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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bedrohung Europas durch Russland "Dann wäre die Nato am Ende"
Der Krieg in der Ukraine hat Europas Sicherheitsarchitektur erschüttert. Ein Verteidigungsexperte erklärt, warum eine Bedrohung durch Russland näher ist als es scheint.
Seit dem 24. Februar 2022 tobt ein von Russland angezettelter brutaler Angriffskrieg in Europa. Die Ukraine verteidigt sich seitdem mit westlicher Waffenhilfe. Die europäische Friedensordnung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Bestand hatte, ist in ihren Grundfesten erschüttert. Die Regierungen des Kontinents, aber auch das westliche Verteidigungsbündnis Nato, sind wie selten zuvor gefordert, eine Ausweitung des Krieges über die Grenzen der Ukraine hinaus zu verhindern.
Der Verteidigungsexperte Fabian Hoffmann von der Universität Oslo warnt angesichts dessen: Europa und die Nato hätten nur zwei bis drei Jahre, um eine effektive Abschreckung gegenüber Russland aufzubauen, sonst drohe eine Ausweitung des Krieges. Sein Entwurf eines Worst-Case-Szenarios (t-online berichtete), eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland, wurde besonders auf der Plattform X (vormals Twitter) breit diskutiert. Im Interview mit t-online erklärt Hoffmann, warum er Alarm schlägt, und antwortet auf Kritik an seinem Entwurf.
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t-online: Herr Hoffmann, am Donnerstag hat die Nato die größte Militärübung seit Jahrzehnten angekündigt (t-online berichtete). Das Bündnis will sich auf einen möglichen Angriff Russlands vorbereiten. Liest man in Brüssel Ihre Tweets mit?
Fabian Hoffmann: (lacht) Ich denke nicht. Aber ich glaube, die Nato merkt jetzt, dass es dringend notwendig ist, Russland abschrecken zu können und die eigenen militärischen Fähigkeiten zu demonstrieren. Gleichzeitig geht es auch darum, den Ernstfall zu üben: also Truppen zu mobilisieren und zu verlegen. Aus militärischer Sicht ergibt es absolut Sinn, diese Übung jetzt zu machen. Denn wir sind aktuell angesichts des Ukraine-Kriegs eher auf Konfrontationskurs mit Russland als in der Vergangenheit.
Wie ist die Ankündigung der Nato zu bewerten? Denken Sie, dass die Großübung ein ausreichendes Signal an Russland ist?
Die Großübung ist ein starkes Signal gegenüber Russland. Wir bereiten uns aktiv auf den Ernstfall – einen Angriff Russlands auf Nato-Territorium – vor: Kräfte müssen dann sehr schnell mobilisiert und an die Front verlegt werden. Die aktuell an der Nato-Ostflanke stationierten Kräfte wären kaum dazu in der Lage, Russland an der Grenze zu stoppen oder gar aufzuhalten. Es müssten also im Ernstfall schnell Nachschub und Truppen an die Front gelangen können. Das wird nun erprobt.
Sie sagen, dass die Nato und Europa nur drei Jahre hätten, um eine Abschreckung gegenüber Russland aufzubauen, sonst könnte der Kreml uns herausfordern. Wie würde eine solche Herausforderung aussehen?
Russland ist nie davon ausgegangen, dass es die Nato in einem länger andauernden Landkrieg besiegen könnte, wie wir ihn in der Ukraine sehen. Das war schon vor dem Ukraine-Krieg so, denn Russland weiß: In einem konventionellen Krieg liegt die Kräftebalance – vor allem, wenn man die USA mit einbezieht – deutlich aufseiten der Nato. Deshalb hat man in Moskau überlegt, wie könnte man aus einer Position der Schwäche heraus die Nato trotzdem besiegen?
Zur Person
Fabian Hoffmann ist Research Fellow am Oslo Nuclear Project. In der norwegischen Hauptstadt forscht er zur Verbreitung, dem Einsatz und der Nutzung nichtnuklearer strategischer Waffen, insbesondere konventioneller Präzisionsschlagwaffen, und deren Auswirkungen auf die Nuklearstrategie und die allgemeine Nuklearwaffenpolitik.
