Kommission kritisiert Regierung Die Erkenntnisse der Corona-Experten im Überblick
Lockdown, Schulschließungen, Maskenpflicht: Eine Expertenkommission hat die Corona-Maßnahmen evaluiert. Das sind die Ergebnisse.
Das Ringen um den Corona-Kurs im Herbst geht in die nächste Runde: Eine Expertenkommission hat eine Auswertung zu bisherigen staatlichen Beschränkungen vorgelegt.
Die Ampelkoalition hat vereinbart, die wissenschaftliche Beurteilung abzuwarten, bevor über weitere mögliche Auflagen für den Herbst entschieden werden soll – dann wird eine wieder kritischere Pandemie-Lage erwartet.
Wie beurteilen die Expertinnen und Experten die bisherigen Corona-Maßnahmen? t-online liegen die Ergebnisse vor. Ein Überblick:
Lockdown
Eine starke Wirkung haben Lockdowns den Experten zufolge im Anfangsstadium. Gerade dann sei es "sinnvoll, die Übertragung in der Bevölkerung, so weit es geht, zu reduzieren, um das Gesundheitssystem auf die bevorstehende Krankenlast einzustellen und um, wenn möglich, den Ausbruch lokal zu begrenzen".
Aber: Je länger ein Lockdown dauere und je weniger Menschen bereit seien, die Maßnahme mitzutragen, desto geringer sei der Effekt und umso schwerer wögen die nicht-intendierten Folgen, wie etwa die Steigerung häuslicher Gewalt, die vor allem Frauen und Kinder betrifft, sowie die Zunahme von psychischen Erkrankungen und existenzieller Nöte.
2G/3G-Maßnahmen
Bei der 2G-Regelung werden nicht-geimpfte bzw. nicht-genesene Personen aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens, wie etwa der Gastronomie, ausgeschlossen. Bei 3G müssen Nicht-Geimpfte bzw. Nicht-Genesene einen negativen Test vorlegen, um ausgewählte Bereiche, wie z.B. das Theater, zu betreten.
Der Effekt der genannten Maßnahmen sei bei den derzeitigen Varianten in den ersten Wochen nach der Boosterimpfung oder der Genesung hoch, meinen die Expertinnen und Experten. "Der Schutz vor einer Infektion lässt mit der Zeit jedoch deutlich nach." Abgesehen von der Eindämmung sieht das Sachverständigengremium in der Maßnahme kaum Vorteile: Befragungen in mehreren Ländern hätten gezeigt, dass "verpflichtende Impf- und Immunitätsnachweise aus psychologischen Gründen kontraproduktiv sein können, da hierdurch die Motivation, sich impfen zu lassen, deutlich gesenkt werden kann".
Das Ziel der Politik, durch die 3G-Regelung mehr Menschen zum Impfen zu bewegen, ist nach Ansicht des Gremiums gescheitert: Hier zeige sich "kein oder ein sogar gegenläufiger Effekt".
Zudem erläutern die Expertinnen und Experten: "Zu berücksichtigen ist, dass 2G/3G allein bezüglich der Wirksamkeit kaum evaluiert werden kann, da diese Maßnahme nicht isoliert, sondern in der Regel – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – in Kombination mit Masken und Abstand genutzt wurde." Das Gremium betonte, dass der Bericht keine Aussage darüber machen könne, ob die 2G/3G-Regel in bestimmten Etablissements wirksamer war als in anderen. Heißt: Ob die Regel etwa in Fitnessstudios sinnvoller war als in Konzertsälen, kann nicht beurteilt werden.
Schulschließungen
Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus ist laut den Sachverständigen weiterhin offen. Die Expertinnen und Experten empfehlen jedoch, "die nicht-intendierten Auswirkungen dieser Maßnahme unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls genauer" zu evaluieren. Sprich: Die Kollateralschäden sollten geprüft werden. Das Gremium stellt fest, dass die Folgen der Schulschließungen auf das psychische Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern immens seien.
Dass Kinder das Virus besonders häufig weitergeben, wird bezweifelt. Dazu heißt es in dem Bericht: "Übertragungen von Kindern auf Erwachsene können zwar eindeutig nachgewiesen werden, scheinen jedoch weniger häufig vorzukommen als von Erwachsenen zu Kindern und als unter Erwachsenen."
Die Expertinnen und Experten warnen davor, Schlüsse aus den hohen Zahlen unter Kindern zu ziehen. Durch das "anlasslose Testen" gebe es in Schulen ein "scheinbar höheres Infektionsgeschehen". Tatsächlich würden aber mehr Fälle erfasst, die ohne Test nicht entdeckt würden. Würde man Erwachsene genauso oft testen wie die Schülerinnen und Schüler, hätte man den gleichen Effekt.
