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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ministerin Lambrecht unter Druck Wie lange noch?
Die Liste der Fehler und Pannen von Christine Lambrecht (SPD) ist lang. Doch das heißt nicht, dass ihr verunglücktes Silvestervideo die Verteidigungsministerin nun das Amt kostet.
Neujahrswünsche zum Jahresende gehören zum Standardrepertoire von Berufspolitikern. Wie es geht, hat Olaf Scholz vorgemacht. In seiner Silvesterbotschaft klang er ernst, aber zugleich zuversichtlich. Er sprach über den Krieg in der Ukraine, erwähnte die Folgen auch für die deutsche Bevölkerung, pries die Maßnahmen der eigenen Regierung und versuchte, ein bisschen Mut zu verbreiten. Wenig überraschend, aber solide. Und vor allem: professionell.
Eine weit weniger staatstragende Botschaft fabrizierte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Für ihr Silvestervideo, das sie über ihren privaten Instagram-Kanal verbreitete, hagelte es Kritik. Lambrecht hatte sich dafür an einer Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain positioniert. Im Hintergrund krachten bereits Böller. Wegen des Lärms in Teilen fast unverständlich, berichtete sie davon, dass "mitten in Europa ein Krieg tobt", sie aber 2022 auch "viele Begegnungen" mit "tollen Menschen" hatte. Wenig Inhalt, keine Botschaft.
Die CDU nutzte die Vorlage gern: "Ist dem Bundeskanzler eigentlich die Wirkung Deutschlands in Europa und der Welt völlig egal?", kommentierte Ex-CDU-Chef Armin Laschet das Video auf Twitter.
Aber auch in Fachkreisen sorgte der Auftritt für Befremden. "Haben die in Berlin den Verstand verloren", twitterte etwa die renommierte Verteidigungsexpertin Ulrike Franke vom European Council in Foreign Relations auf Englisch. Auch jenseits der Union wurden Rücktrittsforderungen laut.
Scholz hatte Lambrecht im Alleingang durchgesetzt
Nicht nur auf Lambrecht wächst damit der Druck, sondern auch auf Bundeskanzler Olaf Scholz. Er hatte Parteifreundin Lambrecht als Verteidigungsministerin quasi im Alleingang durchgesetzt, obwohl diese zum Ende der vergangenen Legislatur bereits ihren Rückzug aus der Politik angekündigt hatte. Auch der bei Kabinettsbesetzungen so wichtige Regionalproporz konnte Scholz nicht beirren: Lambrechts Landesverband Hessen ist bereits ausreichend mit der von dort stammenden Innenministerin Nancy Faeser in der Regierung vertreten.
Doch nun wird Lambrecht, die als Justizministerin in der vergangenen Legislatur einen guten Ruf hatte, immer mehr zur Belastung für Scholz. Denn ihre Pleiten und Pannen sind zahlreich. Um nur einige zu nennen:
- Schon vor Amtsantritt machte sich Lambrecht im Ministerium wenig beliebt, weil sie Vertraute ihrer Vorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf recht rüde Weise aus dem Dienst entfernen ließ. Kramp-Karrenbauer blieb daraufhin demonstrativ der Amtseinführung von Lambrecht fern.
- Ende Januar 2022 kündigte Lambrecht an, 5.000 Helme an die Ukraine senden zu wollen – eine Geste, die von vielen angesichts der Dramatik der Lage als eher läppisch wahrgenommen wurde. Mitte Februar stellte sich auf Nachfrage von t-online heraus, dass die Helme noch nicht ausgeliefert waren. Die Begründung des Ministeriums: Man wisse nicht, wohin man sie liefern solle.
- Im April 2022 irritierte Lambrecht bei einem Truppenbesuch in Mali, weil sie Stöckelschuhe im Wüstensand trug. Für die dort stationierten Soldatinnen und Soldaten ist festes Schuhwerk Pflicht, allen Besuchern der Truppe wird dies dringend empfohlen.
- Kurz vor Ostern 2022 nahm die Ministerin ihren Sohn im Bundeswehrhelikopter mit, als sie zu einem Truppenbesuch unterwegs war, um anschließend mit ihm weiter in den Urlaub nach Sylt zu reisen. Dies kam heraus, weil der damals 21-Jährige ein Foto von sich auf Instagram gepostet hatte. Lambrecht weigerte sich damals zu sagen, wer das Foto gemacht hatte. Nachdem der "Tagesspiegel" geklagt hatte, musste sie zugeben: Sie selbst hatte ihren Sohn fotografiert.
