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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kremlchef unter Druck "Teile der Elite könnten sich von Putin abwenden"
Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) forscht seit Jahrzehnten zur russischen Außenpolitik und Osteuropa. Im Interview erklärt sie, warum die Stimmung in Russland kippen könnte und welche Lehren die Bundesregierung ziehen muss.
t-online: Seit knapp zwei Monaten herrscht Krieg in der Ukraine. Fast täglich gibt es neue Schreckensbilder von ermordeten Zivilsten und Zivilistinnen, zerbombten Krankenhäusern, zerstörten Wohnhäusern. Wie kann es sein, dass davon nichts bei der russischen Gesellschaft ankommt?
Sabine Fischer: In den ersten Kriegstagen gab es durchaus eine Antikriegsbewegung in Russland. Aber das Regime hat es geschafft, diese innerhalb weniger Tage auszuschalten. Über 15.000 Menschen wurden vorübergehend festgenommen, die wenigen noch vorhandenen unabhängigen Medien zerschlagen, jede kritische Berichterstattung über die Ukraine mit Gesetzen unterbunden, die etwa für von der offiziellen Linie abweichende, kritische Äußerungen über die sogenannte militärische Spezialoperation Freiheitsstrafen bis zu 15 Jahren vorsehen. Hunderttausende, die gegen den Krieg sind oder die Politik Putins kritisch sehen, haben das Land verlassen. Das nimmt Druck weg vom Regime.
Laut Umfragen steht eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung hinter Putins Politik.
Die Umfragen sind problematisch, denn sie finden in einem diktatorischen Kontext statt. Es gibt eine unzufriedene Minderheit im Land, die aber massiv unterdrückt wird und um ihre Sicherheit und Existenz fürchten muss, weshalb sie schweigt. Die Mehrheit zerfällt in einen harten Kern, der Putins Kriegspolitik militant unterstützt, und einen nicht unbeträchtlichen Anteil von Menschen, die sich von allem zurückgezogen haben, was mit Politik zu tun hat, um nicht mit dem zunehmend repressiver agierenden Staat in Konflikt zu geraten.
Inzwischen müssten auch Auswirkungen der Sanktionen spürbar sein; Russland ist international weitgehend isoliert. Rechnen Sie damit, dass der Rückhalt für Putin bröckelt?
Mit solchen Prognosen muss man vorsichtig sein. Mein Eindruck ist aber, dass der Druck auf Russland so stark ist wie noch nie. Ein Großteil der Bevölkerung wird in den nächsten Monaten und wahrscheinlich Jahren enorm unter der wirtschaftlichen Situation zu leiden haben. Je länger der Krieg dauert, umso schwieriger wird es für die staatliche Propaganda, das positive Bild von der "Spezialoperation" aufrecht zu erhalten und die russischen Verluste zu vertuschen. Dann kann der innenpolitische Druck zunehmen. Ich halte es deshalb durchaus für möglich, dass es mittelfristig dann zu einer Destabilisierung des Regimes kommt.
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Wie könnte die aussehen?
Da gibt es verschiedene Szenarien: Teile der Eliten könnten sich so in ihren Interessen bedroht sehen, dass sie sich von Putin abwenden oder auch mit jenen in der Bevölkerung verbinden, die dann doch auf die Straße gehen, wenn sich die Situation drastisch verschlechtert. Auch regionale Abspaltungstendenzen könnten neuen Auftrieb bekommen, zum Beispiel im Nordkaukasus.
Das russische Regime macht für den Konflikt auch immer wieder die Nato verantwortlich. Diese habe mit ihrer Osterweiterung Russland in seinem fundamentalen Sicherheitsgefühl erschüttert, behauptet der Kreml und erhält dafür bis heute auch in Teilen der deutschen Bevölkerung Zustimmung.
Das ist eine instrumentalisierte Erzählung, die die Realität schlicht verkehrt. Die russische Lesart geht so: Die russische politische Elite sieht sich schon lange in einem Krieg mit dem Westen, insbesondere den USA. Sie ist von dem Glauben beherrscht, die USA, der Westen wollte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine unipolare Weltordnung errichten und Russland unterwerfen. Russland beansprucht aber für sich die Position einer Großmacht in einer multipolaren Welt, in der kleinere Staaten – wie die Ukraine – bestenfalls eingeschränkte Souveränitätsrechte haben.
Diese Sichtweise Moskaus betrifft alle Staaten in Russlands unmittelbarer Nachbarschaft. Die Ukraine wurde aus Moskauer Perspektive zunehmend zum Problem, weil sie aus dem russischen Einflussbereich hinausstrebte. Hinter den ukrainischen demokratischen und pro-europäischen Ambitionen vermutete die russische politische Führung schon immer eine westliche Verschwörung – gegen sich selbst. Diese Lesart gipfelt nun im Narrativ über den "ukrainischen Faschismus", gegen den sich Russland nun militärisch "zur Wehr setzt".
Putin rechtfertig seinen Einmarsch mit der Erzählung von der großrussischen Einheit und der besonderen Rolle, die die Ukraine historisch darin spielt.
