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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Islamexperte kritisiert Bundesregierung "Die Bundesregierung war bisher erschreckend stumm"
Vizekanzler Habeck redet Klartext zum Antisemitismus in Deutschland. Das aber ist noch lange nicht genug, findet Islamexperte Güvercin. Die Bundesregierung bleibe bisher "erschreckend stumm" – und lasse so liberale Muslime im Stich.
Es war ein guter Tag für Eren Güvercin, als Vizekanzler Robert Habeck sich ausführlich zu Antisemitismus und Israelfeindlichkeit in Deutschland äußerte. Ein klares Zeichen aus der Bundesregierung. Endlich. Islamexperte Güvercin hat darauf lange gewartet.
Denn seitdem die palästinensische Terrororganisation Hamas Israel angegriffen und Hunderte Juden getötet hat, seitdem Demonstrationen mit judenfeindlichen Parolen über Deutschlands Straßen ziehen, fühlen Güvercin und seine Mitstreiter sich alleingelassen.
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Sie sind liberale Muslime, organisiert im Verein "Alhambra e.V.", und warnen vor Juden- und Israelhass in der eigenen Community. Güvercin ist in den vergangenen Wochen bei vielen großen Sendern aufgetreten, hat in den Nachrichten gesprochen. Er wird deswegen angefeindet, als "Verräter" beschimpft und bedroht. Mehrere Anzeigen hat Güvercin in den vergangenen Wochen bereits gestellt. "Die Wut und der Hass, der uns entgegenschlägt, ist erschreckend", sagt er.
Es ist ein harter Kampf, den Güvercin führt. Einer, in dem die Bundesregierung, so sieht er es, allzu oft wegschaut oder den Mund hält.
"Die Bundesregierung war bisher erschreckend stumm"
Habeck hat es anders gemacht. In seinem Video habe der Wirtschaftsminister eine "beeindruckende Grundsatzrede" gehalten, sagt Güvercin. Sie bringe die unterschiedlichen Facetten des Antisemitismus in Deutschland sehr gut auf den Punkt: Habeck stelle klare Forderungen an die muslimischen Verbände, lege zugleich den Finger in die Wunde bei der antikolonialistischen Bewegung innerhalb der Linken.
Aber Habecks Rede ändert nur wenig an Güvercins grundsätzlicher Kritik: "Ansonsten war die Bundesregierung bisher erschreckend stumm." Dass diese Rede nun vom Wirtschaftsminister komme, nicht aber von Kanzler Scholz oder der zuständigen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD), spreche Bände.
"Das Thema hat bei Ministerin Faeser offensichtlich keine Priorität", sagt Güvercin. "Das ist extrem enttäuschend."
Nur so kann er sich erklären, dass die Ministerin nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober nicht sofort eine Sondersitzung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) einberufen hat. In dem Gremium kommen Vertreter der Bundesregierung mit Vertretern der muslimischen Verbände in Deutschland zusammen. "Fatal" sei, dass die DIK nun erst am 21. und 22. November zu ihrem regulären Treffen zusammenfinde, sagt Güvercin.
"Auch Türken könnten verstärkt an Demos teilnehmen"
Denn der Angriff der Hamas am 7. Oktober und was danach in Deutschland folgte, ist für Güvercin nicht weniger als eine Zäsur. Ein Zeichen, dass es dringend eine Zeitenwende braucht, ganz ähnlich wie Kanzler Scholz sie nach Putins Angriff auf die Ukraine für die Bundeswehr verkündet hat. Eine ähnlich gewichtige Ansage fordert Güvercin nun für die Religionspolitik in Deutschland und für den Umgang mit den Islamverbänden.
Die Reaktionen der Verbände nach dem 7. Oktober zeigen aus seiner Sicht: "Die Strategie 'Wandel durch Nähe' ist gescheitert. Es muss nun ein fundamentales Umdenken in der Bundesregierung geben." Antisemitismus und Israelhass in den Islamverbänden seien ein massives Problem – und würden befeuert von aus dem Ausland finanzierten Strukturen.