Der Virologe Hendrik Streeck, der dem Gremium angehörte, betonte, es sei nicht möglich, die Effekte der Schulschließungen abschließend zu bewerten. Als Grund gab er an, dass die Schließungen aus "Maßnahmenbündel" bestehen, wodurch eine wissenschaftliche Überprüfung erschwert werde. International ist Deutschland laut dem Virologen im Mittelfeld bei der Dauer von Schulschließungen während der Pandemie.
Die Soziologin Jutta Allmendinger teilte mit, es sei nicht vollständig auszuschließen, dass auch im kommenden Herbst oder Winter erneut Schulen schließen könnten. Allerdings müsse das aus ihrer Sicht "das letzte aller Mittel" bei der Pandemiebekämpfung sein. Unklar ist aus ihrer Sicht auch, ob Kinder den Lernrückstand durch die Schließungen in Zukunft wieder aufholen können. Für die Zukunft empfahl die Soziologin auch die Bereitschaft zu "ungewöhnlichen Maßnahmen": Als Beispiel nannte sie Unterricht in geschlossenen Museen oder Konzertsälen.
Masken und Maskenpflicht
Der Sachverständigenausschuss ist sich sicher: Das Tragen von Masken kann ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung sein. Aber: "Eine schlechtsitzende und nicht enganliegende Maske hat einen verminderten bis keinen Effekt." Künftig solle der Fokus "auf das richtige und konsequente Tragen von Masken" gelegt werden. Alltagsmasken seien weniger wirksam als medizinische Masken. Der Maskenträger müsse den Schutz auch tragen wollen, sagte der Virologe Streeck.
"Da die Übertragung des Coronavirus im Innenbereich ungleich stärker als im Außenbereich ist, sollte eine Maskenpflicht zukünftig auf Innenräume und Orte mit einem höheren Infektionsrisiko beschränkt bleiben", raten die Expertinnen und Experten.
Kontaktnachverfolgung
Ähnlich wie bei den Lockdown-Maßnahmen sei die Kontaktnachverfolgung in der Anfangsphase der Pandemie wirksam, meinen die Expertinnen und Experten. Es sollte jedoch dringend untersucht werden, unter welchen Bedingungen "der Nutzen der Kontaktpersonennachverfolgung (KPN) im Vergleich zum Anraten des 'Zuhausebleibens' bei Symptomen überwiegt". Eine bessere Digitalisierung der Infektionserfassung sei unabdingbar, so das Gremium.
Weitere Erkenntnisse
Der Ausschuss kritisierte vor allem die mangelnde Datengrundlage für die Überprüfung. Die Erfüllung der Aufgaben des Gremiums wurden dadurch "erheblich erschwert", kritisierte der Volkswirt Christoph M. Schmidt vom RWI-Leibniz Institut für Wirtschaftsforschung in Essen. Dennoch habe man "nach besten Wissen und Gewissen" die Maßnahmen untersucht.
Auch Streeck sprach von einer "schlechten Datenlage" und forderte Verbesserungen sowie eine stärkere Digitalisierung. Das sei allerdings auch keine neue Forderung, stellt Schmidt klar. Als Vorbilder nannte er etwa die USA und Großbritannien, die Deutschland voraus seien. Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik sei in der Vergangenheit schon weiter gewesen, bemängelte der Volkswirt. Als Beispiel nannte er die wissenschaftliche Überprüfung der Agenda 2010 und der sogenannten Hartz-Reformen auf dem Arbeitsmarkt.
Ebenso kritisierte das Gremium die mangelnde Krisenkommunikation der Bundesregierung. "Es ist wichtig, dass wir schnell informieren", sagte Allmendinger. Die Regierung müsse über die Pandemie transparenter, grafischer und in einfacher Sprache berichten. Zudem müsse man sich viel stärker den Menschen widmen, die bisher kaum erreicht wurden, etwa in sozialen Brennpunkten.
Wer gehört zu dem Gremium?
Dem Sachverständigenausschuss, der je zur Hälfte von Bundesregierung und Bundestag besetzt wurde, gehören Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen an, unter anderem der Virologe Hendrik Streeck und die Soziologin Jutta Allmendinger. Er ist nicht mit dem Expertenrat der Bundesregierung zu verwechseln, der schon mehrere Stellungnahmen zu anstehenden Entscheidungen vorgelegt hatte.
Um das Gremium hatte es Wirbel gegeben, nachdem der Leiter der Virologie an der Charité Berlin, Christian Drosten, Ende April seinen Rückzug mitgeteilt hatte. Zur Begründung hieß es unter anderem, dass Ausstattung und Zusammensetzung des Gremiums aus seiner Sicht nicht ausreichten, um eine hochwertige Evaluierung gewährleisten zu können. Für Drosten rückte auf Vorschlag der Union der Virologe Klaus Stöhr nach.
- Bericht und Pressekonferenz des Sachverständigenausschusses (Stand: 1. Juli 2022)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP