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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Interview mit Michael Müller „Allein das Auswechseln von Köpfen wird uns nicht helfen“
Große Stadt, große Probleme: Berlins Regierender Bürgermeister Müller muss sich mit Terror, Antisemitismus und dem BER herumschlagen – und dann ist da noch die Lage der SPD.
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat bewegte Tage hinter sich. Berlin gedachte kürzlich der Opfer des Anschlags vom Breitscheidplatz, die Stadt wird von antisemitischen Vorfällen erschüttert. Und dann diskutiert die SPD auch noch über eine mögliche neue Große Koalition. Im t-online.de-Interview sagt Müller, was er von einem neuen Bündnis mit der Union hält, was seine Bedingungen dafür wären – und was er zum Pannenflughafen BER zu sagen hat.
Interview von Patrick Diekmann
t-online.de: Herr Müller, kürzlich trat Stanislaw Tillich als sächsischer Ministerpräsident zurück. Die CDU hatte dort bei der Bundestagswahl viele Stimmen an die AfD verloren. In Berlin hat die SPD bei der Berlin-Wahl 2016 und bei der Bundestagswahl zuletzt ebenfalls massiv verloren. Warum haben Sie daraus keine persönlichen Konsequenzen gezogen?
Michael Müller: Persönliche Konsequenzen werden auf allen Ebenen und in allen Parteien diskutiert. Ich bezweifle nur, dass so ein Schritt das Problem auch nur ansatzweise löst – und das wird es auch in Sachsen nicht. Wir erleben in allen Bundesländern und auf Bundesebene schlechtere Wahlergebnisse der großen Parteien. Wir haben die Situation, dass zunehmend Dreierkonstellationen gebildet werden müssen, um überhaupt noch Koalitionen zwischen den demokratischen Parteien jenseits der AfD zu ermöglichen.
Woran liegt das?
Das sind Entwicklungen, die nur bedingt mit den politischen Akteuren zu tun haben, weil dies ein Trend in allen Bundesländern und im Bund ist. Der Vertrauensverlust in die etablierte Politik und in die großen Parteien ist viel stärker, als wir bisher dachten.
Dennoch war es knapp für Sie. Auf dem SPD-Landesparteitag nach der Bundestagswahl hielten Sie eine Rede, die für viele Beobachter die beste Ihrer Karriere war. Diese Rede hat sie gerettet.
Ich habe den Delegierten klar gemacht, wofür ich stehe. Dafür bin ich gewählt worden. Wenn Sie das eine gute Rede nennen, freut mich das. Viele Parteimitglieder erkennen, dass Diskussionen zu Personen nicht helfen, wenn man nicht auch über Strukturen und Inhalte redet. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, für welche Themen wir eigentlich in der Bevölkerung stehen und mit welchen Themen wir glaubwürdig Politik machen können. Diese Diskussionen beginnen eigentlich jetzt erst nach den Landtagswahlen und der Bundestagswahl. Das wird uns auch noch eine Weile beschäftigen.
Aber einen inhaltlichen Neuanfang verbindet man auch immer mit den führenden Köpfen, die diese Inhalte vertreten.
Da haben Sie völlig Recht. Ich habe mich der Debatte nicht entzogen, sondern wir haben uns auf dem Landesparteitag der Berliner SPD und auf dem Bundesparteitag großen Raum für Diskussionen gegeben. Jeder hatte die Chance, auch Konsequenzen zu fordern. Dieser Anspruch ist weder auf dem Landes- noch auf dem Bundesparteitag formuliert worden, weil die Aktiven in der Partei erkennen, dass es inzwischen um ganz andere Dinge geht.
Welche denn?
Auf Bundesebene hatten wir in der SPD in den letzten zwölf Jahren sechs verschiedene Vorsitzende und trotzdem haben wir vier Bundestagswahlen verloren. Allein das Auswechseln von Köpfen wird uns nicht helfen.
Auch ihre rot-rot-grüne Koalition steckt in Berlin in der Umfragekrise. Bislang ging von der Hauptstadt kein Signal für die Bundespolitik aus. Warum kommt Ihre Politik bei den Bürgern nicht an?
Natürlich gehen auch positive Signale von unserer Politik aus, zum Beispiel in der Liegenschaftspolitik. Und in den Umfragen hat diese Koalition eine Mehrheit unter den Wählern. Berlin wird national und international zunehmend als eine sehr attraktive Metropole wahrgenommen. Wir sind eine Stadt des wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aufschwungs. So etwas kommt nicht von alleine, sondern durch bewusste Schwerpunktsetzungen der Politik. Es ist trotzdem unbestritten, dass Berlin auch Probleme hat. In der Verwaltung muss vieles schneller passieren und die harten Sparjahre müssen schrittweise ausgeglichen werden. Es ist ein Prozess, der andauert und dem wir uns sicherlich noch verstärkt widmen müssen.
Aber ganz konkret: Ist die Berliner Koalition ein Vorbild für den Bund?
Ich weiß nicht, ob es möglich ist, diese Konstellation zu übertragen. In der Bundespolitik spielen andere Dinge eine Rolle. Dreierbündnisse sind an sich schwierig und der Bund kann sehen, dass es durchaus auch stabil funktionieren kann. Wir haben hier eine stabile Koalition und nach der Aufregung der Anfangswochen arbeiten wir jetzt sehr vertrauensvoll zusammen. Trotzdem ist eine Koalition auf einer kommunalen Ebene etwas völlig anderes als auf der Bundesebene, wo Themen wie Außen- und Sicherheitspolitik eine ganz andere Rolle spielen.
Im Bund dagegen spricht Ihre Partei wieder über eine Neuauflage der Großen Koalition mit der Union. Sie brachten dagegen als Bundesratspräsident ein solidarisches Grundeinkommen ins Spiel, Es schien so, als wollten Sie die Partei nach links rücken. Kommen Ihnen die Groko-Gespräche da nicht in die Quere?
Nein. Der Bundespräsident hat uns zu Gesprächen aufgefordert. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns dem nicht entziehen. Frau Merkel ist mit den Jamaika-Verhandlungen gescheitert, jetzt müssen wir ernsthaft ausloten, wie es im Bund eine stabile Regierung geben kann. Die SPD muss unabhängig von einer Regierungsbeteiligung und unabhängig von einer möglichen Großen Koalition das eigene Profil klar formulieren. Dabei sind die Bürgerversicherung und das solidarische Grundeinkommen Beispiele für wichtige soziale Themen. Wenn die SPD nicht ein eindeutiges Profil formuliert, werden wir auch in Zukunft Probleme haben.
Nach der Wahl war man sich in Ihrer Partei einig: Keine Große Koalition, dafür einen Neuanfang. Aber für viele Wähler sind es immer noch dieselben Köpfe an der Spitze und vielleicht bald wieder derselbe Koalitionspartner. Leidet darunter nicht Ihre Glaubwürdigkeit?
Wir haben uns diese Situation nicht ausgesucht und haben sie auch nicht herbeigeführt. Wir haben aus voller Überzeugung am Wahlabend gesagt, dass wir verstanden haben: Die Wähler wollen uns in der Großen Koalition nicht weiter unterstützen. Wir nehmen einen anderen Auftrag in der Opposition an. Das war unsere volle Überzeugung nach diesem Wahlergebnis. Alle sind davon ausgegangen, dass Frau Merkel es zustande bringen würde, eine neue Koalition zu bilden, aber das hat sie nicht geschafft. Jetzt führen wir diese Gespräche – nicht mehr und nicht weniger.
Über das Führen der Gespräche herrscht in der SPD-Spitze Einigkeit. Aber eine mögliche Neuauflage der Großen Koalition scheint die Partei zu spalten. Auf welcher Seite stehen Sie?
Es ist kein großes Geheimnis, dass die Berliner SPD und ich eine neue Große Koalition kritisch sehen. Das ergibt sich aus unserem Wahlergebnis und das hat die Diskussion auf dem Bundesparteitag deutlich gemacht.
Warum?
Weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, ähnlich wie die Bundes-SPD. Wir waren in den 90ern über zwei Wahlperioden Juniorpartner der CDU, haben genauso wie die Bundes-SPD gute Arbeit in den Koalitionen gemacht und trotzdem immer schlechtere Wahlergebnisse gehabt als erhofft. Insofern muss man auch die Lehren daraus ziehen.
Ihre Umfragewerte sinken aktuell weiter. Sie hätten Gespräche mit der Union ablehnen können.
Man kann nicht wie Rumpelstilzchen immer mit dem Fuß aufstampfen und sagen: „Ich will aber nicht!“. Als seriöse politische Kraft müssen wir sehen, ob es tatsächlich eine Grundlage für eine neue Zusammenarbeit mit den entsprechenden Inhalten gibt. Diese Sondierungsgespräche sind keine Showveranstaltung, sondern ein ernsthaftes Prüfen. Wenn sich Inhalte, die der SPD wichtig sind, in der Politik wiederfinden, wird man weitere Schritte gehen können. Dann müssen wir schauen, ob überhaupt in Koalitionsverhandlungen eine Zusammenarbeit formuliert werden kann. Wenn Sondierungsgespräche das nicht ergeben, fehlt uns auch eine Grundlage für eine Zusammenarbeit.
Demnach ist FDP-Chef Christian Lindner Rumpelstilzchen.
Herr Lindner ist sehr spielerisch mit dem Wahlergebnis, dem Wählerauftrag und den Koalitionsmöglichkeiten der FDP umgegangen. Da sind auch sehr viel Eitelkeit und Profilierungsversuche im Spiel. Ob sich das auszahlt und ob es seiner Partei nützt, wird man sehen.
Er hat offenbar keine Angst vor Neuwahlen.
Es kann möglicherweise zu Neuwahlen kommen. Ich bin bei den Sondierungsgesprächen nicht dabei, aber es ist nichts auszuschließen.
Diese Woche stand für Sie auch im Zeichen des Terroranschlags auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Ein Jahr ist jetzt vergangen. Hat der Berliner Senat in diesem Jahr genug getan, damit sich die Menschen in der Hauptstadt wieder sicher fühlen können?
