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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Streit um den "Naziparagraphen" Wie der Staat Frauen bei Abtreibungen bevormundet
Der Paragraph 219a,
Als Julie Lesurtel erfährt, dass sie trotz Verhütung schwanger geworden ist, weiß sie genau, was sie tun wird. Ein Kind zu kriegen ist für sie gerade unvorstellbar. Zu diesem Zeitpunkt ist sie arbeitslos. Denkt sie an die Zukunft, kommen ihr nur Zweifel und Sorgen.
Ihre Frauenärztin sagt ihr, sie solle in ein paar Wochen wiederkommen. Dann könne man „schon mehr sehen“. Dabei will Lesurtel nicht mehr sehen. Sie will abtreiben - eine Option, die ihre Ärztin nicht einmal erwähnt. Vielleicht kommt der Ärztin gar nicht in den Sinn, dass die junge Frau ihr Kind nicht austragen will. Vielleicht will sie die Patientin nicht an eine andere Praxis verlieren. Vielleicht ist sie einfach nur vorsichtig.
Denn in Deutschland ist es laut Paragraph 219a StGB verboten, Abtreibungen zu bewerben, vor allem dann, wenn man selbst einen finanziellen Nutzen daraus ziehen würde. Das bedeutet auch: Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, dürfen dies auf ihren Webseiten und ihren Broschüren nirgendwo erwähnen. Ende 2017 wurde eine Ärztin aus Gießen wegen eines Verstoßes gegen das Werbeverbot zu einer Geldstrafe verurteilt. Seither tobt eine emotionale Debatte um den „Naziparagraphen“.
Die Kritiker sagen, das Werbeverbot mache es betroffenen Frauen unnötig schwer, sich sachlich, umfassend und unabhängig über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren und einen Arzt ihres Vertrauens zu finden.
Grüne, FDP und Linke wollen den Paragraphen aus der Nazizeit loswerden. Die SPD gehörte bis vor kurzem auch dazu, machte jedoch einen Rückzieher. Die Sozialdemokraten wollten nicht gleich zu Beginn der Legislaturperiode auf Konfrontationskurs mit den Koalitionspartnern CDU und CSU gehen, die eine Reform ablehnen.
Konfliktberatung, wo es keinen Konflikt gibt
Nach dem wenig hilfreichen Besuch bei der Frauenärztin, tut Julie Lesurtel das, was wohl jeder in ihrer Lage tun würde: Sie googelt nach „Abtreibung Berlin“. In den Suchergebnissen findet sich keine einzige Arztpraxis. Auch ist nirgendwo von Abtreibung die Rede. Die Tür, durch die sie zuerst gehen muss, trägt die Aufschrift: „Schwangerschaftskonfliktberatung“. Für Frauen wie Lesurtel ist es ein Art Code. Denn von einem Konflikt kann keine Rede sein.
Lesurtel bekommt schon am nächsten Tag einen Termin bei einer Beratungsstelle in Prenzlauer Berg. Das Gespräch empfindet die junge Frau als angenehm und taktvoll. Die Sozialarbeiterin urteilt nicht, verlangt von ihr keine Rechtfertigung für ihre Entscheidung. Wenn sie will, kann Lesurtel über ihre Zweifel sprechen. Aber die Schwangere hat keine Zweifel. „Mir war in diesem Moment völlig klar: Der einzige Grund, warum ich jetzt hier sitze, ist, weil es gesetzlich vorgeschrieben ist“, sagt die 28-Jährige.
Am Ende des Gesprächs stellt ihr die Beraterin eine Bestätigung aus und gibt Lesurtel drei Visitenkarten mit: Drei Arztpraxen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Für ganz Berlin. Im katholischen Münster gibt es nach Angaben von "Pro Familia" bald keine einzige Klinik mehr.
Besser als "Quelle: Internet" ist ein Mensch
Lesurtel muss jetzt noch eine dreitägige Wartefrist einhalten, bevor die Operation stattfinden kann. Das soll den Betroffenen wohl Zeit geben, das Beratungsgespräch zu verdauen.