Nur ein Beispiel für diese Nähe: die Ditib. Sie ist der größte Muslimverband in Deutschland, rund 880 Moscheegemeinden organisieren sich darin. Der Verband wird stark beeinflusst von der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Nicht nur finanziell ist die Ditib somit abhängig von der türkischen Regierung, sondern auch personell: Die Vorbeter in den Ditib-Moscheen werden in der Türkei ausgebildet, von der Türkei bezahlt und nach Deutschland nur ausgeliehen.
Der türkische Präsident Erdoğan habe ebenso wie das religiöse Oberhaupt der Diyanet, Ali Erbas, in den vergangenen Tagen die Marschrichtung klargemacht: "Sie stehen aufseiten der Hamas, feiern ihren Terror als Befreiungskampf", sagt Güvercin.
Er fürchtet, dass sich der Antisemitismus und die Unruhe auch auf Deutschlands Straßen verschärfen: "Bisher sehen wir vor allem palästinensische Flaggen und viele arabische Teilnehmer bei den Demos. Nun könnten auch Türken verstärkt teilnehmen, die Größe der Demos so wachsen."
Die Bundesregierung müsse einsehen und deutlich ansprechen: "Erdoğan will seinen Einfluss in Europa ausweiten." Güvercin hat das schon am eigenen Leib zu spüren bekommen: Nachdem er sich kritisch in deutschen Medien geäußert hatte, schrieben türkische Zeitungen negativ über ihn.
"Geschmacklos": Kritik an offiziellen Terminen mit Islamverbänden
In der vergangenen Woche hat es Treffen zwischen der deutschen Politik und den Islamverbänden gegeben, auf Bundes- wie Landesebene. Danach wurden Pressemitteilungen von den Politikbüros herausgegeben, Fotos aus Synagogen verbreitet.
Allerdings wurden die Pressemitteilungen kaum von den Muslimverbänden in deren eigener Kommunikation übernommen. So teilten nur drei von elf Verbänden, die an einem Treffen im Bundesinnenministerium teilgenommen hatten, im Anschluss die Erklärung auf ihren Webseiten. Erst nach öffentlichem Druck folgten weitere.
Güvercin kritisiert das scharf: "Die Politik darf sich keine Illusionen machen, das ist reine Inszenierung." Die Botschaften müssten von den Verbänden unbedingt in die eigenen Gemeinden hineinkommuniziert werden.
"Solange das nicht passiert, haben diese Termine keinerlei Wert", sagt Güvercin. "Mehr noch: Sie sind geschmacklos, Synagogen werden so als Fototapeten missbraucht und als Rehabilitierungseinrichtungen für Verbandsfunktionäre, die ihr Image aufpolieren möchten."
Zeitenwende gefordert
Wie Güvercin sich die religionspolitische Zeitenwende genau vorstellt? Staatliche Akteure aus dem Ausland, die Einfluss auf das muslimische Leben in Deutschland nehmen, müssten entmachtet werden, fordert er. Stattdessen müssten unabhängige deutsche Muslime erstmals einbezogen werden bei Grundsatzfragen zu muslimischem Leben in Deutschland.
Bei der Sitzung der Deutschen Islam Konferenz müsse sich alles um das Thema Antisemitismus und Israelhass drehen. Und falls Erdoğan Mitte November tatsächlich Deutschland besuche, wie derzeit geplant, müsse die Bundesregierung seine Haltung klar und öffentlich kritisieren.
Nur so, glaubt Güvercin, könne sich vielleicht etwas ändern. Es gebe schließlich viele in der muslimischen Gemeinschaft, die anders denken. "Aber sie trauen sich nicht, den Mund aufzumachen, weil die Einschüchterung kritischer Stimmen auch hier bei uns wirkt."
- Gespräch mit Eren Güvercin, Alhambra e.V.