"Mut und Zuversicht" Steinmeiers Ansprache zu Weihnachten im Wortlaut
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnt in seiner Weihnachtsansprache davor, Demokratie als selbstverständlich anzusehen. Lesen Sie hier die Ansprache im Wortlaut.
Frohe Weihnachten, liebe Landsleute!
Ich hoffe, Sie sind gut durchs Jahr gekommen und können die Festtage genießen.
Erinnern Sie sich noch? Vor genau zwölf Monaten hatte ich einen Weihnachtswunsch an Sie: "Sprechen Sie auch mal mit Menschen, die anderer Meinung sind."
Ganz viele haben das offenbar über das Jahr getan. Viele haben mir sogar geschrieben und berichtet von Diskussionen und Debatten, die sie bewegt haben in diesem Jahr.
Manche haben erzählt von hitzigen Gesprächen über Wahlen und Wahlergebnisse; über die Zukunft Europas; über den Stand der inneren Einheit, 30 Jahre nach dem Mauerfall; und über Klima, Klimawandel und was man dagegen tun kann – eine Frage, die die Politik tief geprägt hat in diesem Jahr und die möglicherweise auch vor Ihrem Weihnachtsbaum nicht Halt macht.
Mein Eindruck ist: Ja, wir haben tatsächlich in diesem Jahr – landauf, landab – mehr miteinander gesprochen; auch mehr miteinander gestritten. Das sind sehr politische Zeiten, in denen wir leben – und von zu wenig Meinungsfreiheit kann in meinen Augen nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil: so viel Streit war lange nicht.
Die Frage ist nur: Was machen wir jetzt mit all diesem Streit? Wie wird aus Reibung wieder Respekt? Wie wird aus Dauerempörung eine ordentliche Streitkultur? Wie wird aus Gegensätzen Zusammenhalt?
Manche fragen ja vielleicht: Trennt uns inzwischen sogar mehr als uns miteinander verbindet?
Und: Vielleicht erwarten Sie, dass der Bundespräsident in einer Weihnachtsansprache auf all diese Fragen eine salbungsvolle Antwort gibt. Die Wahrheit ist: Das kann der Bundespräsident nicht. Er kann es vor allen Dingen nicht allein. Denn die Antwort geben Sie. Sie alle.
Ein Bild aus diesem Jahr hat sich mir tief eingeprägt. Es ist das Bild einer Tür. Eine mächtige, dicke Tür aus Holz und Eisen. Zwanzig Schüsse hat sie abbekommen. Zerborstenes Holz und Reste von Blei in den Einschusslöchern sind heute zu sehen.
Es ist die Eingangstür der Synagoge in Halle. Und: Es ist ein Wunder, dass sie standgehalten hat. Dass nicht noch mehr Menschen diesem brutalen antisemitischen Anschlag zum Opfer gefallen sind – nicht noch mehr als die zwei, die ermordet worden sind.
Diese Tür, diese angegriffene Eingangstür zur Synagoge, sie steht in meinen Augen für noch mehr. Sie steht auch für uns. Sind wir stark und wehrhaft? Stehen wir genügend beieinander und fest zueinander?
Die Antwort, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die geben auch Sie. Sie stehen auf und halten dagegen, wenn im Bus Schwächere angepöbelt werden; wenn jemand, der anders aussieht, beleidigt wird; wenn auf dem Schulhof, in der Kneipe rassistische Sprüche fallen.
Sie haben Ihre Stimme im Netz und auch in den Sozialen Medien. Sie entscheiden, ob die krassesten und lautesten Parolen mit immer neuen Klicks belohnt werden oder ob Sie auf Fakten, Vernunft und bessere Argumente setzen.
Sie packen an: ob in der Nachbarschaft oder im Verein, ob im Ehrenamt oder im Hauptamt. Auch heute Abend wieder: Tausende, Zehntausende auf den Polizeiwachen, in Krankenhäusern oder in Pflegeheimen.
Und: Sie alle sind Teil dieser Demokratie. Indem Sie wählen gehen, indem Sie sich politisch einmischen – auf einer Straßendemo oder in einer Partei oder in einem Gemeinderat, wo an vielen Orten heute so dringend Nachwuchs gesucht wird.
Kurzum: Sie alle haben ein Stück Deutschland in Ihrer Hand!
Und weil das so ist, verbindet uns eben viel, viel mehr als uns trennt. Wir alle – wir alle sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Mit gleichen Rechten und Pflichten. Bürger erster oder zweiter Klasse gibt es nicht.
Nur: Das, was uns verbindet, das ist keine Garantie. Das ist Versprechen und Erwartung, Privileg und Zumutung. Im Grundgesetz steht eben nicht: "Alles Gute kommt von oben." Sondern dort steht: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."
Dieses Versprechen, diese Verheißung der Demokratie hat damals, vor 30 Jahren, Zehntausende, Hunderttausende von Menschen in der damaligen DDR auf die Straße getrieben. Welch ein unglaublicher Mut! Diese mutigen Menschen, diese friedlichen Heldinnen und Helden, die haben die Mauer zum Einsturz gebracht und Einheit möglich gemacht.
Jetzt leben wir seit 30 Jahren in Einheit, Freiheit und Demokratie. Nur: Nehmen wir das bitte nicht als selbstverständlich! Wir brauchen die Demokratie – aber ich glaube: derzeit braucht die Demokratie vor allem uns!
Zum Glück - und das ist anders als in einer Diktatur - braucht die Demokratie keine Helden. Was die Demokratie braucht, sind selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger - mit Zuversicht und Tatkraft, mit Vernunft, Anstand und Solidarität.
Und ich weiß: Alles das steckt in uns, steckt in Ihnen, steckt in dieser gesamten Gesellschaft. Und deshalb glaube ich an uns. Deshalb glaube ich an dieses Land. Und deshalb weiß ich, dass wir gemeinsam die Dinge immer wieder zum Besseren wenden.
"Fürchtet Euch nicht!", heißt es in der Weihnachtsgeschichte. Mut und Zuversicht – das wünsche ich Ihnen und uns allen für das kommende Jahr. Gesegnete Weihnachten!
- Nachrichtenagentur dpa