Richtig ist, dass beide Gesellschaften historisch eng miteinander verbunden sind. Bis heute haben viele Russen Verwandte in der Ukraine und umgekehrt. In seinem neoimperialistischen Streben hat Putin nun versucht, in pseudowissenschaftlichen Ergüssen nachzuweisen, dass die Ukraine als Staat nie existiert habe. Er blendet dabei völlig die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung aus, die weit bis ins 19. Jahrhundert reicht. Er blendet die kurze staatliche Unabhängigkeit der Ukraine nach der Oktoberrevolution 1917 aus. Und er ignoriert komplett die postsowjetische Geschichte der Ukraine, in der die ukrainische Gesellschaft eine starke eigene Identität entwickelt hat.
Einerseits hat Putin stets betont, die Ukrainer seien ein Brudervolk, andererseits stellt er sie als die größte Bedrohung Russlands dar. Wie passt das zusammen?
Das passt nur zusammen, wenn behauptet wird, dass sich in Kiew eine vom Westen kontrollierte "faschistische Junta" festgesetzt habe, die das ukrainische Volk unterdrücke. Das war die zentrale Legitimationserzählung Moskaus zu Beginn des Krieges. Diese geriet ins Schwanken, weil die russische Armee auf den breiten Widerstand der gesamten ukrainischen Gesellschaft stieß. Jetzt wird in den staatlich kontrollierten Medien in Russland hin und wieder gesagt, dass sich die "Entnazifizierung" gegen die gesamte ukrainische Bevölkerung richten muss. Das ist sehr beunruhigend.
Auffällig ist, dass Putin und seine Strategen den Widerstand in der Ukraine völlig falsch eingeschätzt haben. Warum?
Da kommen mehrere Dinge zusammen. Geopolitisches Großmachtdenken, das mit starker Arroganz einhergeht: Obwohl die Ukraine einer der größten Staaten in Europa ist, sieht die russische politische Elite sie nur als Einflusszone. Das verstellt für vieles den Blick. Die politischen Kontakte zwischen Russland und der Ukraine verschlechterten sich schon nach der Orangenen Revolution 2004; nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass 2014 brachen sie ab.
Nicht nur zwischen den politischen Eliten. Es wurde auch nicht mehr geforscht über das Nachbarland; es bestand kein Interesse, den gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der Ukraine auf den Grund zu gehen, das Land wirklich zu verstehen. Man hatte keine Ahnung mehr, was in der Ukraine passierte.
Ist dieser Bruch zwischen den Russen und den Ukrainern jemals wieder zu kitten?
Jemals ist eine lange Zeit und keine Kategorie für mich als Wissenschaftlerin. Und die Frage ist angesichts des Vernichtungskrieges, den wir erleben, auch völlig verfrüht. Aber mittel-, vielleicht auch langfristig sehe ich keine Voraussetzung für einen Versöhnungsprozess.
Derweil wird die Kritik an der deutschen Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine immer größer. Der US-Historiker Timothy Snyder wirft Deutschland in einem Tweet vor, der Ukraine immer Faschismus unterstellt zu haben, gleichzeitig aber den russischen Faschismus unterstützt zu haben.
Das ist sehr plakativ, dem würde ich mich nicht anschließen. Aber die deutsche Ost-Politik ist gescheitert. Dafür sind alle politischen Akteure verantwortlich, die in den letzten 20 Jahren in Regierungsverantwortung waren. Sie haben zu lange an der Illusion festgehalten, dass man durch Handel Wandel erzielen und durch enge Kontakte Russland demokratisieren könne. Das gilt ganz besonders für die SPD.
War es ein Fehler, dass Deutschland 2008 den Nato-Beitritt der Ukraine verhindert hat?
Nein, das denke ich nicht, aus unterschiedlichen Gründen. In den 2000er Jahren gab es beispielsweise in der Ukraine noch gar keine Mehrheit für einen Nato-Beitritt. Aber der Gipfelkompromiss von Bukarest 2008 hat sich im Nachhinein als fatal erwiesen, nicht zuletzt, weil er von allen im eigenen Sinne interpretiert werden konnte. Ich sehe ein weiteres großes Versäumnis an einer anderen Stelle: Man hätte die Ukraine viel früher viel stärker an die EU binden sollen.
Welche Lehren muss die Bundesregierung für die weitere Politik ziehen?
Das Wichtigste ist jetzt schnellstmögliche und unbürokratischste Hilfe für die Ukraine. Dazu gehört auch die Lieferung von schweren Waffen. Deutschland muss gemeinsam mit seinen Partnern alles dafür tun, um die Ukraine in die Lage zu versetzen, sich gegen die russische Offensive zu verteidigen. Wichtig ist auch eine stringente, entschiedene Sanktionspolitik, ebenfalls in enger Abstimmung mit den Partnern.
Auch die Diplomatie muss weitergehen. Aber wir müssen sicherstellen, dass die Ukraine aus einer Position der Stärke in Verhandlungen mit Russland gehen kann. Darüber hinaus müssen wir uns klarwerden, welche Sicherheitspolitik wir für Europa wollen. Russland versucht gerade, seine Vorstellung von einer europäischen Sicherheitsarchitektur, von einem Europa der Einflusszonen durchzusetzen. Das ist nicht in unserem Interesse und nicht im Interesse der EU.
- Gespräch mit Sabine Fischer