Welche Schlussfolgerungen hat der Kreml dann Ihrer Meinung nach gezogen?
Russlands Militärstrategen sind zu dem Schluss gekommen, dass wenn man die Nato nicht durch konventionelle Überlegenheit besiegen kann, man im Falle eines Kriegsausbruchs so schnell wie möglich Verhandlungen erzwingen müsste. Der so zu verhandelnde Frieden müsste zugunsten Russlands ausfallen und die europäische Sicherheitsarchitektur entsprechend neu aufgestellt werden.
Wie will Russland das schaffen?
Wie aus russischen Quellen zu entnehmen ist, wäre die Idee, einen enormen psychologischen Druck auf europäische Entscheidungsträger auszuüben, sodass sie schnell einlenken. Dabei setzt Russland auf die nukleare Bedrohung, Angriffe auf zivile kritische Infrastruktur und die Brutalität, wie wir sie im Ukraine-Krieg sehen.
Russland weiß, dass die osteuropäischen und baltischen Staaten nie verhandeln würden. Aber stellen Sie sich mal vor, es gäbe Kampfhandlungen im Baltikum mit russischen Gebietsgewinnen. Und dann kommt aus Berlin, Paris oder London die Nachricht, man sollte Verhandlungen mit Russland erwägen. Dann wäre die Nato am Ende und Russland hätte eines seiner größten Ziele erreicht.
Die Nato scheint angesichts des Ukraine-Kriegs geeint, vor allem im Vergleich zur Stimmung noch vor wenigen Jahren. Deutschland, Großbritannien und Frankreich sind wichtige Unterstützer Kiews. Wie realistisch ist ein solches Szenario tatsächlich?
Wenn ich mir den Bundeskanzler und die SPD anschaue, habe ich keine große Hoffnung, dass sie in einer Konfrontation mit Russland standhaft bleiben würden. Scholz hat beispielsweise nie gesagt, die Ukraine müsse gewinnen. Er sagt stets: "Die Ukraine darf nicht verlieren." Die Willenskraft, die die aktuelle deutsche Regierung zeigt, lässt zu wünschen übrig. Darüber hinaus wird auch in vielen anderen europäischen Ländern die innenpolitische Spaltung immer größer. Das löst bei mir keine Zuversicht aus.
Dennoch wird die Ukraine von den Europäern stetig unterstützt. Warum sollten manche Nato-Staaten in einer direkten Konfrontation mit Russland plötzlich klein beigeben?
Die Kosten einer direkten Konfrontation zwischen Nato und Russland wären potenziell ungleich höher als im derzeitigen Ukraine-Krieg. Ich denke, dass die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation in der Ukraine derzeit relativ gering ist. In einer direkten Konfrontation wäre die Gefahr einer nuklearen Eskalation meiner Meinung nach sehr viel höher. Allein deswegen wäre die Bereitschaft zu Verhandlungen in Europa größer.
Und es kommt ein noch weiterer Faktor hinzu: Letztlich geht es nämlich weniger darum, was Berlin, Paris oder London denken. Entscheidend ist, was die russischen Entscheidungsträger denken. Wenn sie glauben, sie könnten einen Sieg erringen, dann wird es brandgefährlich. Und dafür brauchen wir Abschreckung.
Überschätzen Sie Russland nicht ein wenig? Im Ukraine-Krieg haben auch viele gedacht, die Kremltruppen würden durchmarschieren. Das ist nicht eingetreten.
Natürlich, es ist auch möglich, dass Russland die Lage wieder falsch einschätzt. Aber meine These ist, dass wir in zwei bis drei Jahren eine Abschreckungsfähigkeit aufbauen müssen. Auch wenn die Gefahr einer direkten Konfrontation derzeit eher gering ist, kann in dieser Zeitspanne viel passieren. Der Krieg in der Ukraine sieht derzeit aus russischer Sicht tendenziell etwas besser aus. Was würde passieren, wenn er sich so entwickelt, dass Russland in seinen Militärkapazitäten deutlich entlastet wird, weil die Ukraine nicht mehr so großen Widerstand leisten kann?