- Im November plauderte Lambrecht in einem Interview mit der "Rheinischen Post" aus, dass Deutschland Polen die Stationierung von Patriot-Abwehrsystemen angeboten hatte. Die polnische Regierung war empört. Man habe um Vertraulichkeit über die Gespräche gebeten, hieß es aus Warschau.
- Anfang Dezember wurde bekannt, dass es Probleme bei der Beschaffung von F35-Kampfjets gibt. Diese sollen die alten Tornado-Maschinen ersetzen und sind das Prestigeprojekt der Bundeswehr – und von Lambrecht. Doch dann warnte das Ministerium in einem internen Schreiben an den Haushaltsausschuss des Bundestags vor Problemen bei der Beschaffung, unter anderem bei der Zulassung für den deutschen Luftraum und den für die Stationierung vorgesehenen Flugplatz. Ein Sprecher des Ministeriums wiegelte anschließend ab: Man habe nur auf noch unklare Aspekte hinweisen wollen.
Ein Versuch der Schadensbegrenzung
Was hat Lambrecht veranlasst, nach einem für sie ohnehin schwierigen Jahr diese offenbar spontane Silvesterbotschaft zu veröffentlichen? Ein Sprecher betonte am Montag in Berlin, das Video sei privat entstanden. Für die Aufnahme seien keine Mittel des Ministeriums eingesetzt worden. Wollte Lambrecht vielleicht nur ein paar persönliche Sympathiepunkte sammeln?
In der Truppe dürften sowohl das Video als auch die Kritik daran überschaubar bleiben. Denn: Hier ist Lambrecht nicht sonderlich populär. Dazu haben auch Berichte aus den ersten Wochen ihrer Amtszeit beigetragen, denen zufolge sie zunächst wenig Interesse zeigte, sich zügig mit den Strukturen und dem Führungspersonal der Bundeswehr vertraut zu machen. Das Problem hat sie mit ihren Vorgängerinnen Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer gemeinsam, die teilweise auch einen schweren Stand bei den Soldatinnen und Soldaten hatten, wenngleich aus anderen Gründen.
Deutlich bedenklicher ist der verunglückte Silvesterauftritt unter politischen Aspekten. Kein Wort der Solidarität war aus den Ampelreihen zu hören, als die jüngste Kritik an der Ministerin laut wurde. Selbst im hessischen Landesverband wächst der Verdruss über Lambrecht.
Das zeigt eine kleine Anekdote: Als sie im Juli beim "Hessenfest", dem traditionellen Sommerempfang der hessischen Landesvertretung, offiziell als Gast begrüßt wurde, wollte kaum einer applaudieren. Und ob Lambrecht Nancy Faeser im Innenministerium ersetzen könnte, falls diese Spitzenkandidatin der SPD bei der hessischen Landtagswahl in diesem Jahr werden sollte – inzwischen mehr als offen.
Entscheidend aber ist der Kanzler. Scholz hatte sich öffentlich in der Vergangenheit nicht nur immer wieder hinter Lambrecht gestellt, sondern sogar hervorgehoben, wie gut sie für das Verteidigungsministerium sei. Inzwischen fällt aber auch im Kanzleramt der Blick auf Lambrecht distanzierter aus. Denn jede neue Panne der Ministerin kratzt auch am Image des Kanzlers.
Das Video reicht nicht als Entlassungsgrund
Noch problematischer als Lambrechts Fehler zu tolerieren, wäre für Scholz allerdings, sie jetzt aus dem Amt zu werfen. Ohne größere Kabinettsumbildung käme dieser Schritt einem Eingeständnis gleich, bei der Besetzung des für die "Zeitenwende" so wichtigen Ministeriums versagt zu haben.
Lambrechts missglücktes Silvestervideo allein ist also wohl kein Entlassungsgrund. Eher die Anzahl an Pannen, also der eine Fehler zu viel, könnte Lambrecht doch noch zum Verhängnis werden. Und spätestens im Rahmen einer größeren Kabinettsumbildung hätte Scholz die Gelegenheit, seine Pannenministerin loszuwerden. Etwa, wenn der Posten der Innenministerin wegen eines Abgangs von Nancy Faeser neu besetzt werden müsste.
Ob es dazu kommt, ist derzeit aber noch nicht klar. Fest steht nur: Mit ihrer langen Pannenliste ist Lambrecht mehr denn je eine Ministerin auf Bewährung.
- Eigene Recherchen