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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses Die teuerste Nacht Berlins
Wofür gibt die Bundesregierung Geld aus? Darüber entscheidet heute der wichtigste Ausschuss des Bundestages – in einer beinahe endlosen Sitzung.
Drei Tage vor der großen Entscheidung sitzt Bruno Hönel in seinem Büro, atmet tief durch und sagt dann: "Natürlich wird das die spannendste Nacht des Jahres." Hönel, schwarze Brille, weißes Hemd, ist seit einem Jahr Bundestagsabgeordneter für die Grünen. Der 26-jährige Haushaltspolitiker entscheidet über Milliardensummen mit. Hönel lehnt sich in seinem Sessel zurück: "An diesem Donnerstag wird es dann ein bisschen wie ein Kult – aber im positiven Sinne: Punkt für Punkt gehen wir alle Etats durch, stimmen unzählige Male ab und einigen uns. Bis in die frühen Morgenstunden, wenn die Sonne wieder aufgeht."
Der Kult, von dem Hönel spricht, ist die sogenannte Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses. An diesem Donnerstag um 11 Uhr beginnt das Treffen, bei dem unzählige Male abgestimmt wird, womit die letzten offenen Fragen des Etats für 2023 geklärt werden.
Selbst im entlegensten Winkel Deutschlands schlagen sich die Entscheidungen nieder
Wenn die Sitzung vorbei ist, steht fest, wohin das Geld des Bundes im nächsten Jahr voraussichtlich fließen wird: Ob Millionen in bestimmte Industriezweige gepumpt werden. Welche Kommune Zehntausende Euro zusätzlich bekommt. Inwiefern Integrationskurse finanziert werden. Es wird indirekt sogar geregelt, welche Vereine auf Dörfern unterstützt, welche Denkmäler erneuert, welche Kirchen im Land restauriert werden. Sauber in Tabellen aufgelistet. Anschließend muss der Bundestag den Beschluss noch bestätigen, was aber als Formsache gilt.
Mit den Haushaltszahlen wird Politik so greifbar wie selten: Selbst im entlegensten Winkel Deutschlands schlägt sich nieder, welche Projekte noch bewilligt werden und welche nicht. Deshalb dauert die Sitzung so lange. Deshalb wird so hart auch innerhalb der Ampelkoalition um einzelne Posten gekämpft. Und deshalb versuchen Abgeordnete noch kurz vorher, Anliegen aus ihrem Wahlkreis durchzusetzen. Wo ein großer Kuchen ist, wollen alle wenigstens ein paar Krümel abhaben.
Die Nacht von Donnerstag auf Freitag ist deshalb die teuerste Nacht des Jahres. Und vielleicht die bedeutendste.
Im Juli hatte das Kabinett bereits den Haushaltsentwurf verabschiedet. Etwas über 445 Milliarden Euro könnte der Bund demnach 2023 ausgeben. Doch es dürfte nun mehr werden, was aber erst morgen früh feststeht. Durch die neue Steuerschätzung für das nächste Jahr gibt es zusätzlichen Spielraum in Milliardenhöhe.
Über die weiteren Details des Haushaltes wurde in den letzten Tagen zwischen SPD, Grünen und FDP diskutiert. Die Verhandlungen führen nicht die bekannten Bundesminister, sondern drei Fachleute: Dennis Rohde für die SPD, Sven-Christian Kindler für die Grünen und Otto Fricke für die FDP. Die drei sind das Bindeglied: Zwischen den Fachreferenten einerseits, die trotz all der herumschwirrenden Zahlen noch den Durchblick haben – und andererseits den Wünschen, die aus ihren drei Parteien an sie herangetragen werden.
Seit dem Wochenende haben Rohde, Kindler und Fricke immer wieder lange zusammengesessen und manchmal in ihren Parteien zu bestimmten Themen nachgefragt. Seit Tagen werden Kurznachrichten hin- und hergeschickt: Welche Posten sind für uns unverhandelbar, wo ist vielleicht noch Spielraum, auf welches Geld können wir verzichten?
Am Sonntag wurde dann der erste Entwurf einer Einigung an die Haushaltspolitiker verschickt. Er ist die Grundlage der Bereinigungsvorlage für die Verteilung des großen Geldes: Über 500 Seiten dick, abgezeichnet vom verantwortlichen Staatssekretär im Finanzministerium. Einige Punkte sind noch offen, sie müssen im Rahmen der Bereinigungssitzung geklärt werden.
Der Ort für die Schlacht um das große Geld liegt mitten in Berlin: Das Paul-Löbe-Haus, wo an diesem Donnerstag das finale Treffen stattfindet, ist ein gigantischer Bau im Regierungsviertel. Dezente Lichter strahlen die Wände an, lautlos gleiten die Fahrstühle durch die Geschosse. Das Gebäude wirkt wie ein riesiges Raumschiff aus Stahl und Beton. Hier, im Saal 2400, tagt der Haushaltsausschuss.