Als Lesurtel schließlich in die Praxis geht, weiß sie genau, was sie erwartet. Zweieinhalb Wochen sind insgesamt vergangen, seitdem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hat. Natürlich hat sie sich über alles informiert. Auch in der Beratungsstelle wurde ihr erklärt, wie der Eingriff abläuft, welche Entscheidungen sie zu treffen hat – und, wie sich die Mehrheit der Frauen entscheidet. Der Fötus kann mit Medikamenten oder durch eine OP abgetrieben werden, unter Voll- oder Teilnarkose. Auch über die Risiken weiß die Patientin Bescheid.
„Das Beratungsgespräch kam mir wie eine Checkliste vor“, sagt Lesurtel. „Es kam darin alles vor, was ich vorher schon recherchiert hatte.“ Trotzdem findet sie es gut, einem Menschen gegenüberzusitzen. „Das ist definitiv besser, als nur die 'Quelle Internet' zu haben.“
Online wird das Informationsverbot umgangen
In einer Informationsgesellschaft lässt sich ein Informationsverbot nur schwer aufrecht erhalten. Faktisch ist der Paragraph 219a StGB längst wirkungs- und sinnlos. Wer Informationen sucht, findet sie auch – nur eben nicht von in Deutschland praktizierenden Medizinern.
Selbst die Adressen der Kliniken und Praxen, die Abbrüche durchführen, sind inzwischen vielerorts öffentlich. So hat zum Beispiel ein österreichischer Arzt Adressen aus Deutschland zusammengetragen, die zuvor von Abtreibungsgegnern ausgekundschaftet worden waren, um Ärzte an den Pranger zu stellen und Protestaktionen zu organisieren.
Solche Seiten werden nur nicht in den Top-Suchergebnissen bei Google angezeigt. Das könnte sich bald ändern: Seitdem so hitzig über das Werbeverbot debattiert wird, stellen einzelne Städte wie Berlin und Hamburg sogar eigenmächtig Listen mit Kontaktadressen ins Netz. Lesurtel hatte diese Informationen im letzten Jahr noch nicht.
Wie so viele andere musste sie sich durch die widersprüchlichen Informationen von Vereinen und Interessengruppen wühlen, die keinen medizinischen Anspruch haben, dafür aber oftmals einen politischen Hintergrund.
Selbsternannte "Lebensschützer" unterwandern Hilfsforen
Und sie macht die Erfahrung, dass viele sogenannte „Hilfsforen“ für Frauen, die ihre Schwangerschaft beendet haben, von Abtreibungsgegnern unterwandert sind. „In diesen Foren schüttet sich der geballte Menschenhass über die Frauen aus, die einfach nur eine Frage stellen“, so Lesurtel.
Was Lesurtel aber am meisten zusetzt, ist die Ächtung durch den Staat. Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland immer noch verboten, auch wenn den Ärzten und Patientinnen Straffreiheit garantiert wird, wenn sie die Regeln befolgen. „Es macht mich zu einer Verbrecherin – und dass ich nicht bestraft werde, ist eigentlich nur Kulanz. Das finde ich schon ziemlich krass“, sagt Lesurtel.
Ob das Werbeverbot nun existiert oder nicht: In der Praxis macht es kaum noch einen Unterschied. Betroffene finden einen Weg, an Informationen zu gelangen. Dennoch geht es in dem Streit um den §219a um mehr als reine Symbolpolitik. Gegner und Befürworter wissen: Fällt der Paragraph, wird das Thema Abtreibung in Deutschland weiter normalisiert.
Das Tabu brechen will auch Lesurtel, deshalb spricht sie offen über ihre Erfahrungen. Kommt es tatsächlich zu einem Reformversuch des deutschen Abtreibungsgesetzes, dürften bald weitere Forderungen an die Politik folgen, zum Beispiel die Entkriminalisierung. Doch dieses Fass wollen die konservativen Kräfte wahrscheinlich erst gar nicht aufmachen.
- eigene Recherche
- WDR