: Rhea Thönges (r.) und Christel Jahn (l.) von der Grünen-Fraktion gratulieren dem neuen Partner, Kassels Oberbürgermeister Hans Eichel (SPD), zur Wahl. Die Grünen zogen 1981 ins Stadtparlament ein.
Randale gegen den Polizeistaat: Polizisten räumen 1981 das von Umweltschützern besetzte Baugelände für die umstrittene Startbahn West am Frankfurter Flughafen. Die Grünen protestierten auch politisch mit allem Nachdruck gegen den Bau. Verhindern konnten sie ihn schließlich nicht.
Zeitenwende: Der amtierende Ministerpräsident Holger Börner (SPD) vereidigt den neuen grünen Umweltminister Joschka Fischer am 12. Dezember 1985 im hessischen Landtag in Wiesbaden.
Ganz oben angekommen: Joschka Fischer (M.) wird 1998 Außenminister Deutschlands - in der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene. Bundesfinanzminister wird der ehemalige hessische Ministerpräsident Hans Eichel (SPD, links im Bild), Bundeskanzler wird Gerhard Schröder (SPD).
Ein grünes Thema bleibt über Jahrzehnte auf der Agenda: der Atomausstieg. Mit Gasmasken und Schutzanzügen demonstrieren Greenpeace-Aktivisten bei einer Anti-Atom-Demonstration 2010 vor dem Kernkraftwerk Biblis in Südhessen.
Der Atomausstieg ist inzwischen längst beschlossene Sache. Bis 2022 sollen alle Anlagen vom Netz gehen. Biblis produziert bereits seit 2011 keinen Strom mehr.
Daniel Cohn-Bendit (hier auf dem Bielefelder Parteitag 1999) forderte als einer der ersten Politiker schon in den 1980er Jahren die Legalisierung von bestimmten Drogen. Der ehemalige Studentenführer zog später von Frankfurt nach Paris - und schaffte es bis ins Europäische Parlament in Straßburg.
Für Cem Özdemir, den amtierenden Bundesvorsitzenden der Partei, ist die Legalisierung bestimmter Drogen längst kein Tabuthema mehr - wie für viele andere Mitglieder der Grünen auch nicht.
Eine grüne Forderung wurde allerdings zu den Akten gelegt. Mitglieder der Grünen, darunter auch Joschka Fischer (rechts neben dem Schild "No Nukes"), blockieren 1983 ein US-Militärgelände in Frankfurt, in dem im Rahmen des sogenannten Nato-Doppelbeschlusses angeblich Pershing-II-Atomraketen stationiert werden sollten. Für die Grünen war damals klar: Die USA sind ein Kriegstreiber und die Bundesrepublik Deutschland, auf deren Gebiet sich ein Atomkrieg hätte abspielen können, muss aus der Nato austreten.
Die Zeiten ändern sich - und die Ansichten der Protagonisten: Außenminister Fischer und seine "Realos" sind 1999 von der Unabdingbarkeit des Kosovo-Kriegs gegen Milosevics Serbien überzeugt - und müssen auf dem Bielefelder Parteitag die Beteiligung Deutschlands am Nato-Einsatz rechtfertigen. Es ist der erste deutsche Kriegseinsatz nach 1945 - und der Bruch in der grünen Partei. Fischer wird sagen: "Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz" - und dafür einen Farbbeutel seiner Gegner kassieren. Trotzdem setzt sich Fischer am Ende gegen die ideologischen "Fundis" um Jutta Ditfurth durch - wie immer. Jüngst hat die Grünen-Fraktion im Berliner Reichstag für den Bundeswehr-Einsatz gegen den Islamischen Staat (IS) gestimmt. Auch das ist ein Erbe von Joschka Fischer.