Am vergangenen Montagabend um 18.01 Uhr biegt FDP-Chefhaushälter Otto Fricke um die Ecke. Er trägt einen Rucksack und eine blaue Schildmütze, seine Schritte werden vom dicken Teppich geschluckt. Fricke telefoniert und sagt ins Telefon: "Müsli! Es gibt bei uns immer Müsli!" Auch dieser Abend wird wieder lang werden, Fricke verschwindet dann mit zwei Mitarbeitern hinter der Tür. Draußen glitzern die Lichter auf der Spree, drinnen klären die Chefunterhändler offene Punkte.
Der Bundeshaushalt wird in sogenannten Einzelplänen verhandelt. Jedes Ministerium hat einen, in dem alle Ausgaben aufgelistet sind. Einer der Streitpunkte der letzten Tage steht in der vorläufigen Bereinigungsvorlage auf Seite 461, er betrifft das Finanzministerium: die Aktienrente der FDP. Die Liberalen wollen zur Stabilisierung der Rente ein Darlehen von insgesamt 10 Milliarden Euro aufnehmen, das nicht unter die Schuldenbremse fallen würde. Dabei haben aber die Grünen etliche Bedenken. Eine endgültige Einigung wird es wohl erst in der Bereinigungssitzung geben.
"Es ist noch nicht ganz klar, wo das Geld herkommen soll"
Auseinandersetzungen gibt es auch noch beim Digitalpakt für die Justiz, der Teil des Pakts für den Rechtsstaat sein soll. 50 Millionen will Justizminister Marco Buschmann dafür im nächsten Jahr den Bundesländern zur Verfügung stellen, der Haushaltsausschuss wird das Geld wohl freigeben. Doch während der Bund gern hätte, dass damit die deutsche Justiz modernisiert wird, würden die Länder gern freier über die Mittel verfügen. Nicht immer ist ganz klar, wohin das viele Geld fließt, das die Haushälter da in ihrer langen Nacht freigeben.
Ähnlich läuft es auch bei Großforschungsprojekten, die sich im Einzelplan 30 finden: Beispielsweise bei dem Forschungsschiff Polarstern II, das die Koalition auf den Weg gebracht hat und das nun gebaut werden soll. Dazu sagt der Grünen-Haushälter Hönel: "Da gibt es Verpflichtungsermächtigungen von einer Milliarde, es ist aber noch nicht ganz klar, wo das Geld herkommen soll. Es muss sichergestellt werden, dass am Ende nicht bei wichtigen Zukunftsbereichen wie der Klimaforschung oder den Hochschulen und Universitäten gekürzt wird." Es gibt noch einiges zu besprechen.
Einzelplan für Einzelplan werden die Haushälter an diesem Donnerstag die Vorlagen durchgehen, die Abgeordneten stimmen per Hand ab. Und immer wieder werden im Laufe des Tages diverse Bundesminister hineingehen durch die dicken Holztüren in den runden Raum. Wirtschaftsminister Habeck, Außenministerin Baerbock, Finanzminister Lindner, Landwirtschaftsminister Özdemir, Verkehrsminister Wissing und ihre Kollegen. Alle Mitglieder des Kabinetts werden erwartet.
Die Regierungsmitglieder werden dann zu ihren Etats befragt. Dabei geht es weniger um echte Rechtfertigung, die Zahlen der Budgets stehen zu diesem Zeitpunkt bereits fest. Die Befragung ist eher symbolischer Natur: Wir als Parlament schauen, wofür ihr als Regierung eigentlich das Geld so ausgebt.
Besonders freuen dürfte sich Karl Lauterbach. Der SPD-Minister war von den Ampel-Politikern gezwungen worden, noch in diesem Jahr einen Entwurf für ein Gesetz zur Legalisierung von Cannabis vorzulegen. Lauterbach lieferte. Nun dürfte eine Million Euro für die Öffentlichkeitsarbeit in seinem Ministerium wieder freigegeben werden, das Geld war eingefroren. Druck ausüben mit dem Rotstift – und so Politik machen: Für die Haushälter ist es nicht nur die spannendste, sondern auch die mächtigste Nacht des Jahres.
Links von dem kreisrunden Ausschussraum liegt hinter einem kleinen Gang das Ausschusssekretariat. Und in dieser Nacht wird es sich, das ist mittlerweile Tradition, in eine Schenke verwandeln. Die Abgeordneten nennen es scherzhaft "unsere Papierkneipe". Es gibt Bier zum Zapfen, in einem Kühlschrank steht Wein bereit. Ab und zu schauen die Politiker dann vorbei, wenn wieder ein paar Dutzend Abstimmungen gerade hinter ihnen liegen.
Bei der letzten Bereinigungssitzung im Mai, bei der es wegen des Regierungswechsels um den Haushalt für dieses Jahr ging, habe sich zu später Stunde ein Haushaltspolitiker der Union eine Medaille umgehängt, die ihm geschenkt worden sei. So erzählen es Anwesende. Darauf stand: "Haushälter des Jahres".
Ob sich nun erneut jemand mit einer ähnlichen Medaille in den Ausschuss setzt, wird am Freitagmorgen klar sein. Die Papierkneipe, so heißt es, habe jedenfalls die ganze Nacht geöffnet.
- Eigene Recherche
- Persönliche Gespräche mit Haushalts-Politikern unter anderem Bruno Hönel