Wir haben die Sicherheitsmaßnahmen verschärft und an die Situation angepasst, indem wir mehr Personal bei großen Veranstaltungen einsetzen. Wir hatten in diesem Jahr ja auch den Kirchentag und das Turnfest. Auch bei solchen Veranstaltungen gibt es eine höhere Polizeipräsenz. Auf den Weihnachtsmärkten gibt es auch technische Umbauten und Absperrungen durch Betonpoller, um so den konkreten Ort besser abzusichern.
Angehörige der Opfer haben der Kanzlerin fehlende Anteilnahme und Unterstützung vorgeworfen. Hat Angela Merkel hier etwas falsch gemacht?
Jeder muss für sich entscheiden, in welcher Form er seine Anteilnahme ausdrücken möchte. Am 19. Dezember habe ich im Abgeordnetenhaus in der Gedenkstunde gesagt, dass wir die Fehler, die auf Bundes- wie auf Landesebene gemacht worden sind, selbstkritisch aufarbeiten. Ich habe die Angehörigen und Verletzten für Fehler um Verzeihung gebeten. Wenn Fehler passieren, müssen wir alles tun, um daraus zu lernen und sich für hoffentlich nie eintretende Fälle in der Zukunft noch besser vorzubereiten. Genau das ist in den letzten zwölf Monaten in vielen Bereichen geschehen. Wir haben nach dem Anschlag vieles sehr genau überprüft und da, wo es erforderlich war, gezielt verbessert. In der Verwaltung, in der Justiz, in der Polizei. Aber 100-prozentige Sicherheit kann und wird es nicht geben. Wir sind als Staat wachsam. Immer wieder gelingt es unseren Sicherheitsbehörden auch, Anschläge zu verhindern. Aber der Gedanke, dass ein Anschlag hätte verhindert werden können, wenn wir schon damals diese Verbesserungen gehabt hätten, der quält mich.
Bei einer Friedensdemo nach dem Anschlag sprachen Sie davon, dass Sie den Fliehkräften der Gesellschaft entgegenwirken möchten. In Berlin leben viele Muslime, und der Jerusalem-Streit stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt vor eine Zerreißprobe. Warum schreitet die Stadt nicht entschlossener ein, wenn mitten in Berlin israelische Flaggen brennen?
Das ist das Perfide. Es waren eben keine israelischen Flaggen, denn die Täter wissen genau, dass das verboten wäre. Da brannten selbstgemalte Transparente und Tücher, aber das macht es nicht besser. Menschen, die so agieren, wollen ganz bewusst einen Keil zwischen uns treiben und mit antisemitischen Parolen aufhetzen.
Was ist die richtige Antwort darauf?
Berlin hat in den letzten Jahren immer wieder deutlich gemacht, dass wir in solchen Situation zusammenstehen und uns unser gutes Zusammenleben nicht kaputt machen lassen. Das wird auch weiterhin so sein, und wir gehen mit allen Möglichkeiten der Polizei und Justiz gegen solche Demonstranten vor.
In Berlin gab es 2014 Auseinandersetzungen zwischen pro-palästinensischen und pro-israelischen Demonstranten. Fürchten Sie heute erneut Konflikte?
Es kann in allen großen Städten Auseinandersetzungen geben. Es ist wirklich traurig, dass sich Donald Trump bei seiner Entscheidung der Konsequenzen nicht bewusst war oder dass er sie billigend in Kauf nahm. Dieses Problem haben aber jetzt alle Städte weltweit, weil besonders dort die Religionen aufeinandertreffen.
Der Zentralrat der Juden hat Gesetzesverschärfungen gegen solche Demonstrationen gefordert. Schöpfen Sie alle gesetzlichen Möglichkeiten aus?
Solche Situationen sind Anlass, Gesetzesverschärfungen zu überprüfen. Aber eine neue Gesetzeslage löst nicht den Konflikt. Es geht um eine politische Auseinandersetzung, die die Gesellschaft auch jenseits von Gesetz und Polizei austragen muss. Hier ist politisches Engagement und eine klare Haltung wichtig. Man muss zwar prüfen, welche Möglichkeiten die Justiz hat, aber die politische Auseinandersetzung wird das nie ersetzen.
Das Jahr 2017 geht für Sie und Berlin dementsprechend bewegt zu Ende. Zum Abschluss möchten wir aber noch einen kurzen Blick in das kommende Jahr werfen: Was ist für Sie mit Blick auf 2018 deprimierender? Der immer noch nicht fertige Flughafen BER oder dass Sie sich bald im Bundesrat mit Markus Söder auseinandersetzen müssen?
Die Zusammenarbeit mit Markus Söder sehe ich sportlich. Das deprimiert mich nicht, denn im Kreis der Ministerpräsidenten streiten wir auch gemeinsam für die Länderinteressen. Insofern wird es vielleicht sogar eine interessante Situation. Der Flughafen BER wird 2018 nicht eröffnen und dass es so lange dauert, ist eine furchtbare Situation. Die hat sich niemand gewünscht. Da habe ich großes Verständnis für jeden, der diese Entwicklungen nicht nachvollziehen kann.