Russland hätte Kapazitäten an anderer Stelle.
Und Russland hat in den vergangenen Jahren auf Kriegswirtschaft umgestellt. Das Land könnte seine Arsenale in relativ kurzer Zeit wieder mit Marschflugkörpern und Raketen auffüllen. In Europa hängt man da noch deutlich hinterher. Hinzu kommen politische Variablen, die wir derzeit nicht einschätzen können. Was passiert, wenn Trump erneut ins Weiße Haus einzieht? Auch das würde Russland bestärken. Ich plädiere einfach dafür, dass wir uns auf ein Worst-Case-Szenario vorbereiten müssen. Das bedeutet, dass wir in zwei bis drei Jahren eine Abschreckung aufstellen sollten.
Dabei stellen Sie Europa als relativ schutzlos dar. Doch ein russischer Angriff wäre ja zumindest kurzfristig vorhersehbar. Auch vor der Invasion in die Ukraine konnte man wochenlang beobachten, wie Russland seine Truppen zusammenzog.
Das stimmt. Aber ich denke, dass es gar nicht solch große Verbände bräuchte für einen Angriff, wie ihn mein Szenario vorsieht. Schon kleinere Gebietsgewinne auf Nato-Territorium könnten ausreichen, um Russland zu erlauben, seinen nuklearen Schutzschirm aggressiv ausweiten zu können, was die Verhandlungsbereitschaft einiger Staaten sicherlich verstärken würde. Wie viel Nato-Territorium erobert werden müsste, ist schwer zu sagen. Vielleicht reicht die Eroberung der estnischen Grenzstadt Narwa. Es kommt ganz darauf an, wie geeint und entschlossen die Nato-Staaten dann wären und wie schnell sie reagieren. Und aktuell sieht das aus meiner Perspektive nicht vielversprechend aus.
Woran machen Sie das fest?
An der innenpolitischen Uneinigkeit in vielen Nato-Staaten. Als Iran und Nordkorea begonnen haben, Russland mit Waffen zu beliefern, hat es auch überhaupt keine Reaktion gegeben. Außerdem redet man viel über die Ukraine, tut dann aber trotzdem meiner Meinung nach zu wenig. Und das, obwohl am Ausgang des Ukraine-Kriegs enorm viel hängt – auch für uns. All das lässt mich an der Entschlossenheit zweifeln.
Die Nato-Staaten sind schon dabei, Verteidigungsfähigkeiten aufzubauen. Deutschland kauft etwa den Raketenschutzschirm Arrow 3 ein (t-online berichtete), auch die Rüstungsproduktion soll angekurbelt werden. Woran hapert es also?
Ich denke, wir brauchen eine generelle Wiederaufrüstung in allen Bereichen, also an Land, in der Luft und auf dem Wasser. Dabei gibt es tatsächlich schon einige positive Entwicklungen. Aber es gibt eben auch noch großen Nachholbedarf. Arrow 3 halte ich etwa für einen Fehlkauf.
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Wie kommen Sie darauf? Das System gilt als eines der fähigsten weltweit.
Das ist es auch – aber zur Abwehr von Mittelstreckenraketen. Und davon besitzt Russland zum jetzigen Zeitpunkt keine. Dort setzt man vor allem auf Kurzstreckenraketen wie Iskander-M und Marschflugkörper. Arrow 3 ist zur Abwehr dieser Waffensysteme ungeeignet. Das Geld wäre wohl besser in mehr Patriot-Batterien oder weitere Iris-T-Systeme angelegt. Im Großen und Ganzen brauchen wir mehr Flugabwehr.
Das ist auch eine Lehre aus dem Ukraine-Krieg.
Richtig. Russland ist für Europa der potenziell größte Gegner. Das Land hat gezeigt, dass es bereit ist, zivile Infrastruktur massiv anzugreifen und Opfer unter Zivilisten in Kauf zu nehmen. Darauf müssen wir vorbereitet sein.
Herr Hoffmann, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Telefoninterview mit Fabian Hoffmann