Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Für mehr Nachsicht Und wenn Scholz richtig gehandelt hat?
Uns selbst begegnen wir mit Nachsicht. Unerbittlich und rechthaberisch verhalten wir uns nur anderen gegenüber, zum Beispiel der Regierung. Warum eigentlich?
Das Schöne und Schwere zugleich ist das Nachdenken über das zurückliegende Jahr und die Folgen für das kommende. Privat kann man sich vieles vornehmen. Jetzt erst mal weniger Alkohol. Weniger Fleisch, weniger Fisch. Überhaupt bewusster leben. Freundschaften pflegen. Eltern öfter besuchen.
Beim Jahreswechsel ist die Welt mit guten Wünschen und Vorsätzen gepflastert, wobei die meisten von uns ahnen, dass sie sich auf Dauer nur schwerlich erfüllen lassen. Oft scheitern wir an unserer Bequemlichkeit oder dem Stress oder auch an Sachzwängen. Aber egal, mancher Anspruch lässt sich ja trotz Widrigkeiten durchsetzen. Warum nicht diesmal mehr davon als im letzten Jahr?
Die Unduldsamkeit gegenüber den Regierenden
Das Bedürfnis nach Optimierung macht sich alle Jahre wieder bemerkbar. Also sollten wir diesen Drang ernst nehmen. Vielleicht wächst so die Chance auf Besserung. Natürlich ist Skepsis angebracht, weil wir noch aus dem Jahreswechsel '21 auf '22 wissen, dass wir weniger Vorhaben erfüllt haben, als wir es uns wünschen würden. Aber so sind Menschen eben, so sind wir eben. Uns glückt unterschiedlich viel und oft genug entsteht eine Diskrepanz zwischen Absicht und Wirklichkeit.
Uns gegenüber üben wir Nachsicht. Was aber bei Meinungsumfragen, zum Beispiel über Scholz und die anderen, neuerdings auffällt, ist die Unduldsamkeit der Regierten gegenüber den Regierenden. So unvollkommen wir selber auch sein mögen, so viel Perfektion verlangen wir von Scholz/Habeck/ Lindner etc. Diese Neigung zur Besserwisserei, zur Rechthaberei irritiert.
Merkel wäre die Kassandra gewesen, der keiner glaubt
Unsere Abhängigkeit von russischem Gas erwies sich, zum Beispiel, seit dem Ukraine-Krieg als Riesenproblem. Aber nur im heuchlerischen Rückblick erweist sich als falsch, was lange richtig gewesen war. Hätte etwa im Jahr 2014 die Bundeskanzlerin Angela Merkel aus der Annexion der Krim die Konsequenz gezogen, dass sich Deutschland unbedingt aus russischer Abhängigkeit lösen muss, weil möglicherweise ein Krieg bevorsteht, wäre sie eine einsame Ruferin im Walde geblieben, über die sich halb Deutschland lustig gemacht hätte. Denn die Industrie, die Wirtschaft, die Privathaushalte genossen liebend gerne den Vorzug billiger Energie und hätten darauf niemals freiwillig verzichtet. Merkel wäre die Kassandra gewesen, der keiner glaubt.
Nur in der Retrospektive lässt sich eine Kausalität zwischen 2014 und 2022 herstellen. Aber woher wollen wir wissen, ob Wladimir Putin schon damals felsenfest entschlossen war, acht Jahre später die Ukraine zu überfallen?
Nur im Rückblick sind wir schlauer als die Bundeskanzlerin oder der Bundestrainer. Dabei sollten wir einige Übung in Fassungslosigkeit haben. Wer hat 1989 vorhergesehen? Wer 9/11? Wer die Blamagen der deutschen Fußballnationalmannschaft 2018 und 2022?
Rechthaberei wird zum Volkssport
Vielleicht ist ja der Wunsch einfach übermächtig, wenigstens im Nachhinein Recht zu behalten, und dafür nimmt man die Heuchelei in Kauf, die im Besserwissertum nistet. Der "Spiegel" hatte früher die Eigenart zu beweisen, dass ein Ereignis, ein Unfall, ein Krieg unbedingt vermeidbar gewesen wären, wenn alle nur richtig gehandelt hätten. Ein Maximum an Rechthaberei. Heute ist daraus fast ein Volkssport geworden. Heute wollen wir allesamt immer schon klüger gewesen sein, als wir je waren.
Schön wäre es, wenn wir rechtzeitig wüssten, was sich aus einem Ereignis von heute dann morgen entwickeln wird. Schön wäre es auch, wenn sich durch richtiges Handeln heute ein Ereignis von morgen vermeiden ließe. Aber die Geschichte wie das Leben treiben ihr eigenes Spiel, und deshalb sind wir immer wieder aufs Neue maßlos verblüfft darüber, was über uns hereinbricht. Und uns bleibt nichts anderes übrig, als mit den rasanten Ereignissen mitzuhalten und aus ihnen schlau zu werden.
Es wäre nicht schlecht, die Nachsicht auf die Regierung auszudehnen
Zu den guten Vorsätzen für 2023 könnte ja gehören, dass wir weniger zielsicher in die Falle der Rechthaberei tappen. In Wahrheit wissen wir ja, dass wir nur hinterher genau wissen, was sich ereignet hat, und dass retrospektive Besserwisserei keine angenehme Tugend ist. Womöglich lässt sich durch diese Einsicht die herrschende Unduldsamkeit bändigen.
Davon könnte dann auch unser Verhältnis zu den handelnden Personen profitieren. Es liegt auf der Hand, dass sich die amtierende Regierung vom ersten Tag an im Bann unabsehbarer Ereignisse von historischem Ausmaß befand. Sollte man ihr das nicht zugutehalten? Hat die Regierung Scholz in der Kombination aus Krieg und Energiekrise vielleicht sogar richtig gehandelt? Durch Irrtümer und Fehleinschätzungen arbeitete sie sich zu großzügigem Handeln vor, von dem viele profitieren. Ist doch was, oder?
Es wäre doch gar nicht schlecht, wenn wir die Nachsicht, mit der wir uns bedenken, mal auf die Regierung ausdehnen würden. Nur mal so zur Abwechslung. Und meinetwegen auch auf Widerruf.