"Anne Will" zum Fall Yücel "Erdogan hat gesagt: Freilassung nur gegen Gegenleistung"
Kaum ist der Journalist Deniz Yücel wieder frei, fordert die türkische Regierung deutsche Waffen. Doch bei "Anne Will" wollen die Beteiligten nichts von einem Rüstungsdeal wissen.
Die Gäste:
- Ulf Poschardt, Chefredakteur der Zeitung "Die Welt", für die auch Deniz Yücel arbeitet
- Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags
- Sevim Dagdelen (Die Linke), Stellvertretende Fraktionsvorsitzende
- Michael Roth (SPD), Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt
- Peter Steudtner, Menschenrechtsaktivist, der mehrere Monate in türkischer Haft saß
Das Thema:
Nach mehr als einem Jahr Haft ohne Anklage ist der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel wieder frei. Doch die Diskussion um das Verhältnis beider Länder dauert an. Kritiker meinen, die Freilassung sei ein "schmutziger Deal" gewesen. Sprich: Der türkische Präsident Erdogan bekomme Gegenleistungen. Ein erster Verdachtsmoment ist die Forderung des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım, der am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hatte, er wünsche sich eine Kooperation mit Deutschland beim Bau von Kampfpanzern.
Der Frontverlauf:
Natürlich galt die erste Frage der Sendung "Welt"-Chefredakteur Poschardt. Er war in der Runde am nächsten dran an Deniz Yücel, der freilich auch eingeladen war, sich aber noch von den Strapazen seiner Haft erholt. Yücel gehe es gut, erzählte Poschardt. Wie bitter ist der Nachgeschmack, dass nach wie vor eine Anklage droht?
Gar nicht so sehr, sagte Poschardt, Yücel freue sich einfach über die Freilassung. Allerdings seien immer noch Dutzende Journalisten unschuldig in Haft. Wie fühlt man sich nach einer solchen Tortur? Peter Steudtner weiß es, denn er saß selbst knapp vier Monate in türkischer Haft, knapp drei Monate davon zusammen mit Yücel. "Ich fühle mich frei, aber auch beschränkt, denn ich bin nicht freigesprochen wurden", sagte Steudtner. "Das erlaubt keine innere Freiheit."
War die Freilassung eine politische oder eine juristische Entscheidung, wollte Anne Will wissen. Es war die bestimmende Frage des Abends – und brachte den SPD-Politiker Michael Roth kräftig ins Eiern. Roth verhandelte für die Bundesregierung über die Freilassung Yücels. Seine Antwort: "Die Gerichte sind am Ende genauso unabhängig wie andere juristische Institutionen." Was Anne Will zu der prompten Nachfrage verleitete: "Das sagen Sie ernsthaft?"
Nach Ansicht von Linken-Politikerin Sevim Dagdelen hingegen spricht einiges für einen Deal: Die Inhaftierung sei klar politisch motiviert, die Anklageschrift auf drei Seiten "hingerotzt". Außerdem dringe in der Türkei nicht einmal das Verfassungsgericht durch, wenn es um die Durchsetzung von Menschenrechten gehe. "Erdogan hat immer gesagt: Freilassung nur gegen Gegenleistung. Das kann doch kein Rechtsstaat sein!"
Aufreger des Abends:
Gab es nun die Abmachung "Freilassung gegen Waffen"? Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte nach der Freilassung Yücels einen Deal dementiert und auf die Unabhängigkeit der türkischen Justiz verwiesen.
"Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt wollte "der Bundesregierung keine Vorwürfe machen". Er könne sich ein Geschäft nicht vorstellen: Yücel habe "klar gemacht, dafür bin ich nicht zu haben". Sevim Dagdelen geht denn auch nicht von einem schriftlich hinterlegten Geschäft aus. "Aber es gibt Hinweise."
Zum Beispiel habe man kurz nach dem Treffen Gabriels mit dem türkischen Außenminister Cavusoglu in Goslar Anfang Januar die neue Panzerfabrik von Rheinmetall in der Türkei auf den Weg gebracht. Ob sie denn glaube, dass Gabriel lüge? "Es wäre nicht das erste Mal, dass Mitglieder der Regierung nicht besonders glaubhaft wären."
So habe die Bundesregierung die Waffenexporte deutlich reduzieren wollen, habe aber tatsächlich ein Viertel mehr exportiert als die Vorgängerregierung. Michael Roth hingegen sah "keinerlei Zugeständnisse der deutschen Regierung". Wenn es einen Deal "Waffen gegen Freilassung" gegeben hätte, hätte die Freilassung wohl kaum 367 Tage gedauert. "Wir haben die restriktivsten Ausführungsbestimmungen für Rüstungsgüter. An denen wird sich auch nichts ändern, auch wenn sich der türkische Ministerpräsident gewünscht hat, gemeinsam Panzersysteme zu entwickeln."
Was übrig bleibt:
Trotz aller Freude über die Freilassung Yücels bleibt die Sorge groß, wohin die Türkei steuert. Kleiner Lichtblick: Immerhin scheint man wieder mehr miteinander zu reden. Sieht man allerdings, dass noch rund 1.000 Menschen in der Türkei vermutlich unschuldig in Haft sitzen und wie brutal die Türkei völkerrechtswidrig in Syrien gegen die Kurden vorgeht, wird die Freude schnell getrübt. Selbst wenn es keinen Deal gab – schmutzig ist das politische Geschäft rund um Erdogan allemal.