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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Baerbock zwischen Kriegen und Parteitag Nichts wie weg
Annalena Baerbock ist im Krisenmodus. Während in Israel und in der Ukraine Kriege toben, stehen die Grünen auch national unter Druck. Der Parteitag in Karlsruhe wird zum Spagat für die Außenministerin.
Es gibt Probleme, die im Angesicht von Kriegen und großen internationalen Krisen auf der Welt eher klein erscheinen. Haushaltskrise, Machtkämpfe mit der Union und innerhalb der Ampelkoalition, Streit in der eigenen Partei. Für all das ist momentan eigentlich kaum Zeit, besonders für die deutsche Außenministerin nicht.
Annalena Baerbock (Grüne) pendelt seit Monaten zwischen der Ukraine, dem Kaukasus und dem Nahen Osten. Sie führte Gespräche beim G7-Treffen in Japan, bei den Vereinten Nationen in New York. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel reiste sie ins Westjordanland, nach Ägypten, in den Libanon, in die Vereinigten Arabischen Emirate und nach Saudi-Arabien. Bei einem derart vollen Terminplan fühlt sich ein Grünen-Parteitag in Karlsruhe eher wie ein Auswärtsspiel für Baerbock an – ein Auftritt auf ungewohntem Platz.
Statt um Krisendiplomatie geht es für die Außenministerin und ihre Partei bei dem Treffen darum, Geschlossenheit zu demonstrieren, die eigenen Reihen im gegenwärtigen Ampelchaos zu schließen. Auch die Grünen sind in der Krise und seit Monaten in den Umfragen im Sturzflug. Baerbock hält momentan Distanz zum innenpolitischen Streit in Deutschland.
Nichts wie weg. Das wird Baerbocks Strategie daher gleich nach dem Ende des Parteitags sein. Von dieser aktuellen politischen Distanz könnte am Ende nicht nur die Außenministerin profitieren, auch die Grünen behalten einen Trumpf in der Hinterhand. Ein Plan B für kommende Wahlen.
Sicherheit für Israel, Perspektive für Palästinenser
Eigentlich wollten die Grünen auf ihrem Parteitag bis Sonntag den Europawahlkampf in den Mittelpunkt rücken. Doch das ist unmöglich. Schließlich steckt Deutschland nach dem Verfassungsgerichtsurteil vom 15. November in einer Haushaltskrise und auch in der Asylpolitik steht die Bundesregierung unter Zugzwang. Es droht gar ein Scheitern der Ampel. Mehr zu den Debatten auf dem Grünen-Parteitag lesen Sie hier.
Bei ihrer Rede auf dem Parteitag am Donnerstag sprach Baerbock ausschließlich über den Krieg in Israel, über die Folgen des Angriffs der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober und über ihre Gespräche mit Angehörigen der Opfer. Es war eine emotionale Rede, eine Rede, die den Nerv der grünen Delegierten traf. Eindringlich warnte sie vor neuen Gräben, "wenn das Leid der anderen nicht mehr gesehen wird". Applaus im Saal.
"Israel wird niemals in Sicherheit leben können, wenn dieser Terror nicht bekämpft wird", verteidigte sie das Selbstverteidigungsrecht Israels gegen die islamistische Hamas. Es werde aber ebenso keine Sicherheit für Israel geben, "wenn nicht auch die Palästinenserinnen und Palästinenser eine Zukunftsperspektive haben". Es ist die Position, auf die sich die Grünen verständigen können: Rückendeckung für Israel nach dem Terrorangriff durch die Hamas, ohne dabei die humanitäre Krise im Gazastreifen aus dem Blick zu verlieren.
Aber Baerbock schlug auch den Bogen nach Deutschland. "Jüdinnen und Juden und Israelis müssen frei und sicher in Deutschland leben können", heißt es dazu im Beschluss des Grünen-Parteitags. Ein Angriff auf Jüdinnen und Juden sei "immer auch ein Angriff auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung". Das betonte auch Baerbock – am Ende ihrer Rede erhoben sich die Menschen im Saal.
Beliebteste Grünen-Politikerin
Die Rollen in Karlsruhe sind klar verteilt. Es ist Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, der auf dem Parteitag in den Angriffsmodus schaltete. "Ich habe oft gelesen, die Grünen müssen in der Realität ankommen. Ich kann es nicht mehr hören. Corona, die Kriege, die Klimakrise, hohe Migrationszahlen – wir haben diese Realität voll angenommen", schimpfte Habeck in seiner Rede. "Die Realitätsverweigerung der GroKo hat Deutschland in diese Lage gebracht."
Baerbock hielt dagegen eine emotionale Rede, ohne sich in die innenpolitischen Streitigkeiten einzumischen. Sie unterstrich, dass sie die Außenministerin sei, sie habe momentan keine Zeit für anderes. Das ermöglicht ihr allerdings auch, sich zumindest teilweise aus der Schusslinie zu biegen, um politisch relativ unbeschadet aus dem Chaos zu kommen, sollte die Ampel am Ende doch scheitern.
Denn eines ist klar: Zwar hat Habeck durch sein Video über Antisemitismus in Deutschland wieder deutlich an Zuspruch gewonnen, aber Baerbock ist laut Umfragen vom ZDF und der "Bild" noch immer die beliebteste Politikerin der Grünen – beide liegen außerdem vor CDU-Chef Friedrich Merz. Aber die Partei musste durch eigene Fehler und durch anhaltendes mediales Dauerfeuer konservativer Kreise nach der Bundestagswahl schmerzhaft erfahren, dass sich das schnell ändern kann. Es war oft eine Achterbahnfahrt.
Nun steht die Partei in den Umfragen nur noch bei 15 Prozent. Baerbock hat im Wahlkampf Fehler gemacht, es gab Debatten um einen geschönten Lebenslauf und über Plagiate in ihrem Buch. Habeck wiederum hat als Minister Fehler gemacht, etwa bei seinem Heizungsgesetz oder in Zuge der Trauzeugen-Affäre. Die Außenministerin hat sich in dieser Zeit allerdings eine Fähigkeit angeeignet, die sie auch in ihrer Partei gern vermehrt sehen würde, heißt es im politischen Berlin: Ruhe und die Fähigkeit, politische Angriffe auszusitzen.
Unmut im Habeck-Lager
Innerparteilich wird genau das der Außenministerin gelegentlich als Untätigkeit aus eigenem Machtinteresse ausgelegt. So klagte das Lager von Habeck während der Debatte um das Heizungsgesetz über fehlende Unterstützung durch Baerbock. Auch der Vizekanzler kritisierte Baerbock gelegentlich öffentlich.
Die China-Strategie der Außenministerin ändere die Abhängigkeit von Peking noch nicht "entschieden genug" und das Tempo der Ukraine-Hilfen der Bundesregierung sei "zu langsam", sagte er im August. Kurz vor dem Parteitag distanzierte sich außerdem sein Vertrauter Michael Kellner, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und der Manager des Grünen-Wahlkampfes zur Bundestagswahl, von Baerbocks Buch: "Meine Verteidigung des Buchs war im Nachhinein ein Fehler, denn es hatte Plagiate."
Baerbock reagierte darauf nicht, es prallte an ihr ab. Das liegt einerseits auch an ihrem vollen Terminplan, andererseits ist es eine neue Verteidigungsstrategie. Die Grünen müssen langsam zumindest schon mit einem Auge auf die Bundestagswahl 2025 schauen. Aber bis dahin sind es noch knapp zwei Jahre und die aktuelle Krisenzeit bietet immer wieder neue Gefahren, größere Fehler zu machen. Deswegen erscheint es als strategisch sinnvoll für die Grünen, zwei Karten im Spiel zu haben. Zumal Baerbock derzeit wenig Angriffsfläche für die Union bietet, weil CDU/CSU – bezogen auf die Krisen in der Ukraine oder in Israel – inhaltlich nicht weit voneinander entfernt sind.
Heikle Debatte erwartet Grünen-Spitze
Fragt man in Kreisen der Grünen, möchte die Partei nicht die gleichen Fehler machen wie die SPD in den Jahren vor Bundeskanzler Olaf Scholz. Die Sozialdemokraten haben sich in vielen Umfragekrisen in der Vergangenheit auf Parteitagen so zerstritten, dass die Partei immer weiter abrutschte. Die Grünen-Spitze will das verhindern.
So wissen auch Baerbock und Habeck, dass die Öffentlichkeit in jede Situation, jede Begrüßung oder Äußerung momentan einen Konflikt hineininterpretieren könnten. Das wollen sie nicht. Auch deshalb fiel ihre Begrüßung samt Umarmung in Karlsruhe besonders herzlich aus. Beide wissen genau um die Wirkung der Bilder, die sie damit in die Republik senden.
Im Angesicht des Sturms wollen die Grünen also zusammenstehen. Ob das klappt, wird sich in Karlsruhe in der Nacht zum Sonntag zeigen. Dann wird der Parteitag darüber abstimmen, ob sich die Grünen gegen eine Verschärfung des Asylrechts stellen sollen. Baerbock steht hier für einen pragmatischen Weg – und stand für ihre Zustimmung zur EU-Asylreform parteiintern heftig in der Kritik. Für die Außenministerin ist die Frage heikel, immerhin hatte sie die Beschlüsse zähneknirschend verteidigt. Den Grünen droht am Wochenende eine intensive Debatte bis tief in die Nacht. Ausgang offen.
- spiegel.de: "Baerbock und Habeck geben Parteiämter ab"
- zeit.de: "Sie oder er? Er oder sie?"
- zdf.de: "Politbarometer vom 10. November 2023"
- merkur.de: "Bundesminister auf dem ersten Rang – Das sind aktuell die beliebtesten Politiker in Deutschland"
- sz.de: "Von Krisengespräch zu Krisengespräch"
- tagesspiegel.de: "Grüne ringen sich zu Rückendeckung für Baerbock durch
- spiegel.de: "Jeder Hype ist irgendwann vorbei"
- merkur.de: "Habeck kritisiert Baerbock – "Nicht entschieden genug"
- welt.de: "Die Entzauberten"
- wiwo.de: "Robert Habeck und Co. erwartet ein Scherbengericht"